Wo die Liebe ist, da ist auch Gott. Leo Tolstoi

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Wo die Liebe ist, da ist auch Gott - Leo Tolstoi


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die Armen, die Demütigen, die Sanftmütigen, die Barmherzigen.«

      Stepanytsch hatte seinen Tee ganz vergessen. Er war ein alter, weichherziger Mann, saß da, hörte zu, und die Tränen flossen ihm übers Gesicht.

      »Nun, noch ein Gläschen«, sagte Awdejitsch. Aber Stepanytsch bekreuzigte sich, dankte, schob das Glas zurück und stand auf.

      »Ich danke dir, Martin Awdejitsch«, sagte er, »hast mich gut bewirtet, hast Leib und Seele gesättigt.«

      »Komm nur wieder, du bist mir stets willkommen«, sagte Awdejitsch.

      Stepanytsch ging, Martin aber goss den letzten Tee in sein Glas, trank es aus, räumte das Geschirr weg und setzte sich wieder ans Fenster an seine Arbeit. Er steppte einen Absatz. Und er schaute immer wieder zum Fenster hinaus, wartete auf den Heiland, dachte an ihn und seine Worte. Und allerlei Reden Christi gingen ihm durch den Sinn.

      Zwei Soldaten gingen vorüber, einer in Kommissstiefeln, der andere in seinen eigenen. Dann kam der Besitzer des Nachbarhauses in blank geputzten Gummischuhen, dann der Bäcker mit seinem Korb. Alle gingen vorüber, und nun zeigte sich vor dem Fenster eine Frau in Wollstrümpfen und Bauernschuhen. Sie ging am Fenster vorbei und blieb dann an der Hausmauer stehen. Awdejitsch schaute hinaus und sah, dass sie eine Fremde war. Sie war schlecht gekleidet und hielt ein Kind auf dem Arm. Sie stand an der Mauer mit dem Rücken gegen den Wind und wollte ihr Kind einhüllen, hatte aber nichts Rechtes dazu, denn ihr Kleid war aus Sommerstoff und auch schon sehr abgetragen. Durch das Fenster hörte Awdejitsch, wie das Kind schrie und wie die Mutter ihm zuredete. Aber das Kind wollte sich nicht beruhigen. Da ging Awdejitsch zur Tür hinaus und die Treppe hinauf und rief: »Heda! Junge Frau!« Die Frau hörte es und drehte sich um.

      »Was stehst du da in der Kälte mit dem Kind? Komm herein, im warmen Zimmer kannst du’s besser einwickeln. Hierher!«

      Die Frau war ganz erstaunt. Sie sah einen alten Mann mit einer Schürze und einer Brille auf der Nase, der rief sie. Aber sie folgte ihm.

      Sie gingen die Treppe hinunter und traten ins Zimmer. Der Alte führte die Frau an sein Bett.

      »Hier«, sagte er, »setz dich näher zum Ofen, junge Frau. Wärme dich und stille dein Kind.«

      »Ich habe keine Milch mehr in der Brust, ich habe seit dem Morgen nichts mehr gegessen«, sagte die Frau, legte das Kind aber doch an die Brust.

      Awdejitsch schüttelte den Kopf, ging zum Tisch, nahm eine Schüssel, öffnete die Ofenklappe, goss Suppe in die Schüssel. Dann nahm er den Topf mit Grütze aus dem Ofen, die war aber noch nicht aufgegangen; so nahm er nur die Suppe und stellte sie auf den Tisch. Dann holte er Brot, nahm ein Handtuch vom Nagel und legte es auf den Tisch.

      »Setz dich, junge Frau«, sagte er, »iss. Ich bleibe bei dem Kleinen, ich habe ja auch Kinder gehabt und kann mit ihnen umgehen.«

      Die Frau bekreuzigte sich, setzte sich an den Tisch und fing an zu essen, Awdejitsch aber setzte sich auf das Bett zum Kind. Awdejitsch schnalzte mit der Zunge, doch es ging nicht recht, denn er hatte keine Zähne mehr. Das Kind hörte nicht auf zu schreien. Da kam Awdejitsch der Gedanke, dem Kleinen mit dem Finger zu drohen: er hob den Finger in die Höhe, schwenkte ihn und hielt ihn dann dem Kind dicht vor den Mund, zog ihn aber gleich wieder zurück. In den Mund nehmen durfte das Kind den Finger nicht, denn er war ganz schwarz vom Pech. Da guckte das Kind immer auf den hüpfenden Finger und wurde ganz still, schließlich lachte es. Nun freute sich Awdejitsch. Die Frau aber aß und erzählte, wer sie sei und woher sie komme.

