Die Netflix-Revolution. Oliver Schütte

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Die Netflix-Revolution - Oliver Schütte


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Vater Eberhard ist Schreinermeister, der seit 30 Jahren in einer mittelständischen Möbelfabrik arbeitet. Die Mutter Hannelore betreibt im Keller des Hauses einen Getränkevertrieb und ist somit immer bestens über Neuigkeiten in der Nachbarschaft informiert. Nach einer Viertelstunde schlief Christoph auf dem Sofa ein.

      Die ersten Versuche, bewegtes Bild drahtlos zu senden, begannen schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum Kino, dessen Technik sich sehr schnell verbreitete, brauchte es fast 50 Jahre, bis die Maschinen zur Verbreitung von Bildern über Funkwellen ausgereift waren. Zwar gab es bereits während der Olympischen Spiele 1936 Übertragungen, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausrüstung so weit entwickelt, dass ein sinnvoller Einsatz möglich war.

      Ich selbst gehöre zu der ersten Generation, die mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. Meine Premiere fand allerdings statt, als ich schon zur Schule ging, und das Gerät war einer der gerade neu auf dem Markt gekommenen Farbfernseher. Ein Monstrum, dessen Farben sich eher im psychedelischen bewegten, als dass sie naturgetreu wiedergaben, was wirklich vor der Kamera zu sehen war. Trotzdem gehörten Serien wie Bonanza oder auch die Shows am Samstag schon bald zu meinem Leben.

      Vieles hat sich seitdem verändert. Die Farben sind besser geworden, Videorekorder eroberten die Wohnzimmer, die klobigen Röhrenfernseher verschwanden und wichen schicken Flachbildschirmen, aber keine Veränderung war so radikal, wie wir sie gerade erleben.

       Fenster zur Welt

      Der Filmmogul Darryl F. Zanuck postulierte 1946, als das Heimkino in den Kinderschuhen steckte: »Fernsehen wird nicht in der Lage sein, länger als sechs Monate zu überleben. Die Menschen werden schon bald müde sein, jede Nacht auf die Holzkiste zu starren.«2

      Ebenso wie das Kino überlebte das neue Medium dauerhafter als sechs Monate, und der abendliche Blick auf eine kleine Kiste im Wohnzimmer gehörte schon bald zum Alltag der meisten Menschen in Nordamerika und einem Großteil der restlichen Welt.

      In der Bundesrepublik startete 1950 der Versuchsbetrieb für ein Fernsehprogramm für ausgesuchte Zuschauer. In der DDR begann die Erprobung erst zwei Jahre später, in der Schweiz 1953 und in Österreich 1955. Das erste offizielle Programm flimmerte in Westdeutschland an Weihnachten 1952 über die wenigen Bildschirme, die bis zu diesem Zeitpunkt verkauft waren. Der damalige Intendant des westdeutschen Senders Werner Pleister erklärte das kommende Zeitalter in seiner Eröffnungsansprache: »Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue, geheimnisvolle Fenster zu Ihrer Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht. Man hat das Fernsehen eine neue Form menschlicher Verständigung genannt. In der Tat: Es kann dazu führen, dass die Menschen einander besser verstehen. Man hat auch die Befürchtung geäußert, das Fernsehen könnte den Menschen schaden, da es im Zuge der Technisierung der Schöpfung sein Leben weiter mechanisiert. Es kommt auf uns an, ob dieses technische Mittel schadet oder nützt.«3

      Er formulierte damit schon, was das Fernsehen kennzeichnet und damals eine wirkliche Neuerung darstellte: Im Wohnzimmer der Menschen entstand ein Fenster zur Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte brach das öffentliche Leben direkt und in Bildern ins Private ein. Nicht nur die reale Gegenwart wurde den Zuschauern präsentiert, auch Unterhaltung und Fernsehspiele bestimmten von Anfang an das Programm.

      Ähnlich wie das Kino bot das Fernsehen eine Verbindung der Menschen mit der Welt. Sie konnten teilhaben, ohne vor Ort zu sein. Vor dem Buchdruck beschränkte sich das Erleben der Bevölkerung meist auf den engen eigenen Erfahrungshorizont. Bücher erweiterten diesen auf reale oder fiktionale Erlebniswelten, die zeitlich und örtlich weit entfernt lagen. Mit den Zeitungen rückten die Ereignisse noch näher heran. Das Geschehen des gestrigen Tages in der Welt war nun Teil der eigenen Erfahrung. »Der Untergang des Dampfers ‚Titanic‘. 1550 Tote – 800 Gerettete« titelte die Berliner Volkszeitung 1912.

