Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk


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Polizei durchkommen, wir sind wieder im tschechischen Netz.«

      Ich zog mein Handy aus der Tasche und tippte die Nummer, die ich aus dem Fernsehen kannte – 997, und nach einer Weile meldete sich ein tschechischer Anrufbeantworter. So ist das hier. Die Reichweite verlagert sich ständig, sie hält sich nicht an Staatsgrenzen. Manchmal verläuft die Grenze zwischen den Anbietern durch meine Küche, sie kann aber auch plötzlich vor Matogas Haus stehen oder auf der Veranda, man kann ihre Launen kaum vorhersehen.

      »Wir müssen höher hinauf, auf den Berg.« Doch wir wussten beide, wir durften keine Zeit verlieren.

      »Bevor irgendwer kommt, wird er schon steif sein.« Matoga hatte einen Ton angeschlagen, den ich gerade bei ihm nicht ausstehen konnte. Als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Er zog seinen Pelz aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. »Wir können ihn hier nicht so liegen lassen. Es sieht furchtbar aus. Schließlich war er unser Nachbar.«

      Ich betrachtete den armen, verkrümmten Körper von Bigfoot, und ich konnte kaum glauben, dass ich mich noch gestern vor diesem Menschen gefürchtet hatte. Ich hatte ihn nie gemocht. Nein, das war zu wenig gesagt. Vielmehr hatte ich ihn abstoßend gefunden, widerlich. Eigentlich hatte ich ihm alle menschlichen Eigenschaften abgesprochen. Jetzt lag er da auf dem fleckigen Fußboden, in schmutziger Wäsche, klein und mager, kraftlos und harmlos. Er war ein Stück Materie, die sich infolge schwer vorstellbarer Einwirkungen in ein von allem abgeschnittenes, vergängliches Wesen verwandelt hatte. Das berührte mich schmerzhaft, denn auch ein abscheulicher Mensch wie dieser verdiente den Tod nicht. Doch wer verdiente ihn schon? Auch mich wird dieses Schicksal einmal treffen, ebenso wie Matoga und die beiden Rehe da draußen. Irgendwann einmal werden wir alle nichts anderes sein als totes Fleisch.

      Ich sah Matoga trostsuchend an, doch er war schon dabei, das zerwühlte Schlaflager auf der desolaten Couch herzurichten, und so versuchte ich mich gedanklich selbst zu trösten. Es könnte sein, dass der Tod von Bigfoot in gewissem Sinne sein Gutes hatte. Sein Tod hatte ihn von dem Chaos befreit, aus dem sein Leben bestanden hatte. Und er hatte andere Lebewesen von ihm befreit. Ja, plötzlich wurde mir die Güte und Gerechtigkeit des Todes klar. Er ist wie ein Desinfektionsmittel, wie ein Staubsauger. Ich gestehe, dass ich wirklich so etwas dachte und eigentlich noch immer denke.

      Bigfoot war mein Nachbar gewesen. Zwischen unseren Häusern lag kaum ein halber Kilometer, aber ich hatte selten etwas mit ihm zu tun gehabt. Zum Glück. Ich sah ihn meistens von Weitem – seine winzige, sehnige Gestalt, die sich, immer etwas schwankend, vor dem Hintergrund der Landschaft vorwärtsbewegte. Beim Gehen brabbelte er vor sich hin, und manchmal hinterbrachte mir die winddurchwehte Akustik des Hochplateaus Fetzen dieses simplen, wenig abwechslungsreichen Monologs. Sein Wortschatz bestand vorwiegend aus Flüchen, an die er lediglich Eigennamen hängte.

      Er kannte im Wald jedes Stückchen Erde, offenbar war er hier geboren worden und nie weiter als bis nach Glatz gekommen. Er wusste, womit man hier gut verdiente, was man wem verkaufen könnte. Pilze, Beeren, gestohlenes Holz, Unterzündholz, Drahtschlingen, die jährliche Rallye mit Geländewagen, die Jagd. Der Wald ernährte diesen Gnom. Er hätte also den Wald respektieren sollen, doch das tat er nicht. Einmal, in einem August, als die Landschaft von der Sonne ausgedorrt war, hatte er ein ganzes Blaubeergebiet angezündet. Ich hatte die Feuerwehr gerufen, aber es konnte nicht viel gerettet werden. Was ihn dazu bewogen hatte, habe ich nie erfahren. Im Sommer wanderte er immer mit einer Säge durch die Gegend und legte Bäume um, die in vollem Saft standen. Einmal hatte ich ihn höflich darauf aufmerksam gemacht, mit mühsam zurückgehaltenem Zorn, und er zischte mir darauf nur so etwas wie »hau ab, Alte« entgegen, allerdings etwas drastischer ausgedrückt. Bigfoot verdiente dazu, indem er hier und da etwas klaute, ein Ding drehte oder irgendetwas organisierte. Wenn die Sommergäste draußen eine Laterne oder eine Heckenschere liegen ließen – Bigfoot packte sofort die Gelegenheit beim Schopf und sackte sie ein, denn solche Dinge konnte er später in der Stadt zu Geld machen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er schon oft bestraft werden oder sogar ins Gefängnis wandern müssen. Ich weiß nicht, wie es kam, dass er immer irgendwie davonkam. Vielleicht beschützte ihn irgendein Engel. Es soll ja vorkommen, dass die auf der falschen Seite stehen.

