Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus

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Philosophische und theologische Schriften - Nicolaus Cusanus


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die kategoriale Verfaßtheit von Einteilungen überhaupt, wozu freilich auch die Regionentheorie des Cusanus gerechnet werden muß. Denn in dieser drückt sich kein Sachverhalt einer subjektunabhängig gedachten Wirklichkeit (Ontologie) aus, es artikuliert sich darin vielmehr die Notwendigkeit perspektivischer Differenzierungen durch den Verstand, die es erlauben, ein Produkt der endlichen Konjektur als ein solches zu begreifen. Dann können via reflexionis auch Bereiche auf den Begriff gebracht werden, die sich rationis via nicht mehr verstehen lassen.

      Hierzu gehören alle Metaphern, die als Grenzbegriffe elastisch genug sind, eine Brücke der Koinzidenz zu bauen, die nicht dem starren Flußbett diskursiver Buchstäblichkeit folgt, sondern dieses zu überqueren erlaubt. Insofern lassen sich perspektivisich als abstraktiv oder attentional bestimmt verschiedene Dimensionen eröffnen, welche die gewohnten Aspekte der Tradition aus ihrem dogmatischen Schlummer zu reißen vermögen.16 Was den Festlegungen und Begrenzungen des Verstandes und dessen Wahrheitsbild versagt bleibt, läßt sich durch plausible Metaphern und infinitesimale Grenzbegriffe mit dem Elan des Neuen beleben, indem das zunächst Unsagbare auf kreative Weise zu Wort kommen kann. Der Sprache als dem Ort entfremdend-versöhnender Vermittlungskoinzidenz und ihrer innovativen Aufhebungsbewegung wird solchermaßen eine dynamische Sprengkraft durch die »energeia« der vitalen Interpretation zugetraut, die auch den starrsten Bedeutungen ihr Ableben bescheinigen kann. Hierzu bedient sich der dynamische Geist in seiner Flexibilität und Vitalität keiner Subsumtion durch bestimmende Urteilskraft, sondern der Reflexion auf die Voraussetzungen und Bedingungen des Urteils selbst, wie es sich in statu nascendi durch reflektierende Urteilskraft generiert finden läßt.

      Daß sich in einem solch prozessualen Innovationsbereich der kreativen Neubestimmung auf keine Kalkulation von Bestimmtheiten rekurrieren läßt, die aus gegebenen Prämissen deduzieren könnte, wird vielmehr dadurch deutlich, daß die Bewegung des Begriffs eine Elastizität erzeugt, innerhalb derer sich die Metaphernbildung als der Ursprung und die Quelle neu gewinnbarer Einsichten mit der Kraft des vollzogenen Urteils durchzusetzen vermag. Dialektik und Metapher bilden hierbei eine synthetisch gestiftete Einheit auf prozeduralem Wege, welcher von der Vernunft zunächst für den Verstand und dynamisch wieder zurück zur Vernunft beschritten wird. Grenzbegrifflich regelsprengend wird eine Innovation durch das Aufbrechen von Traditionen metaphorisch individuell artikuliert, angesonnen und prae- schematisiert, bevor die Resonanz der communis opinio darin ein allgemeines Paradigma17 akzeptiert und die Geburt des Begriffs aus dem Geist der Metapher sanktioniert. Doch selbst als translogisch und suprarational bestimmt, verweilt auch die Vernunft im Bereich der Endlichkeit, die das Unendliche nur wiederum in alteritate, also nicht begrifflich zu fassen vermag. Für die Region des »possest« oder des »non aliud« lassen sich zwar noch Metaphern für das Unbenennbare des Absoluten bilden, jedoch nunmehr auch trans-intellectual in der höchstmöglichen Grenzbegrifflichkeit selbst, die nicht einmal mit der »intuitio« oder der »visio« begriffen werden können. Es bleibt dabei eine Differenz von verschiedenen Seiten derselben Medaille, die das Sehen Gottes (visio dei) und Gottes Sehen (visio dei) zugleich thematisiert18.

      Für die Wahrheitsfrage bei Cusanus von Interesse sind nicht nur die jeweiligen Inhalte seiner Regionentheorie, sondern die Grenzbereiche, an denen sich das eigentliche Koinzidenzgeschehen ins Verhältnis von Dialektik und Metapher setzt. Es wird damit eine Rationalität im Übergang skizziert, die ihren eigenen dynamischen Wahrheitsstatus stufenweise ein- und aufzulösen vermag und dabei dem Positivismus der Rationalität eine Alternative zur Seite stellt. Darin würde mit der translogisch-suprarationalen Dimension der Vernunft nicht nur auf die Bedingungen und Voraussetzungen der formalen Logik mitsamt ihrer Methode der Wissenschaft abgezielt, sondern über diese hinaus eine neue Wahrheitsdimension eigens erfunden. Denn gegenüber der rationalen Erkenntnistheorie zeichnet sich die Wahrheit bei Cusanus ebenfalls in alteritate aus, womit eine spekulative Plausibilität in Anerkennung endlicher Fertigkeit zum stets Unfertigen geltend gemacht werden kann. Nicht im sicheren Bereich der geschlossenen Semantik analytischer Urteile, die in tautologischem Wissen angesiedelt ist, verfährt die synthetische Wahrheit bei Cusanus, sondern im Bereich des reflektierten Nichtwissens, in dem die Philosophie als Reflexion perspektivischer Standpunkthaftigkeit und als konjekturale Erkenntnis erscheint.

