Wellengrab. Edith Kneifl

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Wellengrab - Edith Kneifl


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      Ein Rettungsboot wurde über Bord gehievt. Zwei Matrosen bereiteten dem schaurigen Wasserballett ein Ende, indem sie die einzelnen Körperteile aus der unruhigen See zu fischen versuchten. Der Kopf entwischte ihnen immer wieder. Sobald sie ihn mit ihren Paddeln berührten, hüpfte er auf der nächsten Welle ein Stückchen weiter.

      Alexander musste sich sehr zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben. Obwohl er bereits unzählige Tote gesehen hatte, bereitete ihm der Anblick einer Leiche, vor allem der Anblick von Leichenteilen, nach wie vor großes Unbehagen. Der Glatzkopf war offenbar von der Schiffsschraube erwischt und zerkleinert worden. Das hatte er nicht beabsichtigt.

      War ihm der junge Mann nachgeschickt worden, um auf ihn aufzupassen? Hätte er dafür sorgen sollen, dass Alexander die Angelegenheit im Sinne seiner Auftraggeber erledigte? Oder hatte es sich um den Killer einer Konkurrenzfirma gehandelt, der ihn hätte ausschalten sollen? Letzteres erschien ihm am wahrscheinlichsten.

      Übelkeit, Schwindel, Durst, Hunger. Alexander fühlte sich elend. Der Druck in seinem Kopf wurde stärker. Verdammter Blutdruck! Trotz Tabletten bekam er ihn nicht in den Griff. Er atmete tief durch, inhalierte gierig die frische, leicht salzig schmeckende Meeresluft.

      Die berüchtigte Gefangeneninsel in der Nähe von Athen, auf der sein Vater jahrelang interniert gewesen war, schälte sich in der Ferne aus dem Dunst und ließ sein Herz noch schneller schlagen. Unwillkürlich fielen ihm die Zeilen eines Gedichtes ein, das sein Vater ihm abends vorm Schlafengehen oft vorgelesen hatte.

      „Bitter waren unsere Tage, sehr bitter

      der Schatten einer Zypresse maß die ganze Welt

      Meter für Meter

      Jeder trug auf seinen Schultern an den Verstorbenen

      ständig trugen wir den Tod auf unseren Schultern“

      Alexander war 1968 auf die Welt gekommen. Kurz nach seiner Geburt war sein Vater verhaftet und auf die Gefängnisinsel Makronissos, gegenüber von Kap Sounion und Lavrio, gebracht worden. 1974 war er mit mehreren Knochenbrüchen, die von den Misshandlungen mit Eisenstangen und Bambusrohren herrührten, nach Hause zurückgekehrt. Er war Kommunist gewesen. Nach seiner Rückkehr war er ein gebrochener Mann.

      Zum Glück wird heutzutage niemand mehr nach Makronissos verbannt, nicht einmal ein Mörder, dachte Alexander. Das Straflager gab es nicht mehr.

      ***

      Am Pier trafen die ersten Polizeiautos ein. Die Fähre hatte wieder angelegt. Bald wimmelte es an Bord nur so von Polizisten.

      Alle Passagiere wurden befragt. Auch Alexander wurde kurz einvernommen. Er zeigte seinen falschen Pass vor und sagte, dass er am Oberdeck gestanden war und auf Piräus geschaut hätte, als er die Leichenteile im Wasser entdeckt hatte. Die Bullen schienen sich mit seiner knappen Aussage zu begnügen, fragten jedenfalls nicht weiter.

      Erleichtert suchte er sich seinen reservierten Platz: einen bequemen Liegesessel in der ersten Klasse. Bevor er sich niederließ, hielt er Ausschau nach der blonden Touristin. Da er sie nirgends entdeckte, widmete er sich To Vima. Diese linksliberale Zeitung hatte er vor dreißig Jahren gerne gelesen. Er vertiefte sich in einen Artikel über die Tragödie der griechischen Fischer auf Fourni. Der Artikel lenkte ihn von dem Unfall ab. In seinen Augen war es ein Unfall gewesen, er hatte den Mann nicht töten wollen.

      EU-Subventionsirrsinn lautete die Überschrift. „Griechische Fischer in Nöten. Wie erst jetzt bekannt wurde, verbrannten zwei Fischer auf Fourni letztes Wochenende aus Protest ihre Boote. Die EU nahm kürzlich erneut einen Anlauf, die Überfischung in der Ägäis zu bekämpfen. Angeblich wurden Fischern Prämien bis zu zweihundertfünfzigtausend Euro geboten, wenn sie ihre Boote vernichteten.“

      Alexander legte die Zeitung beiseite. Er war zu müde, um sich auf den langen Artikel zu konzentrieren. Der Kampf mit dem glatzköpfigen Cowboy hatte ihn mehr angestrengt, als er vor sich selbst zugeben wollte. Außerdem ging ihm die attraktive Touristin nicht aus dem Kopf. Er beschloss, sich auf die Suche nach ihr zu machen.