      Ich wusste auch, dass er auf alle möglichen Arten wilderte. Den Wald behandelte er wie sein Eigentum – alles darin gehörte ihm, und er plünderte ihn nach Bedarf.

      Viele Nächte hatte ich seinetwegen nicht geschlafen. Doch ich war machtlos. Einige Male hatte ich die Polizei angerufen. Wenn dort überhaupt jemand abhob, nahm er meine Beschwerde zwar höflich entgegen, doch dann passierte nichts. Bigfoot drehte weiterhin seine Runden, mit einem Bündel Drahtschlingen über der Schulter, lautstark Verwünschungen ausstoßend. Eine kleine, boshafte Gottheit. Böswillig und unberechenbar. Ständig war er leicht betrunken, und wahrscheinlich war er deswegen immer so schlecht gelaunt. Er schimpfte vor sich hin und hieb mit einem Stock auf die Baumstümpfe ein, als wolle er sie von seinem Weg vertreiben. Vielleicht war er schon leicht benebelt auf die Welt gekommen. Oft folgte ich ihm auf seinen Pfaden und sammelte die primitiven Drahtfallen wieder ein, die er auslegte. Es waren Drahtschlingen, die an jungen hinuntergebogenen Bäumen fixiert waren, sodass das Tier, wenn es hineingeriet, mit dem Hochschnellen des Baumes in die Luft geschleudert wurde und dort baumelte. Manchmal fand ich derart getötete Tiere – Hasen, Dachse und Rehe.

      »Wir müssen ihn auf die Liege betten«, sagte Matoga. Dieser Gedanke gefiel mir nicht. Es gefiel mir nicht, ihn anfassen zu müssen.

      »Ich glaube, wir müssen auf die Polizei warten«, erwiderte ich. Aber Matoga hatte den Platz auf der Couch schon vorbereitet und krempelte die Ärmel hoch. Er blickte mich aus seinen hellen Augen durchdringend an.

      »Du würdest auch nicht wollen, dass man dich so findet. In einem solchen Zustand. Das ist unmenschlich.«

      Ja, tatsächlich, ein menschlicher Körper ist unmenschlich. Besonders ein toter.

      Ist es denn kein finsteres Paradoxon, dass wir uns jetzt mit dem Körper von Bigfoot abgeben müssen, dass er uns seinen Körper als letzte Sorge überlassen hatte? Ausgerechnet uns, den Nachbarn, die er nicht respektiert, nicht gemocht hatte, die ihm ganz egal gewesen waren?

      Wenn es nach mir ginge, dann käme es nach dem Tod zur Annihilation der Materie. Das wäre die passendste Art, mit ihr umzugehen. Die annihilierten Leichen würden auf diese Weise direkt in die schwarzen Löcher zurückkehren, aus denen sie gekommen wären. Und die Seelen würden mit Lichtgeschwindigkeit zum Licht sausen. Wenn es so etwas wie eine Seele überhaupt gibt.

      Ich überwand meinen ungeheuren Widerstand und tat, was Matoga von mir verlangte. Wir packten den Leichnam an Händen und Füßen und zogen ihn auf die Couch. Überrascht stellte ich fest, wie schwer er war. Er war überhaupt nicht kraftlos, sondern eher bockig, steif und sperrig wie gestärkte, eben aus der Mangel gezogene Bettwäsche. Ich sah die Socken, oder eher das, was anstelle von Socken an seinen Füßen war – schmutziggraue, fleckige Fußlappen aus in Streifen gerissenen Bettlaken. Ich weiß nicht, warum der Anblick dieser Fußlappen mich wie ein Schlag traf, auf die Brust, auf mein Zwerchfell, auf meinen ganzen Körper, sodass ich unwillkürlich aufschluchzte. Matoga sah mich kühl und flüchtig an, in seinem Blick lag eine deutliche Rüge.

      »Wir müssen ihn anziehen, bevor sie kommen«, sagte er, und ich sah, wie auch sein Kinn beim Anblick dieses menschlichen Elends zitterte, auch wenn er das aus welchen Gründen auch immer nie zugegeben hätte.

      Also versuchten wir zunächst, ihm das schmutzige, stinkende Unterhemd auszuziehen, doch es war ein Ding der Unmöglichkeit, es ihm über den Kopf zu ziehen. Matoga holte aus seiner Tasche ein kompliziertes Taschenmesser und schnitt den Stoff über der Brust auf. Bigfoot lag jetzt halbnackt vor uns auf der Couch, haarig wie ein Troll, die Brust und die Hände vernarbt, mit unleserlichen Tätowierungen, in denen ich nichts Sinnvolles erkennen konnte. Seine Augen waren ironisch zusammengekniffen, während wir in seinem desolaten Schrank etwas Anständiges zum Anziehen für ihn suchten, bevor sein Körper für immer erstarren und wieder zu dem werden würde, was er seinem Wesen nach immer gewesen war: ein Klümpchen Materie. Seine zerrissene Unterhose guckte unter der fast neuen, silbrigen Trainingshose hervor.

      Vorsichtig nahm ich ihm die ekelhaften Fußlappen ab und sah mit Staunen seine Füße. Ich


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