      Wie inmitten einer Wolke nur ein undurchdringlicher Nebel gesehen wird, während in Distanz zu ihr die Konturen der Wolke sichtbar werden, so findet die visio mentis im Durchgang der Andersheit (Alterität) durch Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen und Konsequenzen zu einer Sichtweise, die sich von ihrem Ursprung löst und diesen zugleich im Blick behält. Dies kann als Reflexionsfigur des Denkens selbst interpretiert werden, das die Auswirkungen aus seiner Bewegung vollzieht und sich zu dieser ins Verhältnis setzt. Allerdings geschieht diese Reflexion nicht im Bereich des Wissens, sondern im Bereich der docta ignorantia, die alle Dogmatik des rationalen Erkenntnis-Schemas hinter sich gelassen hat und dabei um den regionalen Stellenwert der wissenschaftlichen Praxis weiß. Das Schema der Rationalität wird somit nicht aus dem Wissen suspendiert, sondern durch Verortung systematisch und funktional integriert, woraus sich die distanzierende Perspektive der Reflexion und des Geltungsanspruchs von Hypothesen dynamisch ergibt.

      Bezüglich des rationalen Erkenntnisanspruchs leistet die visio mentis aus dem »posse-Denken« der docta ignorantia heraus eine dynamische Selbstintensivierung im Versuch, das Unendliche begrifflich, wenn auch »in alteritate« zu artikulieren, indem sie als »aenigmatica scientia« ein symbolisch vollziehbares Können aus dem Geist der Unwissenheit selbst gewinnt19. Zwar bleibt die bewegende Kraft des innovativ-konjekturalen Denkens an der Polarität zwischen Wissen und Nichtwissen orientiert, wenn sie jeweils an ihre eigenen Grenzen heranzureichen vermag und sich vom unerreichbaren Ideal des Absoluten als regulativer Idee motiviert sehen kann. Die Vernunft erreicht mithin die Ebene einer transzendental-affinen Reflexion der Urteilskraft, die sich von der Transszendentalphilosophie Kants nur in wenigen Punkten unterscheidet, wenngleich auch die Restriktion des Verstandes und die Motivation der Vernunft mit verschiedenen Parallelen aufwartet. Hier wie dort wird zumindest die kreative Innovation einer individuellen Potenz einem ingenium zugeschrieben, das sich mentaler Dimensionen bedient, ohne dafür biologische »Metasubjekte« in Gestalt der Natur und deren »Evolution« zu bedürfen. Die konstitutive Funktion der individuellen Autonomie bedarf mithin keiner ontologischen Fiktion zu ihrer empirischen Verifikation. Die Verifikation des Könnens, das sich im Erzeugen bewahrheitet, ist dasselbe Können, das sich im Werden verifiziert: »Hoc enim posse, quod de facere verificatur est idem posse, quod de fieri verificatur.«20

      Der Anfang des Werdens setzt zugleich beim Gewordenen wie beim Neuen an, wobei sich die Innovation additiv oder alternativ zur Tradition ins Verhältnis setzt, wenn immer eine Verifikation durch hinreichende Plausibilität etablierter Isolate gelingt. Diese wahrheitstheoretische Leistung des lebendigen Geistes ist originär auch in bewußtlosen Gestalten gewordener Paradigmata regenerativ zu verfolgen, da sich selbst die Axiome formaler Logik in statu nascendi einer attentiv-abstraktiven Einteilung verdanken. Auch darin bleibt noch die Genese der Konsequenzen formal-logischen Denkens in seiner erstarrten Gliederung sichtbar erhalten. Denn selbst die rationalen Bedingungen des Widerspruchsfreiheits-Postulates folgen schlicht aus der gesetzten Bestimmung von A, das sich in der Perspektive des Verstandes von allem anderen (als Non-A bestimmt) zu unterscheiden hat: aus A=A folgt Non-A=Non-A und damit auch Non: A et Non-A. Was jedoch für eine Region des Geistes zweckmäßig sein mag, kann in einer anderen Region bereits als ungeeignet erscheinen. Die Region des rationalen Wissens verfügt zwar über eine basale Exaktheit sowie über die »süße Simplizität der zweiwertigen Logik«21 im Bereich des operational-technischen Kalküls, die Region der supra-rationalen Vernunft hingegen ist intern-relational auf die logische Schlichtheit der bloßen Verstandesbedingungen nicht angewiesen, sondern stellt innerhalb ihres Verfügungsbereiches eine Perspektivität zur Verfügung, die (qua similitudo divini intellectus in creando) als »posse fieri« das Werden-Können endlos zu initiieren vermag.

      An der Grenze zur Ratio übersteigt die Vernunft mit ihren Koinzidenzen den Verstand bis zur infinitesimalen Grenze des Gottesgesichtspunktes22, den sie aus endlichen Mitteln niemals erreichen, sondern immer nur als prae-suppositio intendieren und grenzbegrifflich vor Augen haben kann. Die Vernunft verfolgt intern-relational ihre Zwecke wie der Verstand seine auch; nur der dynamische


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