Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Ei, wie Ihre Hand zittert! He-he!«
»Auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.«
»Jawohl, jawohl; das hatte ich nicht erwartet.«
Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig darauf, daß Raskolnikow hinausginge.
»Und die Überraschung, von der Sie sprachen, die wollen Sie mir nun nicht zeigen?« fragte Raskolnikow spöttisch.
»So reden Sie nun, und dabei schlagen Ihnen doch noch die Zähne im Munde aufeinander, he-he! Was sind Sie für ein spottlustiger Mensch! Na, auf Wiedersehen!«
»Meiner Ansicht nach können wir einander einfach Adieu sagen!«
»Wie es Gott lenken wird, wie es Gott lenken wird!« murmelte Porfirij und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Lächeln.
Beim Durchschreiten der Kanzlei bemerkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam betrachteten. Im Vorzimmer erkannte er unter der Menge die beiden Hausknechte aus »jenem« Hause, die er damals in der Nacht aufgefordert hatte, mit zum Polizeibureau zu kommen. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er jedoch auf die Treppe gelangt, als er hinter sich Porfirijs Stimme hörte. Er drehte sich um und sah, daß ihm dieser ganz außer Atem nachgelaufen kam.
»Nur noch ein Wort, Rodion Romanowitsch! Wie sich diese ganze Geschichte lösen wird, das wollen wir Gott anheimgeben; aber ich werde Sie über einige Punkte doch noch in der gesetzlichen Form befragen müssen … Also sehen wir uns noch, nicht wahr?«
Porfirij blieb lächelnd vor ihm stehen.
»Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu.
Es machte den Eindruck, als wollte er noch weiterreden; aber es kam nichts mehr.
»Ich möchte Sie noch um Entschuldigung bitten, Porfirij Petrowitsch, wegen meines Verhaltens von vorhin, … ich bin etwas zu hitzig geworden«, begann Raskolnikow; er war schon wieder ganz dreist geworden und verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, ein bißchen zu schauspielern.
»Oh, das tut ja nichts, tut ja gar nichts!« fiel Porfirij in freudigem Tone ein. »Ich bin ja auch meinerseits … Ich habe nun einmal so einen bissigen Charakter; ich gestehe es, ich gestehe es! Nun aber, wir sehen uns ja noch. So Gott will, sehen wir uns noch recht oft wieder! …«
»Und dann werden wir einander recht genau kennenlernen?« erwiderte Raskolnikow.
»Jawohl, recht genau werden wir einander dann kennenlernen«, stimmte ihm Porfirij Petrowitsch bei und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen sehr ernst an. »Sie gehen jetzt zur Feier eines Namenstages?«
»Nein, zu einer Beerdigung.«
»Ja, richtig, zu einer Beerdigung! Achten Sie nur auf Ihre Gesundheit; auf die müssen Sie recht sehr achten …«
»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich Ihnen nun meinerseits wünschen soll!« antwortete Raskolnikow, der schon anfing, die Treppe hinabzusteigen, sich aber wieder zu Porfirij umwandte. »Ich möchte Ihnen guten Erfolg in Ihrer amtlichen Tätigkeit wünschen; aber Sie sehen ja selbst, wie komisch Ihr Amt ist.«
»Wieso komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich gleichfalls bereits umgedreht hatte, um fortzugehen, nun aber sofort die Ohren spitzte.
»Aber gewiß! Da ist dieser arme Nikolai; den haben Sie wahrscheinlich in Ihrer psychologischen Manier gequält und gemartert, solange er noch nicht gestand! Tag und Nacht haben Sie ihm wahrscheinlich bewiesen: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! …‹ Na, und nun, wo er es bereits gestanden hat, fangen Sie von neuem an, ihn durchzukneten: ›Du lügst‹, heißt es jetzt, ›du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du sagst eine Lektion auf!‹ Nun, ist da Ihr Amt nicht komisch?«
»He-he-he! Das haben Sie also gehört, daß ich vorhin eben zu Nikolai sagte, er sage eine Lektion auf?«
»Natürlich habe ich es gehört!«
»He-he! Ein scharfsinniger Mann sind Sie, ein scharfsinniger Mann. Alles bemerken Sie! Ein überaus reger Verstand! Und Sie gewinnen einer Sache immer die komischste Seite ab … he-he! … Von den Schriftstellern besaß ja wohl Gogol diese Fähigkeit im höchsten Grade?«
»Gewiß.«
»Ja, ja, Gogol … Auf angenehmes Wiedersehen!«
»Auf angenehmes Wiedersehen!«
Raskolnikow ging geradeswegs nach Hause. Er war so wirr und benommen, daß er, als er nach Hause gekommen war, sich auf das Sofa warf und eine Viertelstunde still dasaß, lediglich damit beschäftigt, sich zu erholen und seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Über die Geschichte mit Nikolai ins klare zu kommen, das versuchte er gar nicht; er fühlte sich tief erschüttert; er fühlte, daß in Nikolais Geständnis etwas Unerklärliches, Wunderbares enthalten war, was er jetzt schlechterdings nicht begreifen könne. Aber Nikolais Geständnis war eine Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache standen ihm sofort klar vor Augen: die Unwahrheit dieser Selbstbezichtigung konnte nicht verborgen bleiben, und dann hielt man sich wieder an ihn. Aber bis dahin wenigstens war er frei und mußte unbedingt etwas für sich tun; denn die Gefahr drohte ihm mit Sicherheit.