      Das Kino bot eine neue Art der Rezeption. Die Welt wurde den Menschen in Bildern präsentiert. Allerdings geschah dies im öffentlichen Raum. Film war kein Privatvergnügen, sondern fand mit anderen statt. Obwohl ein direkter Austausch durch den dunklen Zuschauerraum und die begleitende Musik verhindert wurde, war das Publikum sich bewusst, dass eine gemeinsame Erfahrung war. Mit dem Fernsehen wurde das Erlebnis wieder in die Wohnzimmer zurückgeholt, denn ähnlich wie die Lektüre eines Buches oder einer Zeitung kam die Welt ins eigene Heim. Darum wurde in den ersten Jahren dieser Aspekt in vielen Artikeln und auch in der Werbung hervorgehoben. »Vor dem Bildschirm glücklich vereint. Fernsehen bringt eine neue Zeit familiärer Geselligkeit«, stand Ende der 50er Jahre in einer Zeitungsanzeige.

      Vielleicht lag es daran, dass der Krieg nur wenige Jahre zurücklag, aber die beliebtesten Sendungen waren zunächst eher eskapistische Programme wie Tiersendungen und Sportereignisse. Zu den ersten wirklich großen Liveübertragungen gehörte 1953 die Krönung von Königin Elizabeth II. Und natürlich war die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz einer der herausragenden Momente der frühen Fernsehjahre (»Das Wunder von Bern«). Wie erwartet führte dieses Ereignis zu einem enormen Anstieg der Fernsehgeräte in den bundesdeutschen Haushalten von ca. 10.000 im Januar auf 80.000 im Dezember. Zwei Jahre nach der ersten regulären Sendung war klar: Der Siegeszug des neuen Mediums lässt sich nicht mehr aufhalten.

      Wie in der Ansprache von Werner Pleister deutlich wird, war der Beginn von Auseinandersetzungen über die Sinnhaftigkeit der Erfindung gekennzeichnet. Kritik kam aus verschiedenen Richtungen und aus unterschiedlichen Motiven. Die damals bekannte Zeitschrift Quick betitelte 1952 einen Artikel über das neue Fernsehen: »Amerikas gefährlichster Hausgenosse kommt zu uns!«4 Bundestagspräsident Hermann Ehlers schrieb im Jahr darauf in einem Brief an Pleister: »Sah eben Fernsehprogramm. Bedaure, dass Technik uns kein Mittel gibt, darauf zu schießen.«5 Diese Kritik zielte vor allem auf die plumpe Unterhaltung, die den Zuschauern geboten wurde.

      Die Einschätzung änderte sich aber auch in späteren Zeiten nicht. So schrieb 1978 der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Gastbeitrag in der ZEIT: »Mein Eindruck ist, übertriebener Fernsehkonsum drängt vielfach den unmittelbaren Umgang der Menschen miteinander zurück. Wir alle haben selbst miterlebt, wie sehr dieses Medium unser Leben verändert hat – das politische Leben, das Leben jedes einzelnen, das Leben von Familien.«6 Er schlug sogar einen fernsehfreien Tag pro Woche vor.

      Und natürlich gab es einen anderen wichtigen Akteur, der den Beginn mit Argwohn beobachtete. Die Kinobetreiber und Filmproduzenten bangten um ihr Publikum, das nun vom Fernsehen von 20 bis 22 Uhr belegt wurde. Auch der Spitzname »Pantoffelkino« zeigte den Wettbewerb, der zwischen diesen beiden Abendunterhaltungen stattfand. Die Befürchtung der Branche bewahrheitete sich allerdings nicht, und die Kinoränge blieben weiterhin gut besucht. Dies lag unter anderem daran, dass die Filmemacher vieles taten, um die Besonderheiten des Kinos stärker ab- und hervorzuheben. Die Filme wurden durch neue Verfahren immer bunter und breiter, sodass ein Western mit einem einsamen Cowboy, der durch die weite Prärie ritt, in einem schwarz-weiß Fernseher banal wirkte.

      Zudem wurde mit 3D experimentiert – ein Unterfangen, das aber schon bald wieder verschwand.

       Das Lagerfeuer der Nation

      Ab den 60er Jahren nahm das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert im Leben der Menschen ein. Dies wurde auch dadurch deutlich, dass die Möbel im Wohnzimmer um das schwere und klobige Fernsehgerät herum angeordnet wurden. Für viele bestimmte das Programm zudem den abendlichen Tagesablauf. Es zwang die Zuschauer, wenn sie zum Beispiel die Nachrichten verfolgen wollten, zu einem vom Sender festgelegten Zeitpunkt einzuschalten. »Freizeit« bedeutete also nicht mehr, frei über die Zeit bestimmen zu können.

      Als im Januar 1962 Das


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