      »Ich bin eine Soldatenfrau«, sagte sie, »meinen Mann hat man vor acht Monaten weit fortgeschickt, und ich habe gar keine Nachricht von ihm. Ich war Köchin, da bekam ich das Kind. Mit dem Kind wollten die Leute mich nicht behalten. Nun bin ich seit drei Monaten ohne Stelle. Alles, was ich besaß, ist draufgegangen. Ich wollte als Amme gehen, keiner nahm mich. ›Du bist zu mager‹, sagten sie. Ich ging zu einer Kaufmannsfrau, bei der wohnt eine Frau aus unserem Dorf. Die hatte versprochen, mich zu nehmen. Ich dachte, ich könnte nun gleich ganz bei ihr bleiben, aber sie sagte, ich möchte nächste Woche wiederkommen. Und sie wohnt so weit. Ich bin ganz müde geworden, und auch für das Kleine war es eine Qual. Gott sei Dank, dass unsere Wirtin wenigstens Mitleid mit uns hat und uns um Christi willen bei sich wohnen lässt. Sonst wüsste ich gar nicht, wie ich leben sollte.«

      Awdejitsch seufzte und sagte: »Hast du wenigstens warme Kleider?«

      »Wo soll ich denn warme Kleider hernehmen, mein Bester? Gestern habe ich mein letztes Tuch für zwanzig Kopeken verpfändet.«

      Die Frau ging zum Bett und nahm das Kind auf den Arm. Awdejitsch aber stand auf, ging zur Wand, suchte eine Weile herum und brachte endlich einen alten Leibrock.

      »Da«, sagte er, »es ist zwar ein altes Ding, aber das Kind kannst du noch hineinwickeln.«

      Die Frau sah den Rock, sah den Alten an, nahm den Rock und brach in Tränen aus. Awdejitsch wandte sich ab, griff unters Bett, zog einen Koffer hervor, wühlte darin herum und setzte sich wieder der Frau gegenüber.

      Und die Frau sprach: »Christus lohne dir’s, Großvater! Er hat mich wohl vor dein Fenster geschickt. Sonst wäre mir das Kind erfroren. Als ich aus dem Hause ging, war es warm, und nun ist es mit einem Mal so kalt geworden. Sicher hat er dir befohlen, aus dem Fenster zu schauen und dich meines bitteren Loses zu erbarmen.«

      Awdejitsch lachte auf und sagte: »Er hat es wahrhaftig getan. Denn ich schaute nicht ohne Grund aus dem Fenster, junge Frau.«

      Und Awdejitsch erzählte auch der Soldatenfrau seinen Traum, und wie er die Stimme gehört habe, dass der Herr ihn heute besuchen wolle.

      »Alles ist möglich«, sagte die Frau, stand auf, warf den Rock um, hüllte das Kind ein, verbeugte sich und dankte Awdejitsch noch einmal.

      »Nimm das um Christi willen«, sagte Awdejitsch und gab ihr ein Zwanzigkopekenstück, »kauf dein Tuch dafür aus.«

      Die Frau bekreuzigte sich, Awdejitsch bekreuzigte sich auch und begleitete sie hinaus.

      Die Frau war gegangen, Awdejitsch aß seine Krautsuppe, räumte ab und nahm wieder seine Arbeit vor. Aber über der Arbeit vergaß er das Fenster nicht; sobald es da oben dunkel wurde, schaute er gleich hinauf, wer denn da käme. Viele gingen vorüber, Bekannte und Freunde, aber niemand fiel ihm besonders auf.

      Und nun sah Awdejitsch, wie dicht vor seinem Fenster eine alte Hökerfrau stehen blieb. Sie trug einen Korb mit Äpfeln auf dem Arm. Sie hatte nicht mehr viel übrig, sie hatte wohl alles ausverkauft; über der Schulter trug sie einen Sack mit Spänen. Die hatte sie wohl auf irgendeinem Bauplatz gesammelt und trug sie nun nach Hause. Der Sack schien ihre Schulter sehr zu drücken; sie wollte ihn auf die andere Schulter legen, ließ ihn auf das Pflaster fallen, stellte den Korb mit den Äpfeln auf den Prellstein und schüttelte die Späne im Sack durch. Während sie nun so den Sack schüttelte, tauchte plötzlich, Gott weiß woher, ein Junge in zerfetzter Mütze auf, nahm einen Apfel aus dem Korb und wollte sich davonmachen, aber die Alte hatte es bemerkt, drehte sich um und packte den Schlingel am Ärmel. Der Junge strampelte, wollte sich losreißen, die Alte hielt ihn jedoch mit beiden Händen fest, schlug ihm die Mütze vom Kopf und fuhr ihm in die Haare. Der Junge schrie, die Alte schimpfte. Awdejitsch ließ sich keine Zeit, die Ahle einzustecken; er warf sie auf den Boden und lief hinaus; auf der Treppe stolperte er sogar und verlor die Brille. Als er auf der Straße war, sah er, wie die Alte den Jungen an den Haaren zauste, schimpfte und drohte, sie werde ihn zum Schutzmann schleppen. Der Junge suchte sich loszureißen und leugnete: »Ich habe den Apfel nicht gemaust, warum schlägst du mich, lass mich los!«

      Awdejitsch brachte sie auseinander, fasste den Jungen an der Hand und sagte: »Lass ihn laufen, Großmutter, vergib ihm um Christi willen.«

      »Ich will ihm so vergeben, dass er bis zum Frühling dran denken wird! Auf die Polizei bring ich den Halunken!«

      Da verlegte sich Awdejitsch aufs Bitten. »Lass ihn laufen, Großmutter, er wird’s nie mehr tun. Lass ihn laufen um Christi willen.«

      Da ließ die Alte den Jungen los, der Junge wollte sich davonmachen, aber Awdejitsch hielt ihn fest.


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