Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin


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Toby!« – Dann fingen sie wieder von neuem an mit ihrem wilden, ungestümen Liede, und selbst die Backsteine und der Mörtel an den Wänden hallten davon wider.

      Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Er war am Nachmittag ungern von ihnen weggegangen! Nein, nein. Nichts davon. Aber nun wieder und wieder und noch ein dutzendmal: »Plag’ und jag’ ihn, plag’ und jag’ ihn, schlepp’ ihn zu uns, schlepp’ ihn zu uns!« Sie betäubten die ganze Stadt.

      »Meg«, sagte Trotty, leise an ihre Tür klopfend, »hörst du etwas?«

      »Ich höre die Glocken, Vater, sie sind heute wirklich sehr laut.«

      »Schläft sie?« fragte Toby, gleichsam als Entschuldigung, weshalb er hineinguckte.

      »O, so glücklich und friedlich! Doch kann ich sie noch nicht verlassen. Sieh nur, wie sie meine Hand festhält!«

      »Meg«, flüsterte Trotty, »höre einmal die Glocken.«

      Sie lauschte, die ganze Zeit über ihr Gesicht ihm zukehrend, doch die Züge veränderten sich nicht. Sie verstand ihn nicht.

      Trotty entfernte sich, nahm seinen Sitz am Feuer wieder ein und lauschte noch einmal allein. Er blieb hier eine kurze Zeit.

      Es war unmöglich, es auszuhalten; ihre Stärke war furchtbar.

      »Wenn die Turmtür wirklich offen ist«, sagte Toby und legte hastig seine Schürze beiseite, aber ohne an seinen Hut zu denken, »was kann mich hindern in den Turm zu gehen und mich selber zu überzeugen? Wenn sie verschlossen ist, dann brauche ich keinen anderen Beweis. Der genügt.«

      Er war ziemlich überzeugt, als er leise auf die Straße hinausschlich, daß er die Tür verschlossen und verriegelt finden würde, denn er kannte dieselbe gar wohl und hatte sie so selten offen gesehen, daß er sich nicht mehr als dreimal zusammen erinnern konnte. Es war ein niedriges, rundes Portal außen an der Kirche in einer dunklen Ecke hinter einer Säule, und hatte so große eiserne Angeln und ein so ungeheuer großes Schloß, daß man mehr von den Angeln und dem Schlosse sah, als von der Tür.

      Doch wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig an die Kirche kam und die Hand in den dunklen Winkel streckte, – nicht ohne Furcht, daß sie unversehens gepackt werden möchte, und nicht ohne Neigung, sie schaudernd zurückzuziehen, – fand er die Tür, welche nach außen aufzumachen war, wirklich offen stehen!

      Er wollte im ersten Schrecken zurückkehren oder ein Licht oder einen Begleiter holen; doch sein Mut kam ihm augenblicklich zu Hilfe und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

      »Was habe ich zu fürchten?« sagte Trotty. »Es ist eine Kirche! Überdies sind vielleicht die Läuter oben und haben vergessen, die Tür zuzuschließen.«

      Er ging also hinein und tappte sich vorwärts, wie ein blinder Mann; denn es war sehr dunkel und sehr ruhig, da die Glocken stillschwiegen.

      Der Staub war von der Straße in dieses Versteck geflogen und lag nun dort haufenweise, so daß Toby wie auf Samt ging, was ebenfalls etwas Unheimliches hatte. Die enge Treppe befand sich so dicht an der Tür, daß er bei der ersten Stufe stolperte, und als er die Tür hinter sich zuwarf, indem er mit dem Fuße daran stieß, daß sie heftig wieder zurückklappte, konnte er sie nicht wieder öffnen.

      Dies war jedoch ein neuer Grund, vorwärts zu gehen. Trotty tappte daher um sich und ging weiter, immer hinauf, hinauf, immer hinauf und im Kreise herum und immer höher, höher hinauf.

      Es war eine recht unangenehme Treppe, wenn man sie im Dunklen hinauf tappen mußte; so niedrig und schmal, daß seine tappende Hand immer etwas berührte, und oft fühlte sich’s fast wie ein menschliches und gespenstisches Wesen an, das aufrecht stand und ihm Platz machte, um nicht entdeckt zu werden, so daß er an der glatten Mauer in die Höhe blickte, um das Gesicht zu suchen, während ihn eine unheimliche Kälte überlief. Einmal oder zweimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Mauerfläche, die ihm dort so groß vorkam wie die ganze Kirche; dann meinte er am Rande des Abgrundes zu stehen und kopfüber hinunterstürzen zu müssen, bis er die Wand wieder fand.

      Immer hinauf, immer hinauf und im Kreise herum, und immer höher und höher hinauf!

      Endlich wurde die dumpfe, erstickende Luft frischer; dann kam Zugluft; nun blies der Wind so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Doch gelangte er an ein Bogenfenster in dem Turme, das ihm bis an die Brust reichte, und indem er sich dicht daran hielt, blickte er nieder auf die Giebel der Häuser, auf die rauchenden Schornsteine, auf die Lichtflecken und Strahlenmassen (in der Gegend, wo Meg sich wunderte, wo er sein möchte und vielleicht nach ihm rief), die in einem Teig von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet waren.

      Dies war die Glockenstube, wohin die Läuter kamen. Er hatte eins der abgeriebenen Seile erfaßt, welche durch Öffnungen in der eichenen Decke herunterhingen. Zuerst erschrak er, denn er dachte, es wären Haare; dann zitterte er bei dem Gedanken, daß er die große Glocke erwecken möchte. Die Glocken selber waren höher. Trotty tappte sich, von seiner fixen Idee beherrscht und in seinem Zauberbann, immer höher hinauf. Endlich auf Leitern und mit großer Mühe, denn sie waren steil und boten dem Fuße keinen allzu sicheren Halt.

      Immer hinauf, immer hinauf geklommen und geklettert; immer hinauf und höher und höher hinauf!

      Endlich, indem er durch den Boden stieg und mit dem Kopfe gerade über dessen Balken hervorguckte, kam er mitten unter die Glocken. Es war kaum möglich, in der Dunkelheit ihre Größe zu erkennen; doch da waren sie. Schatten werfend, dunkel und stumm.

      Ein bleischweres Gefühl von Furcht und Einsamkeit überkam ihn sofort, als er in dies luftige Nest von Stein und Metall emporklomm. Sein Kopf ging rundum mit ihm. Er lauschte und erhob dann ein wildes Hallo!

      Hallo! nahm traurig das Echo auf, den Laut ausdehnend.

      Schwindlig, verwirrt, atemlos und erschrocken blickte Toby ins Leere um sich und sank ohnmächtig nieder.

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