Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
Читать онлайн книгу.gestorbenen Presbyter zum augenblicklichen Erwachen und fragt ihn, ob er gestatte, dass sein Leben noch einmal von Gott verlangt werde; der Tote aber fleht, man möge ihn in der ewigen Ruhe lassen, und sinkt von neuem entseelt zurück. Hier liegt allerdings schon eine ganz andere psychologische Anschauung zugrunde, und zwar eine wesentlich christliche, auf welche wir nicht näher eingehen können.
Zum Schlusse muss des Missbrauches einzelner Teilte von Leichen als Mittel zu magischen Zwecken gedacht werden. Wir müssten tief in die Ursprünge aller Magie hinabsteigen, wenn wir die primitiven Formen dieses besondern Wahnglaubens ermitteln sollten; genug, dass von Menschenfleisch und Menschenknochen bei den verschiedensten Zaubergattungen die Rede ist, sowohl bei der blossen Erforschung der Zukunft als bei dem magischen Wirken auf andere. Ursprünglich mochte es auf den Schatten desjenigen abgesehen sein, von dessen Leiche die Stücke genommen waren, allein diese Beziehung macht sich später nicht mehr mit Deutlichkeit geltend; das Mittel ist ein allgemeines geworden, und es liesse sich von der griechischen Zeit abwärts ein langes Verzeichnis von einzelnen Beispielen seiner Anwendung zusammenstellen. Doch ein einziger sehr bezeichnender Fall kann uns die widerliche Wanderung durch dieses Gebiet der Nacht ersparen. Man erinnert sich der bekannten herodoteischen Erzählung vom Schatz des Rhampsinit und von der abgehauenen Hand des Diebes, wobei vielleicht schon eine magische Vorstellung vorauszusetzen ist: die rechte Hand ist nächst dem Schädel immer der begehrteste Teil der Leiche gewesen. Nun begibt es sich unter Constantin, und zwar wiederum in Ägypten, dem Vaterland alles wüsten Zaubers, dass eine abgehauene Hand zu magischen Künsten gebraucht werden soll464, und zwar ist es niemand anders als der grosse Athanasius von Alexandrien, welchem aufgebürdet wird, er habe einem Bischof der meletianischen Sekte aus der Thebais, namens Arsenius, zu jenem Zweck die Hand abhauen, ja ihn ermorden lassen. Auf der Synode zu Tyrus, angesichts der ersten Bischöfe des Reiches, wagen sich die ägyptischen Geistlichen, seine Gegner, nicht bloss mit der Anklage, sondern mit dem vorgeblichen corpus delicti hervor; eine wirkliche Hand – »ob von einem absichtlich Ermordeten oder sonst Gestorbenen, weiss Gott allein« – wird den heiligen Vätern unter die Augen gelegt. Athanasius macht die Anklage wohl glänzend zunichte, indem er den lebendigen, unverstümmelten Arsenius mitten in das Konzil hineinführt, allein, dass eine Behauptung wie jene, und zwar in einem solchen Kreise, gewagt werden durfte, spricht ganz unwiderleglich für die Allgemeinheit des Wahnes und für das häufige Vorkommen der Übung.
Von einem andern Prinzip geht die Beschauung menschlicher Eingeweide aus, welche schon in alten Zeiten und bei den verschiedensten Völkern465 namentlich an Kriegsgefangenen geübt wurde. Sie ist wesentlich divinatorischer Art, doch schliesst sich daran unvermeidlich auch eine operative Magie an oder wird von den Berichterstattern ohne weiteres vorausgesetzt, weil der populäre Glaube an den magischen Wert einzelner Leichenteile zu fest gewurzelt ist, um sich mit dem blossen Extispicium zu begnügen. Auch für die Fortdauer dieses Greuels reicht ein einziges Beispiel zum Beweise hin. Unter den fast durchgängig überaus abergläubischen Fürsten dieser Zeit wird Maxentius, der Sohn des Maximianus Herculius, insbesondere beschuldigt, schwangere Weiber, auch Kinder zum Zweck der Eingeweideschau aufgeschnitten und durch geheime Begehungen die Dämonen herbeigerufen zu haben. Obschon Eusebius dieses erzählt466, der vom Heidentum durchaus nicht immer die richtigsten Begriffe hat und auch nicht immer die Wahrheit sagen will, so lässt sich doch bei der bösartigen Roheit des Maxentius kein begründeter Zweifel gegen diese Aussage erheben. Es befremdet dann auch nicht mehr, was eine andere Quelle467 meldet, dass er noch zwei Tage vor seinem Ende das blutbefleckte Palatium verliess und eine Privatwohnung bezog, weil ihm dort die Rachedämonen keinen Schlaf mehr gönnten. Ähnliches war ohne allen Zweifel das ganze dritte Jahrhundert hindurch häufig vorgekommen. – Übrigens ist mit diesen beiden Gattungen der magische Gebrauch der Menschenleiber keineswegs erschöpft; sympathetische Wirkungen wurden zum Beispiel auch mit dem Blute erzweckt, in welchem nach der herrschenden Ansicht die eigentliche Lebenskraft liegen sollte. Es wird eine Geschichte dieser Art schon von Marc Aurel berichtet468, die ebenso traurig als schmutzig wäre, wenn man sie für wahr halten müsste, und die selbst als Fabel einen übeln Schein auf die Zeit wirft, deren Gebildete daran glauben konnten.
