Die wichtigsten Psychologen im Porträt. Christiane Schlüter

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Die wichtigsten Psychologen im Porträt - Christiane Schlüter


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Weg in diese Tiefen zu weisen.

      1859 ff.

      Die Philosophen Moritz Lazarus (1824–1903) und Chajim Steinthal (1823–1899) geben die »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« heraus. Die Völkerpsychologie befasst sich nicht mit dem Individuum, sondern mit den historischen und gesellschaftlichen Formen des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Der Begriff stammt von Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Zuvor schon hatte Johann Gottfried Herder (1744–1803) den Gedanken der Volksseele eingeführt. Wilhelm Wundt (s. Kap. 3) wird später eine zehnbändige »Völkerpsychologie« verfassen.

      1872

      Der englische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) veröffentlicht ein Buch über den »Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren«. Darin überträgt er die Lehre von der Abstammung auf das Psychische: Auch die mimischen und gestischen Gefühlsäußerungen werden im Lauf der Evolution weitergegeben. An diese Erkenntnis knüpft später Paul Ekman an (s. Kap. 54).

II.

      1 DAS »ROMANTISCHE LAND DER PSYCHOPHYSIK«

       GUSTAV THEODOR FECHNER

       Der Physiker, Arzt, Philosoph und Schriftsteller Gustav Theodor Fechner begründete die Psychophysik, die Messung seelischer Empfindungen. Damit gehört er zu den Vätern der modernen Psychologie. Die von ihm erarbeitete mathematische Gleichung zur Bestimmung von Sinnesreizen ist bis heute gültig. Sigmund Freud nannte ihn nur den »großen Fechner«.

      WEG

      Als Pfarrerssohn 1801 in Groß-Särchen in der Niederlausitz geboren, studiert Gustav Theodor Fechner Medizin in Leipzig. Weil er sich jedoch als Arzt für »bar jeden Talents« hält, verfasst und übersetzt er nach der Promotion Lehrbücher für Physik und Chemie und gibt ein Hauslexikon heraus, dessen Beiträge überwiegend von ihm selbst stammen. Unter dem Pseudonym Dr. Mises schreibt er medizinische Satiren, nebenbei studiert er noch Philosophie und habilitiert sich 1823. Von 1834 bis 1840 lehrt er als Professor für Physik in Leipzig.

      Im Jahr 1840 erkrankt Fechner an den Augen – eine Folge seiner Experimente am eigenen Leib. Drei Jahre lang ist er arbeitsunfähig, hält sich in einem schwarz gestrichenen, abgedunkelten Zimmer auf oder schützt seine Augen mit einer Maske. Er kann kaum etwas essen – nach heutiger Kenntnis ist er an einer massiven Depression erkrankt.

      Die Krankheit hat auch eine schöpferische Seite. Nachdem er seine Lebenskrise überwunden hat, wird Fechner zum Begründer der Psychophysik: Ihn interessiert, wie stark Reize und auch die Unterschiede zwischen ihnen sein müssen, um wahrgenommen zu werden. Seine Erkenntnisse legt er 1860 in »Elemente der Psychophysik« nieder und verteidigt sie in mehreren Folgeveröffentlichungen. Eine Schrift, die er noch in seinem Todesjahr veröffentlicht, bezeichnet er gar als »Ritt ins romantische Land der Psychophysik« – so sehr haben ihm seine Erkenntnisse am Herzen gelegen. Fechner stirbt 1887 in seiner Heimatstadt Leipzig, deren Ehrenbürger er geworden ist.

      IDEEN

      Gustav Th. Fechner begreift das Universum als kosmischen Organismus, dessen Glieder bis hin zu den Pflanzen und Steinen beseelt sind. Dieser naturphilosophische Gedanke der Allbesee-lung führt ihn zu der Annahme, dass zwischen Physischem und Psychischem eine durchgängige Parallelität besteht. Die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen beiden Bereichen erforscht er in der Psychophysik. Sie ist keine metaphysische, sondern eine exakte Wissenschaft, welche die psychologischen Phänomene durch Messen und Experimentieren untersucht. Die »innere Psychophysik« befasst sich mit der Beziehung zwischen den neuronalen Vorgängen und dem Erleben, heute würde man sagen: den kognitiven Neurowissenschaften. Für sie fehlt damals jedoch das methodische Handwerkszeug.

