Heimische Exoten. Mareike Milde
Читать онлайн книгу.Gemeinschaft. Es ist schwer, von außen hineinzukommen, besonders wenn man nicht vom Fach ist. Viele antworteten gar nicht auf meine Anfragen. Viele lehnten ab, teils höflich, teils weniger höflich. Wieder andere sagten, über solch ein Thema könnte man nicht unterhaltsam und gleichzeitig fachlich versiert schreiben. Einige rieten mir, nicht so direkte Fragen zu stellen. Andere baten mich, direkte Fragen zu stellen. Einige wiesen mich auf sehr sensible Themen hin, die nicht zu veröffentlichen seien, da die Thematik in der Öffentlichkeit nicht richtig eingeordnet werden könne. Ein Experte riet mir gar, einen Liebesroman zu schreiben – dazu bräuchte man kein Biologiestudium.
Es war zu spät. Mein Interesse war entfacht, ich blieb hartnäckig. Wo es ging, versuchte ich Kontakte herzustellen, und wo es nicht ging, tauchte ich in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Was einst als schöne, unterhaltsame Idee für ein Buch begann, war längst schon sehr viel mehr.
Ich las kiloweise Fachbücher, rief Behörden an, besorgte mir Dissertationen und Publikationen zu speziellen Tierthemen, erkundigte mich beim Naturschutzbund, WWF, BUND, bei Thünen-Instituten und beim Alfred-Wegener-Institut, erstellte meterlange Fragebögen, besuchte geführte Wanderungen in Naturschutzgebieten und studierte alle möglichen Länder- und EU-Listen zu gebietsfremden Arten. Mitunter bereiteten mir das Studium und die Auswertung der vielen gegensätzlichen Aussagen Kopfschmerzen. Mir wurde klar, dass ich für dieses Buch keine »Invasivliste« der Tierarten abarbeiten wollte, bevor ich ihnen überhaupt begegnet war. Ich war einfach gespannt, was an Neobiota flächendeckend zu finden ist und welche Geschichten es zu erzählen gibt, ohne dabei Vorurteile zu haben. Ich wollte die betroffenen Menschen sprechen und ihre Meinungen erfragen und mein Wissen nicht mehr nur aus der Fachliteratur beziehen. Ich beschloss, die Listen beiseitezulegen und unsere neue Tierwelt auf meine Weise kennenzulernen. Immer wieder hatte ich auch Glück und traf auf Experten, die sehr aufgeschlossen für meine Idee waren und mir ihre Hilfe für das Buchprojekt zusicherten – am Anfang nur vereinzelt, mit der Zeit aber immer öfters.
Plötzlich war es gerade diese »Fachblase«, die mir bei der weiteren Recherche half, denn sobald ich einmal einen Fuß in der Tür hatte, wurde ich von einem Experten zum anderen weiterempfohlen. Und das ermöglichte mir den Zugang zu neuen Themen, von deren Existenz ich bislang noch gar nichts wusste. Zum Schluss kamen sogar Fachexperten zu mir und boten an, ihre Ergebnisse über bestimmte Tiere mit mir zu teilen, um dieser Spezies eine Plattform zu geben. Ein erster Schritt war getan. Jetzt wollte ich die Tiere endlich sehen.
Begleiten Sie mich nun, liebe Leser, auf eine Reise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Unternehmen Sie mit mir lange Zugfahrten, sitzen Sie in dunklen Schreibnächten in Hotellobbys an meiner Seite, stapfen Sie zusammen mit mir über ausgedehnte Testgelände und lassen Sie uns – zu jeder Wetterlage – an interessanten Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und Tieren teilhaben. Ich berichte Ihnen von meinem Versuch, alle Reisen mit Leichtgepäck (nur ein Rucksack!) zu bewerkstelligen, und teile mit Ihnen die Erkenntnis, dass man dabei sehr, sehr schnell falsch packen kann. Ich klettere mit Ihnen über matschige Wanderwege, kauere mit Ihnen und vier Dutzend Aalen in einem wackeligen Fischerboot, vermisse Stechmücken an einem schwülheißen Tag auf einem Donaualtarm und robbe unter den amüsierten Blicken einiger Spaziergänger durch einen warmen Bachlauf in Kärnten. Gemeinsam fahren wir bis an die norddeutsche Grenze zu Dänemark und besuchen das Münsteraner Land an der westlichen Grenze zu den Niederlanden. Wir reisen zum Botanischen Garten in Genf und bewegen uns durch die Kaiserstadt Wien. Doch beginnen wir da, wo einst alles für mich begann. Lassen Sie mich Sie mitnehmen in meine Heimat: die europäische Hauptstadt der Waschbären.
Begrifflichkeiten
Bevor es losgeht, komme ich nicht umhin, mit Ihnen ein paar höchst formelle Begrifflichkeiten abzustimmen. Denn diese Begrifflichkeiten sind zwar üblich, werden aber in der Fachwelt keineswegs einheitlich verwendet.
