Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.in der Kehle unterdrücken wollte.
»Wanjuschka!« sagte sie zu mir ein Weilchen darauf und schwieg dann wieder; entweder hatte sie selbst vergessen, was sie hatte sagen wollen, oder sie hatte es nur so gedankenlos infolge einer plötzlichen Empfindung hingesagt.
Unterdessen gingen wir immer noch im Zimmer auf und ab. Vor dem Heiligenbild brannte ein Lämpchen. Natascha war in der letzten Zeit noch frömmer und gottesfürchtiger geworden; aber sie hatte es nicht gern, daß man mit ihr darüber sprach.
»Ist denn morgen ein Festtag?« fragte ich. »Du hast ja das Lämpchen brennen.«
»Nein, ein Festtag ist nicht … Aber nimm doch Platz, Wanja; du wirst gewiß müde sein. Willst du Tee? Du hast doch wohl noch nicht getrunken?«
»Setzen wir uns, Natascha! Tee habe ich schon getrunken.«
»Von wo kommst du denn jetzt?«
»Von ihnen.« So bezeichneten wir beide im Gespräch miteinander immer ihr Elternhaus.
»Von ihnen? Wie bist du denn hingekommen! Bist du von selbst hingegangen, oder haben sie dich rufen lassen?«
Sie überschüttete mich mit Fragen. Ihr Gesicht war von der Aufregung noch blasser geworden. Ich erzählte ihr eingehend meine Begegnung mit ihrem Vater, das Gespräch mit der Mutter, die Szene mit dem Medaillon; ich erzählte mit allen Einzelheiten und Nebenumständen. Ich pflegte ihr überhaupt nie etwas zu verheimlichen. Sie hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu und haschte mir jedes Wort von den Lippen. Tränen glänzten in ihren Augen. Die Szene mit dem Medaillon ergriff sie stark.
»Warte mal, warte mal, Wanja«, sagte sie wiederholt, indem sie meine Erzählung unterbrach; »erzähle ausführlicher, alles, alles, so ausführlich wie möglich; du erzählst nicht ausführlich genug! …«
Ich wiederholte meine Darstellung zum zweiten und zum dritten Male, wobei ich alle Augenblicke auf ihre ununterbrochenen Fragen nach Einzelheiten antworten mußte.
»Und du glaubst wirklich, daß er auf dem Weg zu mir war?«
»Ich weiß es nicht, Natascha, und kann nicht einmal eine Ansicht darüber aufstellen. Daß er sich um dich grämt und dich liebt, das ist klar; aber daß er zu dir gehen wollte, das … das …«
»Und er hat das Medaillon geküßt?« unterbrach sie mich. »Was hat er gesagt, als er es küßte?«
»Er sprach zusammenhanglos; es waren nur einzelne Ausrufe; er nannte dich mit den zärtlichsten Namen und rief dich zurück …«
»Er rief mich zurück?«
»Ja.«
Sie weinte still vor sich hin.
»Die Armen!« sagte sie. »Aber daß er alles weiß«, fügte sie nach einem kurzen Stillschweigen hinzu, »ist nicht verwunderlich. Er hat auch über Aljoschas Vater genaue Nachrichten.«
»Natascha«, sagte ich schüchtern, »laß uns zu ihnen gehen!«
»Wann?« fragte sie, erbleichend und sich ein wenig von ihrem Stuhl erhebend.
Sie glaubte, ich forderte sie auf, sofort mitzukommen.
»Nein, Wanja«, fügte sie mit traurigem Lächeln hinzu, indem sie mir beide Hände auf die Schultern legte, »nein, liebster Freund; das ist deine stetige Rede; aber … sprich lieber nicht davon!«
»Also soll diese unselige Entfremdung niemals aufhören, niemals?« rief ich traurig. »Bist du wirklich so stolz, daß du nicht den ersten Schritt tun willst? Dieser erste Schritt kommt dir zu; du mußt diejenige sein, die ihn tut. Vielleicht wartet dein Vater nur darauf, um dir zu verzeihen … Er ist der Vater; du hast ihn gekränkt! Achte seinen Stolz; das ist ein berechtigter, ein natürlicher Stolz! Du mußt es tun. Versuche es, und er wird dir bedingungslos verzeihen.«
»Bedingungslos! Das ist unmöglich; und mache mir keine Vorwürfe, Wanja; es ist vergebens. Tag und Nacht habe ich darüber nachgedacht, bis heute. Seit ich sie verlassen habe, ist vielleicht kein Tag gewesen, an dem ich nicht darüber nachgedacht hätte. Und wie oft haben wir beide darüber gesprochen! Du weißt ja selbst, daß es unmöglich ist!«
»Versuche es!«
