Die Geheimnisse von Paris. Эжен Сю

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Die Geheimnisse von Paris - Эжен Сю


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zu bringen. Sie sah mich böse an mit ihrem einen Auge – denn sie war einäugig – und zischte mir giftig zu, sie wollte mir schon zeigen, was man mit solch fauler Kreatur machen müsse, um ihr Lust zur Arbeit zu machen. Sie zerrte mich hinter sich her und eine schmale Stiege hinauf in eine elende Bodenkammer. Dort trat sie zu einem Regale und nahm eine Zange aus einem Fache, womit sie mir – einen Zahn ausreißen wollte, um mich zu quälen und mich häßlich zu machen.«

      Die beiden Männer schrieen so ergrimmt auf, daß die anderen Gäste sich verwundert nach ihnen umdrehten... »Und hat sie dir den Zahn wirklich ausgerissen?« fragte Rudolf. – »Freilich,« sagte das Mädchen, »und hat dabei meinen Kopf zwischen ihre Knie genommen und mich festgehalten wie in einem Schraubstocke. Halb mit der Zunge, halb mit ihren Krallen von Fingern hat sie ihn ausgerissen und mir dann, um mich recht zu erschrecken, zugeschrieen, sie wolle mir nun, wenn ich weiterhin so faul bliebe, täglich einen weiteren Zahn ausreißen, und wenn ich keinen mehr im Munde hätte, mich in die Seine schmeißen, wo sich die Fische an mir laben sollten.«

      Was Rudolf sympathisch berührte, war, daß aus dem Munde des Mädchens kein einziges Wort des Hasses gegen das alte Weib fiel, so Schweres sie auch von ihrer Grausamkeit erduldet hatte.

      »Am andern Tage,« erzählte das Mädchen weiter, »ging ich nicht auf die Würmersuche nach Montfaucon, sondern flüchtete nach dem Pantheon, und bin den ganzen Tag gelaufen, bloß um recht weit weg von der bösen Frau zu kommen. Ich fürchtete mich zu sehr vor ihr. Die Nacht habe ich unter einem Holzhaufen auf einem Stätteplatze kampiert. Gehungert hats mich schrecklich, ich habe Holzrinde dagegen gekaut, und bin endlich darüber eingeschlafen. Als es Tag wurde und Leute kamen, bin ich tiefer hinein in den Holzstoß gekrochen, wo es ganz hübsch warm war, fast wie in einem Keller. Am andern Tage – ich wagte mich nicht hervor – habe ich wieder Birkenrinde gekaut und wollte wieder einschlafen, als ich Hundegebell vernahm. Ich wurde munter und lauschte. Das Gebell kam immer näher. Dann hörte ich eine Männerstimme. »Es muß doch jemand sich auf dem Hofe versteckt haben. Sonst würde doch mein Hund nicht bellen.« – »Sicher doch Diebe! Wer sonst?« sagte eine andere Stimme. Dann riefen beide Stimmen: »Such, such!« und da ich fürchtete, von dem Hunde gebissen zu werden, fing ich laut zu schreien an. »Höre doch,« sagte die eine Stimme wieder, »das klingt doch ganz, als wenn ein Kind schriee!«

      Und nun hörte ich, wie der Hund zurückgerufen wurde. Dann sah ich Laternenschein. Ich kroch aus dem Holzstoße heraus. Ein dicker Mann mit einem Jungen stand vor mir. »Was willst du auf meinem Hofe, Spitzbübin?« fragte er mich. – Ich erzählte ihm, wie schlecht es mir gegangen; er aber rief: »Papperlapap! Ich lasse mir nichts weismachen. Du willst mich bemausen!« Dann befahl er dem Jungen, auf die Polizei zu gehen, besann sich aber und sagte, er wolle mich gleich lieber selbst hinschaffen. Dort sagte ich, daß ich weder Heimat noch Eltern hätte. Ich wurde in ein Besserungshaus gebracht, wegen Vagabondierens, und war den Richtern aus tiefstem Herzen dafür dankbar, denn im Gefängnisse bekam ich zu essen und keine Prügel, lernte auch nähen, war aber faul und sang lieber, statt zu arbeiten.«

      »Weil du eben eine geborene Nachtigall bist,« erwiderte Rudolf lächelnd. – »O, Sie sind recht artig gegen mich, Herr Rudolf,« sagte das Mädchen, »und seitdem heiße ich nun die Schalldirne, statt Balg, wie mich die alte Hexe immer nannte. Mit meinem sechzehnten Jahre wurde ich aus der Besserungsanstalt entlassen. An der Tür traf ich die Wirtin mit ein paar andern alten Frauen, die früher schon in der Besserungsanstalt gewesen waren und mit den Mädchen, die mit mir dort waren, auf recht gutem Fuße standen. Sie sagte mir, sie hätte gute Arbeit für mich, wenn ich zu ihr ziehen wollte. Ich dachte aber, du kannst ja nähen, bist jung und willst auch das Leben ein bißchen genießen. In der Besserungsanstalt hatte ich doch soviel gearbeitet, daß ich beim Austritt bare 300 Francs ausgezahlt bekam, und das kam mir vor wie ein Vermögen. Aber das Geld war bald zu Ende. Ich hatte mir ein Stübchen gemietet. Ich bin eine große Blumenfreundin und hatte mir mehrere Stöckchen gekauft, brauchte auch ein besseres Kleid und einen Schal und bin ein paarmal ins Boulogner Wäldchen hinaus auf einem Esel geritten. Als ich noch etwa fünfzig Francs übrig hatte, versuchte ich es mit Näharbeit; aber überall wies man mir die Tür. Drei Tage darauf begegnete ich zufällig wieder der Wirtin und einer alten Frau. Sie hatten mich wohl, seit ich aus der Besserungsanstalt gegangen war, nicht aus den Augen gelassen, ich hatte es wahrscheinlich nur nicht bemerkt. Jetzt wußte ich nicht, wovon ich mein Leben fristen sollte, und so ging ich mit den Weibern mit. Ich bekam nun Schnaps von ihnen zu trinken, und bin so geworden, was ich jetzt bin.«