Fangen wir mit den grundlegenden Begriffen an: Gebietsfremd sind all die Tiere, die nach dem Jahr 1492 in einem Gebiet ansässig geworden sind, obwohl sie eigentlich ihre Heimat woanders haben. Das gilt nur für Tiere, die durch den Menschen eingebracht wurden, sei es absichtlich oder unabsichtlich. Beispielsweise Tiere, die der Mensch ausgewildert hat, um die Pelzversorgung sicherzustellen, lange bevor die Thermojacke erfunden wurde, aber auch Insekten, die mittels Gepäck in einem Überlandflug in ein anderes Land reisen. Die magische Jahreszahl 1492 markiert den Grenzwert in der Biologie, weil Kolumbus damals Amerika eroberte und somit der zarte Ursprung für die Globalisierung gelegt wurde. Ab diesem Moment war es möglich, fremde Arten und Pflanzen von der Alten in die Neue Welt und umgekehrt zu überführen. Zu Beginn geschah das langsamer, dann jedoch immer reger. Dass diese Grenze von Menschen gesetzt wurde, erklärt auch, warum wir in diesem Buch teilweise von nichtheimischen Arten sprechen können, obwohl diese bereits zigtausende Jahre zuvor in unseren Gebieten ansässig waren. Das betrifft zum Beispiel den Kastanienbaum, der vor der Eiszeit bei uns heimisch war, durch die Kälte verdrängt wurde und anschließend auf anderem Wege wieder zurück in unsere Gebiete gelangte.
Das gleiche Prinzip gilt für die einheimischen Tierarten: Was schon vor 1492 hier lebte, kreuchte und fleuchte, gilt als heimisch. Alle Lebewesen, die vor 1492 durch den Menschen in einen neuen Lebensraum kamen, bezeichnet man als Archäobiotika. Die Tierarten, die selbstständig durch Wanderungen oder Lebensraumverlagerungen hierherkommen, egal, ob vor 1492 oder danach, gelten von Beginn an als heimische Tierart.
Hat sich eine gebietsfremde Tierart einmal etabliert, – man spricht in der Regel von drei Generationen eigenständiger Fortpflanzung oder einem durchgehenden Lebensraum von mehr als 25 Jahren, – und kann sich diese Art hier ohne menschliche Unterstützung halten, so zählen diese Tiere zu den Neobiota. Da der gleiche Begriff für Pflanzen und Pilze gilt, spaltete man diesen noch einmal auf: tierische Neobiota werden als Neozoen betitelt, Pflanzen als Neophyten, Pilze und Sporen sind Neomyceten. Bei allen unterscheidet man auch nochmal unter »nicht invasiv«, »potenziell invasiv« und »invasiv«.
Kommen gebietsfremde Tierarten in unser Land, passiert oft nichts. Viele Organismen sterben sofort oder nach einiger Zeit, weil der Lebensraum mitsamt den klimatischen Bedingungen oder der benötigten Nahrung hier auf Dauer nicht zum Überleben reicht. Manche können sich für einen begrenzten Zeitraum halten und sind dann als sogenannte »unbeständige gebietsfremde Arten« vorzufinden.
Aber manchmal vermehren sie sich auch gut und schaffen es, sich in der neuen Umgebung bestens zu akklimatisieren. Dann spricht man von »etablierten gebietsfremden Arten«.
Sollte von diesen Gefahr drohen, hiesige Arten zu verdrängen, indem sie ihnen aufgrund körperlicher Überlegenheit die Nahrung wegnehmen oder Krankheitserreger mit einschleppen, gegen die die einheimischen Arten nicht gewappnet sind, oder, wenn sie sich ungehindert vermehren können, da sie keine natürlichen Fressfeinde haben, dann landen diese gebietsfremden Arten auf der Liste der potenziell unerwünschten Arten. Bestätigt sich die Bedrohung gegenüber der heimischen Fauna und Flora, rutschen sie auf die Black List und werden als invasiv bezeichnet. In diesem Fall darf man gegen sie Maßnahmen ergreifen, die gegenüber der heimischen Tierwelt nicht erlaubt sind: Einige invasive Wildtiere dürfen auch ohne Schonzeit geschossen werden, bis hin zum Versuch der Totalausrottung. Invasive Fischarten müssen getötet werden und dürfen keinesfalls wieder zurück in die Gewässer gelassen werden, wenn sie einmal ins Netz gegangen sind.
Bislang führte jedes Land seine eigenen Listen gebietsfremder Tierarten; im Zuge der EU-Formierung wurde eine übergreifende Liste mit unerwünschten Tierarten erstellt. Die erste dieser Art wurde 2016 herausgebracht und umfasst 37 Pflanzen- und Tierarten. Solch eine Liste zu erheben, sie dauerhaft zu analysieren und immer auf dem neuesten Stand zu halten, ist in der heutigen Welt mit der unglaublichen Vielzahl an Tierimporten und -exporten unmöglich. Zu Beginn der Buchrecherche lebten schätzungsweise 1000 Archäobiotika und Neobiota allein in Deutschland, wovon ca. 230 Arten den Status als Neozoen haben. Die Dunkelziffer, vor allen Dingen in der Insekten- und Einzellerwelt, wird um ein Vielfaches höher geschätzt. Wenn dieses Buch auf den Markt kommt, wird sich die Schätzzahl mit Sicherheit weiter verändert haben. Diese Listen geben einen Anhaltspunkt, gelten aber als unbeständig.
Mitunter kommt es vor, dass eine Tierart auf