Aber wie groß war diese Gefahr? Die Lage begann sich zu klären. Während er sich in großen, allgemeinen Umrissen die ganze Szene ins Gedächtnis zurückrief, die er soeben mit Porfirij gehabt hatte, fuhr er unwillkürlich noch einmal vor Schreck zusammen. Allerdings, er kannte noch nicht alle Absichten Porfirijs, konnte noch nicht alle seine Berechnungen durchschauen. Aber ein Teil des Spieles war bereits aufgedeckt, und natürlich konnte niemand besser als er verstehen, wie schrecklich für ihn diese von Porfirij ausgespielte Karte war. Nur wenig hatte gefehlt, und er wäre imstande gewesen, sich vollständig und unzweideutig zu verraten. Porfirij, der die Krankhaftigkeit seines Charakters wahrgenommen und gleich beim ersten Blick richtig erfaßt und durchschaut hatte, hatte daraufhin ein zwar etwas zu keckes, aber doch fast sicheres Spiel gespielt. Es war nicht zu bestreiten, daß er, Raskolnikow, sich vorhin schon arg kompromittiert hatte; aber bis zu Tatsachen war es doch noch nicht gekommen; alles, was vorlag, war immer noch verschiedener Deutungen fähig. Aber faßte er auch alles Vorgefallene richtig auf? Irrte er sich auch nicht? Zu welchem Resultate hatte Porfirij heute eigentlich gelangen wollen? Hatte er wirklich heute etwas, was zu seiner Überführung dienen konnte, vorbereitet gehabt und im Hintergrunde gehalten? Und was konnte das gewesen sein? Hatte er wirklich auf etwas gewartet oder nicht? Wie hätte sich wohl heute ihr Auseinandergehen gestaltet, wenn die unerwartete Katastrophe mit Nikolai nicht eingetreten wäre?
Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; das war ja von ihm sehr riskant; aber er hatte es trotzdem getan, und Raskolnikow hatte die bestimmte Vorstellung: hätte Porfirij wirklich noch mehr Beweismaterial gehabt, so hätte er auch das noch enthüllt. Was hatte es nun mit dieser »Überraschung« für eine Bewandtnis? Hatte er ihn damit nur hinters Licht führen wollen? War etwas Ernsthaftes daran oder nicht? Konnte etwas, was einer Tatsache, einem positiven, belastenden Momente ähnlich sah, dahinterstecken? Der Mann von gestern vielleicht? Wo war der geblieben? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt positives Beweismaterial hatte, so stand das sicherlich in Beziehung zu dem Manne von gestern.
Er saß auf dem Sofa mit tief herabgesunkenem Kopfe, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht mit den Händen verdeckt. Ein nervöses Zittern lief ihm immer noch durch den ganzen Körper. Schließlich stand er auf, ergriff seine Mütze, stand einen Augenblick in Gedanken und ging zur Tür.
Er hatte die Vorstellung, daß er wenigstens für den heutigen Tag sich mit einiger Sicherheit für ungefährdet halten könne. Auf einmal empfand er in seinem Herzen beinahe ein Gefühl der Freude: er wollte so schnell wie möglich zu Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er natürlich zu spät; aber an dem Gedächtnismahle konnte er noch teilnehmen, und dabei würde er in wenigen Minuten Sonja sehen.
Er blieb stehen und überlegte ein Weilchen; ein schmerzliches Lächeln spielte um seine Lippen.
›Heute noch, heute noch!‹ sagte er vor sich hin. ›Ja, heute noch; es muß sein!‹
In dem Augenblicke, wo er die Tür öffnen wollte, ging sie plötzlich