      »Ich verstehe,« sagte der Bandit, »und kenne dich nun.« – »Dir scheint es gar nicht recht zu sein, daß du uns deinen Lebenslauf erzählt hast?« fragte Rudolf. – »Ich habs zum ersten Male in meinem Leben getan,« sagte die Sängerin, »und ein Rückblick in meine Vergangenheit muß mich ja trüb stimmen. Ach, wie schön mag es sein, als ehrlicher Mensch dazustehen.« – »Ehrlich? ehrlich?« rief Schuri, »dann spiele die Posse, versuchs, und du wirst sehen, wie weit du damit kommst.« – »Ehrlich?« sagte das Mädchen, »aber wie soll ich es sein können? Was ich auf dem Leibe trage, gehört meiner Wirtin. Wohnung und Essen bin ich ihr schuldig. Weg von hier kann ich nicht, sie ließe mich auf der Stelle als Diebin festnehmen. So lange ich mich nicht auslösen kann, gehöre ich ihr mit Leib und Seele.« – Ein Schauder überrieselte sie, als sie diese Worte sprach. Dann wandte sie sich zum Schuri und bat um einen Schluck zu trinken ... »Nein, keinen Wein,« sagte sie, als er ihr das Glas hinhielt, »Schnaps, Schnaps, den kann ich besser vertragen, wenigstens betäubt er schnell.«

      Viertes Kapitel. Schuris Geschichte.

      Der vor kurzem eingetretene Gast hielt noch immer die beiden Männer mit dem polizeiwidrigen Aussehen im Auge, besonders den, der immer die linke Hand zu verstecken suchte. Beide hatten während der Erzählung der Sängerin mehrmals leise miteinander gesprochen und ängstlich nach der Tür geguckt. Der mit der griechischen Mütze sagte zu seinem Kameraden: »Bakel kommt nicht. Wenn ihn der Kamerad bloß nicht erschlagen hat!« – »Du meinst, um sich seinen Anteil mit anzueignen? Das wäre nun freilich sehr dumm für uns, denn wir hätten die Gelegenheit dann umsonst ausbaldowert.«

      Der Neueingetretene saß zu weit von ihnen, um die Worte verstanden zu haben; er hatte aber wiederholt in ein Papier geguckt, das er aus seiner Mütze langte, aber gleich wieder darin versteckte. Dann stand er vom Tische auf und verschwand, ohne daß es jemand aufzufallen schien. Gerade als er hinausging, war Rudolfs Blick nach der Tür hin geglitten. Auf der Straße sah er den Kohlenträger mit seinem rußgeschwärzten Gesicht stehen und hatte Zeit genug, ihm durch eine ungeduldige Gebärde zu verstehen zu geben, daß ihm diese Aufsicht im höchsten Grade zuwider sei. Der Kohlenträger ließ sich aber hierdurch nicht beirren, sondern verhielt sich nach wie vor in der Schenke. Die Sängerin fand in dem Glase Schnaps, das sie getrunken, ihre Munterkeit nicht wieder, schien vielmehr in die finstersten Gedanken Zu versinken. Ein paarmal hatte sie, als sie Rudolfs festem Blicke begegnete, die Augen niedergeschlagen, ohne sich von dem Eindruck, den der Unbekannte auf sie machte, Rechenschaft geben zu können. Seine Gegenwart bedrückte sie sehr. Sie warf sich vor, dem Manne, der sie aus der Gewalt des Banditen befreit hatte, geringe Dankbarkeit entgegenzubringen. Es tat ihr fast leid, vor ihm die Beichte ihres Lebens abgelegt zu haben. Schuri dagegen war in der besten Laune, höchst mitteilsam und gesprächig. Vor Rudolfs manierlichem Benehmen war sein Groll, in ihm den Meister gefunden zu haben, schnell gewichen. Sein Glas austrinkend, hub er an:

      »Sängerin, du hast wenigstens noch die alte Eule gehabt, wenn sie auch wert ist, daß der Teufel sie bei lebendigem Leibe holte. Bis zu der Zeit, da du als Landstreicherin eingesperrt wurdest, hast du wenigstens ein Dach überm Haupt gehabt; ich aber kann mich nicht besinnen, bis zu meinem neunzehnten Jahre, in welchem ich Soldat wurde, in einem Bette geschlafen zu haben.« – »So? Du hast gedient. Schuri?« fragte Rudolf. – »Drei Jahre,« versetzte Schuri, »davon aber später! Die Steine am Louvre, die Gipsöfen in Clichy und die Steinbrüche in Montrouge waren die Gasthäuser meiner Jugend. Mir schwebt düster vor, als hätte ich in meiner Kindheit mit einem alten Lumpensammler das Land durchpilgert und hätte mit dessen Kratzeisen manchen Hieb über den Buckel bekommen. Dann bin ich in Montfaucon bei Abdeckern gewesen und habe die Pferde mit abgestochen. Da mag ich wohl zehn bis zwölf


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