Das Ende des Laissez-faire. Mit einem Essay von Nikolaus Piper.. John Maynard Keynes

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Das Ende des Laissez-faire. Mit einem Essay von Nikolaus Piper. - John Maynard Keynes


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und zur göttlichen Lehre, dass eine Einmischung auch nicht notwendig ist, käme nun ein wissenschaftlicher Beweis hinzu, dass ihre Einmischung auch unzweckmäßig wäre. Das ist die dritte Denkströmung, die sich gerade erst bei Adam Smith11 entdecken lässt, der sich weithin bereitfand, das Gemeinwohl auf »die natürliche Bemühung jedes Einzelnen [zu gründen], seine eigene Lage zu verbessern«, welche aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollständig und gezielt ausgebaut wird. Das Prinzip des Laissez-faire war dazu angetreten, den Individualismus mit dem Sozialismus in Einklang zu bringen und Humes Egoismus mit dem größten Wohl der größten Zahl zu vereinen. Der politische Philosoph konnte guten Gewissens den Stab an den Geschäftsmann abgeben, denn letzterer vermochte das summum bonum12 des Philosophen schlicht und einfach dadurch zu erreichen, dass er seinen eigenen privaten Profit verfolgte.

      Doch es waren noch einige andere Zutaten nötig, um die Sache zum Laufen zu bringen. Zum einen die Korruption und Inkompetenz der Regierung des 18. Jahrhunderts, von denen viele Erblasten bis ins 19. Jahrhundert hinein blieben. Der Individualismus der politischen Philosophen wies in Richtung Laissez-faire. Die göttliche oder (je nachdem) wissenschaftliche Harmonie zwischen Privatinteresse und öffentlichem Vorteil wies auf das Laissez-faire hin. Doch vor allem die Unfähigkeit öffentlicher Verwaltungsbeamter nahm Männer der Praxis für das Laissez-faire ein – eine Grundstimmung, die sich seither keinesfalls in Luft aufgelöst hat. Fast alles, was der Staat im 18. Jahrhundert tat und was über seine minimalen Funktionen hinausging, war schädlich oder erfolglos oder schien es wenigstens.

      Zum anderen ging der materielle Fortschritt zwischen 1750 und 1850 auf individuelle Initiative zurück und verdankte dem direkten Einfluss der gesellschaftlichen Institutionen so gut wie gar nichts. So bestärkte die praktische Erfahrung, was a priori13 gedacht wurde. Die Philosophen und Ökonomen sagten uns, dass aus unterschiedlichsten tiefen Gründen das uneingeschränkte private Unternehmertum das größte Wohl aller fördere. Und was könnte dem Geschäftsmann mehr entgegenkommen? Und konnte ein von der Praxis herblickender Zeitgenosse etwa leugnen, dass der Segen der jenes Zeitalter auszeichnenden Verbesserungen, in dem er lebte, auf die Tätigkeiten von Einzelnen zurückzuführen waren, die »etwas aus sich machen« wollten? Der Boden war also fruchtbar für eine Lehre, derzufolge staatliches Handeln, sei es nun aus göttlichen, natürlichen oder wissenschaftlichen Gründen, eng beschränkt werden und das Wirtschaftsleben so weit wie möglich unreguliert bleiben und dem Geschick und der praktischen Vernunft der einzelnen Bürger überlassen werden sollte, die durch das so überaus löbliche Motiv in Bewegung versetzt werden, es in der Welt zu etwas zu bringen.

      Als der Einfluss von Paley und seinesgleichen nachzulassen begann, erschütterten die Neuerungen Darwins14 die Grundlagen des Glaubens. Nichts schien gegensätzlicher zu sein als die alte und die neue Lehre – die Lehre, die die Welt als das Werk eines göttlichen Uhrmachers15 betrachtete, und die Lehre, die augenscheinlich alles aus Zufall, Chaos und Äonen von Zeit entwickelte. Doch am folgenden Punkt unterstützten die neuen Ideen die alten. Die Ökonomen lehrten, dass Wohlstand, Handel und Maschinen Geschöpfe des freien Wettbewerbs waren: Der freie Wettbewerb brachte London hervor. Doch die Darwinisten konnten noch einen draufsetzen: Der freie Wettbewerb brachte den Menschen hervor. Das menschliche Auge galt nicht mehr als Beweis für eine Vorsehung, die wunderbarerweise alles zum Besten eingefädelt hatte, das Auge war vielmehr die höchste Errungenschaft des Zufalls, der unter Bedingungen freien Wettbewerbs und des Laissez-faire wirkte. Das Prinzip des Überlebens des Tüchtigsten konnte als weit ausgreifende Verallgemeinerung der Ökonomie Ricardos16 betrachtet werden. Im Lichte dieser umfassenderen Synthese erschienen dann sozialistische Eingriffe nicht nur unzweckmäßig, sondern auch geradezu gotteslästerlich, als wären sie nur darauf aus, die vorwärts gerichtete Bewegung des gewaltigen Prozesses zu verzögern, durch den wir wie dereinst Aphrodite aus dem Urschlamm des Ozeans entstiegen waren.17

      Daher führe ich die merkwürdige Übereinstimmung der politischen Alltagsphilosophien des 19. Jahrhunderts auf den Erfolg zurück, mit dem sie verschiedenartige und einander bekriegende Schulen versöhnten und alle guten Dinge zu einem einzigen verschmolz. Hume und Paley, Burke und Rousseau, Godwin und Malthus18, Cobbett19 und Huskisson20, Bentham und Coleridge21, Darwin und der Bischof von Oxford22 hatten alle, wie sich herausstellte, praktisch dasselbe gepredigt – Individualismus und Laissez-faire. Das war die Kirche von England und jene waren ihre Apostel, wobei die Gemeinde der Ökonomen dafür zuständig war, zu beweisen, dass auch nur die geringste Abweichung von jenem Glauben unweigerlich finanziellen Ruin mit sich brachte.