      Die »äußere Psychophysik« handelt von den Zusammenhängen zwischen dem Erleben und der physischen Außenwelt. Fechner untersucht die Schwellen eines Reizes: Ab wann ist ein Reiz so stark, dass er bemerkt wird, und ab welcher Intensität verwandelt er sich in Schmerz? Bereits sein akademischer Lehrer Ernst Heinrich Weber (1795–1878) hat diese Reizschwellen erforscht. Fechner baut darauf auf. In Selbstversuchen – beispielsweise mit unterschiedlich schweren Gewichten in der rechten und der linken Hand – findet er heraus, dass Reizveränderungen, die als solche wahrgenommen werden sollen, immer in einem bestimmten Verhältnis zum Standardreiz stehen müssen. Dabei besitzt jede Sinnesmodalität einen eigenen, immer gleichen Steigerungsquotienten – die Helligkeit beispielsweise 1 zu 60, die Temperatur 1 zu 30. Diese Werte, die über die Leistungsfähigkeit der menschlichen Sinnesorgane Aufschluss geben, werden als »Weber-Fechnersche Konstante« bezeichnet. Die mathematische Gleichung, in die Fechner seine Erkenntnis überführt hat, behält als »Weber-Fechnersches Gesetz« bis heute für die mitt leren Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung ihre Gültigkeit. Mit seinen Erkenntnissen betrachtet Fechner die Psychologie als vollendet und wendet sich der Untersuchung des ästhetischen Empfindens zu. In Wahrheit aber hat er der Experimentalpsychologie erst den Weg geebnet.

      Anekdote: Ein Schinkengericht stand am Beginn von Fechners Genesung. Eine Freundin des Hauses hatte es nach einem Traumerlebnis für ihn zubereitet. Er aß und vertrug es, wurde wieder gesund – und erlebte anschließend seine schöpferischste Lebensphase.

      2 EIN MATERIALISTISCHER EID

       HERMANN VON HELMHOLTZ

       Er war der wohl genialste Naturwissenschaftler seines Jahrhunderts – die wilhelminische Geschichtsschreibung ernannte ihn zum »Reichskanzler der Physik«. Hermann von Helmholtz hat die sinnesphysiologische Forschung mitbegründet. Deshalb zählt er zu den Wegbereitern der Psychologie als experimenteller Wissenschaft.

      WEG

      Im Jahr 1821 in Potsdam geboren, studiert Hermann Helmholtz – er wird erst 1882 geadelt – Medizin in Berlin. Seine Liebe gehört jedoch der Physik. Die aber gilt in seiner Jugendzeit noch als »brotlose Kunst«. Bis 1848 dient er als Militärarzt in Potsdam. Bereits 1847 formuliert er den Grundsatz endgültig aus, wonach innerhalb eines geschlossenen Systems Energie zusätzlich weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Über seinen Studienfreund Ernst von Brücke wird dieses Gesetz später Sigmund Freud (s. Kap. 7) bei der Formulierung seiner Triebtheorie beeinflussen.

      Nach Stationen in Berlin, Königsberg und Bonn lehrt von Helmholtz ab 1858 als Professor der Physiologie in Heidelberg. Hier wird Wilhelm Wundt (s. Kap. 3) sein Assistent, der spätere Begründer des weltweit ersten experimentalpsychologischen Instituts. 1871 wechselt von Helmholtz an die Berliner Universität – nun endlich als Professor für Physik. Die Liste seiner wissenschaftlichen Erfolge ist schier endlos. Unter anderem bestimmt er die Wellenlängen des UV-Lichts und erfindet den Augenspiegel, er arbeitet zur Elektro- und zur Thermodynamik und begründet die Meteorologie als Wissenschaft. Hermann von Helmholtz stirbt 1894 in Charlottenburg (heute Berlin).

      IDEEN

      Unter seinen vielen Arbeiten sind für die Psychologie besonders die sinnesphysiologischen Erforschungen der Leitgeschwindigkeit in den Nerven sowie die Untersuchung der Farbwahrnehmung, des Hörens und des Sehens bedeutsam. Bereits im Jahr 1826 hatte von Helmholtz’ Lehrer an der Berliner Universität, der Zoologe, Anatom und Physiologe Johannes P. Müller (1801–1858), das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufgestellt. Danach nehmen Sinnesorgane nur die Reize wahr, die ihnen gemäß sind: die Augen das Licht, die Ohren die Schallwellen


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