»Nein, mein Freund, es geht nicht. Wenn ich es versuchte, so würde ich ihn nur noch mehr gegen mich aufbringen. Was unwiederbringlich ist, kann man nicht wieder zurückbringen, und weißt du, was schlechterdings unwiederbringlich ist? Die glücklichen Kinderjahre, die ich mit ihnen zusammen verlebt habe. Selbst wenn mir der Vater verziehe, würde er mich doch jetzt nicht wiedererkennen. Er hat mich geliebt, als ich noch ein Mädchen, ein großes Kind war. Er hatte seine Freude an meiner kindlichen Einfalt; er pflegte mir immer noch liebkosend über den Kopf zu streichen, gerade wie damals, als ich noch ein siebenjähriges Mädchen war und auf seinen Knien saß und ihm meine Kinderliedchen vorsang. Von meiner frühesten Kindheit an bis zum letzten Tag kam er immer an mein Bett und bekreuzte mich zur Nacht. Einen Monat vor unserm Unglück kaufte er mir ein Paar Ohrringe, ohne daß ich etwas davon wissen sollte (aber ich hatte alles erfahren), und freute sich wie ein Kind bei der Vorstellung, wie ich mich über das Geschenk freuen würde, und schalt gewaltig auf alle und ganz besonders auf mich, als er von mir selbst erfuhr, daß ich von seinem Einkauf schon längst gewußt hatte. Drei Tage vor meinem Weggehen merkte er, daß ich traurig war; sogleich wurde er selbst sehr, sehr traurig, und was meinst du wohl? um mir eine Zerstreuung zu machen, kam er auf den Einfall, mir ein Theaterbillett zu kaufen! … Wahrhaftig, er wollte mich damit kurieren! Ich wiederhole dir, er kannte und liebte das Mädchen und mochte gar nicht daran danken, daß auch ich jemals eine Frau werden würde. Das kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Jetzt aber würde er, wenn ich nach Hause zurückkehrte, mich gar nicht erkennen. Wenn er mir auch verziehe, wen würde er jetzt vor sich haben? Ich bin eine andere geworden; ich bin kein Kind mehr; ich habe viel erlebt. Wenn ich auch ganz nach seinem Gefallen lebe, so wird er doch nach dem vergangenen Glück seufzen und sich darüber grämen, daß ich so gar nicht mehr dieselbe sei wie in früherer Zeit, als er in mir noch das Kind liebte; und das Vergangene erscheint immer in einer Art von Verklärung! Die Erinnerung daran ist einem ein Schmerz! Oh, wie schön war die Vergangenheit, Wanja!« rief sie; von ihrem Gefühl überwältigt, unterbrach sie sich mit diesem schmerzlichen Ausruf, der aus ihrer tiefsten Seele hervorbrach.
»Was du da sagst, Natascha«, erwiderte ich, »ist alles richtig. Gewiß, er muß dich jetzt erst wieder von neuem kennenlernen und liebgewinnen. Und die Hauptsache ist, daß er dich wieder kennenlernt. Nun, dann wird er dich auch wieder liebgewinnen. Glaubst du denn wirklich, daß er nicht imstande ist, dich wieder kennenzulernen und dich zu verstehen, er mit seinem großmütigen Herzen?«
»Ach, Wanja, sprich nicht so! Was ist denn Besonderes an mir zu verstehen? So hatte ich es nicht gemeint. Aber siehst du, da ist noch ein Punkt: auch die väterliche Liebe ist eifersüchtig. Es ist ihm kränkend, daß mein ganzes Verhältnis zu Aljoscha begonnen und sich bis zum entscheidenden Punkt entwickelt hat, ohne daß er es gewußt oder vorhergesehen hätte. Er ist sich bewußt, daß er es gar nicht geahnt hat, und schreibt die unglücklichen Folgen unserer Liebe, meine Flucht aus dem Elternhaus, meiner ›undankbaren‹ Verschlossenheit zu. Ich bin nicht gleich anfangs zu ihm gekommen; ich habe ihm nicht gleich beim Beginn meiner Liebe jede Regung meines Herzens gebeichtet; im Gegenteil, ich habe alles in mich verschlossen und vor ihm verheimlicht, und ich versichere dich, Wanja, insgeheim ist ihm das noch schmerzlicher und kränkender als die Folgen der Liebe selbst: daß ich von ihnen weggegangen bin und mich ganz meinem Geliebten hingegeben habe. Wenn er mich auch jetzt wie ein Vater mit warmer Freundlichkeit aufnähme, der Same der Feindschaft würde doch bleiben. Am zweiten, dritten Tage würden die Empfindlichkeiten, die Mißverständnisse, die Vorwürfe beginnen. Zudem würde er mir nicht bedingungslos verzeihen. Ich würde ihm ja sagen, und, zwar wahrheitsgemäß aus tiefster Seele, daß ich einsähe, wie sehr ich ihn gekränkt und wie schwer ich mich gegen ihn vergangen habe; und ich würde, so schmerzlich es mir auch wäre, wenn er nicht einsehen wollte, was mich selbst dieses ganze Glück mit Aljoscha gekostet hat und welche Leiden ich selbst erduldet habe, doch meinen Schmerz unterdrücken: aber auch dies würde ihm alles nicht genügen. Er wird von mir einen unmöglichen Lohn für seine Verzeihung fordern; er wird fordern, daß ich meine Vergangenheit verfluche und Aljoscha verfluche