      Diese Gründe und diese Atmosphäre liefern die Erklärung dafür (unabhängig davon, ob wir uns darüber im Klaren sind oder nicht – und in unserem verkommenen Zeitalter sind die meisten von uns hier reichlich unwissend), warum wir derartig voreingenommen zugunsten des Laissez-faire sind und warum staatliches Handeln zur Regulierung des Geldwerts oder zur Entwicklung der Investitionen oder zur Bevölkerungsentwicklung in vielen aufrechten Herzen zu argem Verdacht bewegt. Wir haben jene Autoren nicht gelesen; wir würden ihre Argumente absurd finden, sollten sie uns zufällig in die Hände fallen. Trotzdem, meine ich, würden wir wohl nicht so denken, wie wir es eben tun, wenn Hobbes, Locke, Hume, Rousseau, Paley, Adam Smith, Bentham und Miss Martineau23 nicht so gedacht und geschrieben hätten, wie sie es taten. Das Studium der Ideengeschichte ist eine notwendige Vorstufe auf dem Weg zur Befreiung des Geistes. Ich weiß nicht, wodurch jemand konservativer wird: dadurch, dass er nichts außer der Gegenwart oder nichts außer der Vergangenheit kennt.

      II

      Ich habe ausgeführt, dass es die Ökonomen waren, die jenen wissenschaftlichen Vorwand lieferten, durch den der Mann der Praxis den Widerspruch zwischen Egoismus und Sozialismus auflösen konnte, der sich aus dem Philosophieren des 18. Jahrhunderts und dem Niedergang der Offenbarungsreligion ergeben hatte. Doch nachdem ich dies in dieser Kürze dahingesagt habe, möchte ich jene Aussage qualifizieren. Angeblich haben die Ökonomen so etwas behauptet. Doch tatsächlich lässt sich keine derartige Doktrin in den Schriften der größten Autoritäten des Fachs finden. Solches haben lediglich die Popularisierer und Vulgarisierer behauptet. Dies war, was die Utilitaristen, die gleichzeitig Humes Egoismus und Benthams Egalitarismus anhingen, glauben mussten, wollten sie beide zusammendenken.6 Die Sprache der Ökonomen bot sich zwar zur Interpretation des Laissez-faire an. Doch die Beliebtheit der Lehre muss eher den politischen Philosophen jener Tage zugeschrieben werden, denen sie gerade zupasskam, als den politischen Ökonomen.

      Die Maxime Laissez-nous faire wird herkömmlicherweise dem Kaufmann Legendre24 zugeschrieben, der sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts an Colbert25 wandte.7 Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der erste Schriftsteller, der diesen Ausdruck verwendet hat, und zwar in deutlicher Verbindung mit der entsprechenden Lehre, gegen 1751 der Marquis d’Argenson26 war.8 Der Marquis war der erste Mensch, der angesichts der wirtschaftlichen Vorteile einer Nichteinmischung der Regierung in den Handel heftig ins Schwärmen geriet. Um besser zu regieren sagte er, muss man weniger regieren.9 Die wahre Ursache für den Niedergang unserer Manufakturen, erklärte er, ist die Protektion, die wir ihnen angedeihen ließen.10 »Laissez faire, telle devrait être la devise de toute puissance publique, depuis que le monde est civilisé.« [›Gewähren lassen, das sollte, seit die Welt zivilisiert ist, die Devise aller öffentlichen Gewalt sein.‹] »Détestable principe que celui de ne vouloir grandir que par l’abaissement de nos voisins! Il n’y a que la méchanceté et la malignité du cœur de satisfaites dans ce principe, et l’intérêt y est opposé. Laisez faire, morbleu! Laissez faire!!« [›Es ist ein abscheuliches Prinzip, nur durch die Herabsetzung unserer Nachbarn wachsen zu wollen! Nur Boshaftigkeit und Tücke des Herzens freunden sich mit einem solchen Prinzip an, und das (nationale) Interesse steht ihm entgegen. Lassen Sie gewähren, zum Donnerwetter! Lassen Sie gewähren!!‹]

      Da ist sie, die ökonomische Doktrin des Laissez-faire in voller Montur, mit ihrem glühendsten Ausdruck in der Lehre vom Freihandel. Diese Formulierungen und die Idee selbst müssen in Paris von da an zwar weithin kursiert haben. Doch in der Fachliteratur fassten sie nur langsam Fuß; und die Tradition, die sie mit den Physiokraten27 in Verbindung bringt, insbesondere mit de Gournay28 und Quesnay29, findet in den Schriften dieser Schule nur wenig Unterstützung, obwohl sie natürlich Verfechter einer grundsätzlichen


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