In betreff dieses ganzen Zauberwesens wird nun die Geschichte ewig umsonst nach dem objektiven Tatbestande fragen. Heiden, Juden und Christen waren gleichmässig überzeugt, dass Geister und Tote beschworen werden könnten; es handelt sich auch nicht wie beim Hexenwesen der letzten Jahrhunderte um etwas gewaltsam in die Menschen Hineinverhörtes, sondern um hundert rücksichtslose, freie und deshalb sehr verschieden lautende Aussagen von zum Teil sehr besonnenen und sittlich ehrenwerten Schriftstellern. Wie vieles bewusster Betrug, wie vieles blosse pia fraus und wie vieles Selbsttäuschung und ekstatische Vision war, ist und bleibt ein Rätsel, wie bei den neuplatonischen Beschwörungen. Denn jedes Jahrhundert hat seine eigene Ansicht von dem Übersinnlichen in und ausser dem Menschen, in welche sich die Folgezeit nie ganz hineinversetzen kann.
Mit der bisherigen Darstellung des Heidentumes gedenken wir bloss die wesentlichen Richtungen des damaligen Glaubens bezeichnet zu haben. Wenn alle Spuren im einzelnen aufgeführt werden sollten, wenn alle abweichenden Auffassungen der Götterwelt überhaupt, wenn sogar aller einzelne Amulettdienst und Symboldienst hergezählt werden könnte, in einem Jahrhundert, da sich mancher mit der Anbetung eines einzigen Schlängleins als Agathodaemon begnügte und weiter an nichts glaubte – dann würden vielleicht die dreihundert Sekten, die der Philosoph Themistius kannte (S. 229), wenigstens hypothetisch nachzuweisen sein. Mit diesem »vielgötterischen Wahnsinn«469 sollte nun das Christentum noch einmal in einen entscheidenden Kampf treten. Dieser hatte zum Glück auch eine literarische Seite. Die rationellen Verteidiger des Christentums in dieser Zeit der Krisis, der schon oft angeführte Arnobius und Lactantius, haben für uns einen noch höhern Wert durch ihre Darstellung des sinkenden Heidentums. Zwar stehen sie auf den Schultern ihrer Vorgänger, namentlich des Clemens von Alexandrien, allein sie bringen auch viel Neues, für das Jahrzehnt der Verfolgung und die damaligen Stimmungen wahrhaft Bezeichnendes. Das höchst achtungswerte Buch des Lactantius gibt sich als das Resultat tiefer und vielseitiger Studien zu erkennen; die Schrift des Arnobius ist als rasch hingeworfener Erguss des düstern, glühenden Unwillens eines Neubekehrten der unmittelbarste Zeuge des Momentes. Das durchgehende leidenschaftliche Missverständnis des Heidentums in betreff seines Ursprungs und seiner Entwickelungen stört den jetzigen Leser nicht mehr; er weiss, was von dem Euhemerismus dieser Kirchenschriftsteller zu halten ist, und nimmt die kostbaren Aufschlüsse aller Art, welche neben diesem Irrtum liegen, mit Begierde an.
Ziehen wir die letzten Resultate aus dem Bisherigen, so findet sich, dass nicht nur die Zersetzung des Heidentumes als solche dem Christentum im allgemeinen günstig war, sondern dass die einzelnen Symptome derselben mannigfach eine Vorahnung des Christentums, eine Annäherung an dasselbe enthielten. Vor allem war die Göttermischung an sich ganz geeignet, einer neuen Religion den Boden zu ebnen. Sie entnationalisierte das Göttliche und machte es universell; sie brach den Stolz des Griechen und Römers auf seinen alten einheimischen Kultus; das Vorurteil zugunsten alles Orientalischen musste nach langem Herumirren im bunten Gebiete des Wahnes am Ende auch zugunsten des Christentums durchschlagen. Sodann war der wesentliche Inhalt der spätheidnischen Anschauungen dem Christentum geradezu analog; der Zweck des Daseins wird nicht mehr auf das Erdenleben, seine Genüsse und Schicksale allein beschränkt, sondern auf ein Jenseits, ja auf eine Vereinigung mit der Gottheit ausgedehnt. Durch geheime Weihen hoffen die einen sich der Unsterblichkeit zu versichern; die andern wollen sich durch tiefe Versenkung in die höchsten Dinge oder auch durch magischen Zwang der Gottheit aufdringen; alle aber huldigen dem wesentlich neuen Begriff der bewussten Moralität, die sich sogar bis zur Kasteiung steigert und, wo sie nicht im Leben durchgeführt wird, doch wenigstens als theoretisches Ideal gilt. Die Spiegelung hievon findet sich wieder in dem philosophischen