      Zuerst holte er sich an der Theke einen griechischen Kaffee und ein Glas Wasser. Als er mit dem Fuß die Tür ins Freie aufstoßen wollte, wurde diese von außen aufgerissen.

      Alexander verlor das Gleichgewicht. Der heiße Kaffee landete auf dem weißen Seidenhemd der hübschen Blondine.

      „Können Sie nicht aufpassen?“ Sie funkelte ihn mit ihren wasserblauen Augen wütend an und schimpfte so laut, dass sich einige Gäste in der Bar nach ihnen umdrehten.

      Wenn er etwas hasste, war es, Aufsehen zu erregen. Er war immer stolz darauf gewesen, sich beinahe unsichtbar machen zu können.

      „Ver…verzeihen Sie bitte“, stammelte er bestürzt.

      Ihr Gesicht entspannte sich. Beinahe wäre ihr ein Lächeln entkommen. Sie musterte den großen, schlanken Mann von Kopf bis Fuß. Dieser Tollpatsch sah verdammt gut aus. Schwarzes, an den Schläfen leicht ergrautes, kinnlanges Haar, ebenmäßige Züge, dunkelbraune Augen, eine schöne klassisch griechische Nase, ein dichter schwarzer Schnurrbart.

      Er starrte auf ihre Brüste, die sich deutlich unter dem nassen Shirt abmalten. Sie trug keinen BH.

      „Ist was?“, fauchte sie ihn an.

      Errötend wandte er den Blick ab. Die ganze Geschichte war ihm unerhört peinlich. „Es tut mir so leid …“

      „Mir auch.“

      „Wie kann ich das wiedergutmachen?“

      „Was heißt gutmachen? Das Hemd ist versaut und mein Gepäck befindet sich unten. Ich werde also hinunterlatschen und mir ein frisches Oberteil holen müssen.“

      „Ich habe eine bessere Idee. Hier, halten Sie das bitte.“ Er drückte ihr die fast leere Tasse und das Wasserglas in die Hand, begab sich in den Bordshop und verlangte eines der blau-weiß gestreiften T-Shirts mit der Aufschrift I love Greece. Das Wort love war durch ein rotes Herz ersetzt worden. Als ihn der Barkeeper nach der Größe fragte, rief er sich die Brüste der Blondine in Erinnerung und entschied sich für Medium.

      „Wie geschmackvoll!“, sagte sie, als er ihr das T-Shirt reichte.

      Sie fackelte nicht lange herum, drehte ihm den Rücken zu, zog ihr beflecktes Seidenhemd aus und stopfte es in ihre Umhängetasche.

      Er bewunderte die tiefbraune Haut ihres wohlgeformten Rückens, als sie in das gestreifte T-Shirt schlüpfte. Ein Gentleman hätte weggesehen.

      ***

      Die Fähre verließ mit zweistündiger Verspätung den Hafen von Piräus. Das Knarren und Rattern der Motoren war so laut, dass man kaum sein eigenes Wort verstand.

      Alexander und die Touristin blieben eine Weile schweigend nebeneinander an Deck stehen und sahen beim Ablegen zu. Die Leichenteile waren längst geborgen worden. Die Schaumkronen auf den Wellen waren wieder strahlend weiß.

      „Wie kann das bloß passiert sein?“, fragte sie. „Er muss in dem Augenblick über Bord gestürzt sein, als sich die Fähre gedreht hat“, gab sie sich selbst die Antwort.

      „Tja, die Sicherheitsvorkehrungen auf den griechischen Fähren entsprechen offensichtlich bis heute nicht den internationalen Vorschriften …“

      „In den USA würde der Reeder von den Angehörigen des Opfers verklagt werden.“

      „Eine Amerikanerin hätte mich auch wegen des heißen Kaffeegusses und des ruinierten Hemdes verklagt“, scherzte er.

      „Vielleicht werde ich das noch tun“, sagte sie, ohne zu lächeln.

      Die Sonne brannte erbarmungslos auf sie herab. Das Wasser glitzerte silbern, wirkte friedlich. Je weiter sie aufs offene Meer hinauskamen, desto wohler begann er sich zu fühlen. Er empfand Hochachtung, Ehrfurcht, ja sogar Liebe für das Meer und wurde leicht sentimental.

      Zum


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