Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-Poliquin

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Das Gewicht von Schnee - Christian Guay-Poliquin


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liebsten sah ich dabei zu, wie er das Eisen bearbeitete und mit den Pferden sprach. Wenn ich daran zurückdenke, höre ich wieder seine raue Stimme, rieche ich das verbrannte Horn, das Feuer und das glühende Eisen. In der Schmiede malte ich mir ein anderes Leben aus. Mir war, als könnte ich auf jedem frisch beschlagenen Pferd an einen fernen Ort reiten. Meine Eltern starben früh und nahmen ihre Epoche mit ins Grab, ich übernahm das Haus, und nach und nach verstummte die Vergangenheit. Das Feuer im Schmiedeofen erlosch. Die Zeitungen riefen die Zukunft aus, hochtrabende Versprechen wurden gemacht. Wenige Kilometer entfernt schoss das Gerippe einer Stadt in die Höhe. Die rauchenden Schlote spuckten Träume in den Himmel, und man schwärmte von Straßenbeleuchtungen, Tunneln und Gebäuden höher als jeder Kirchturm. Meine Kinder kamen zur Welt, Felder wurden zubetoniert, die Kirche verschwand in Hochhausschluchten. Das Haus der Familie verlor sich in einem Irrgarten aus Kreuzungen, Schnellstraßen und Werbetafeln. Überall ragten Kräne vor dem Horizont auf, der drückende Geruch von Teer lag über den Dächern, und auf den Straßen öffnete man der Stadt unermüdlich den Bauch, nur um ihn gleich wieder zuzuschütten. Von meinem Balkon aus hörte ich den Sirenengesang. Manchmal sah ich Krankenwagen mit Blaulicht vorbeirasen. Ein fernes, anonymes Unglück. Irgendwann zogen die Kinder aus, und mit einem Mal war das Haus groß und leer. Uhrenticken füllte die Zimmer. Wir waren allein, meine Frau und ich, blickten hinaus auf ewige Baustellen, auf Arbeiter mit schweißnasser Stirn und auf Bagger, die ächzend ihren Arm ausstrecken wie fügsame Bestien. Ich weiß noch, dass in jedem Sonnenstrahl Staubkörner schwebten. Kamen die Enkel zu Besuch, war es ein Fest. Meine Frau strahlte über das ganze Gesicht. Selbst nach fünfzig gemeinsamen Jahren war ich fasziniert von ihrer Schönheit, ihrem Charme, ihrer Anmut. Aber die Zeit ist tückisch. Meine Frau klammerte sich zunehmend an Routinen. Ihr Gedächtnis ließ nach, ihre Stimme verlor sich im Dickicht der Sätze. Sie verfiel in ein verstörtes, stures Schweigen. Ihre Bewegungen wurden abgehackter. Ihr Blick füllte sich mit Unsicherheit. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden den anderen als Erstes nicht wiedererkannte. Eines Tages fiel sie im Badezimmer hin. Ich spürte das nahe Ende. Ein Telefonat, dann das Warten auf den Krankenwagen. Sie wurde ein paar Straßen weiter in ein Gebäude gebracht, das nur aus Aufzügen und Fluren bestand. Ich besuchte sie jeden Tag. Bald verblassten ihre Pupillen, nichts schien sie noch zu behelligen. Sie fand ihr Lächeln wieder, aber es gab kein Anzeichen dafür, dass sie jemals von ihrer verwunschenen Insel zurückkehren wollen würde. Immerhin wusste sie, dass ich jeden Tag kam. Jeden Tag. Im Alter lässt das Zeitgefühl nach, und man fürchtet Erinnerungen mehr als das Vergessen. Ich brauchte eine Pause. Ich musste mal raus. Also fuhr ich weg, in meinem alten Auto, für eine Woche. Ich wollte etwas vom Land sehen und den Kopf freibekommen. Eine große Runde drehen und eine Woche später zu meiner Frau zurückkehren. Aber nach ein paar Tagen blieb mein Auto mitten in der Wildnis liegen. Ich ging zu Fuß weiter, auf der Suche nach einer Werkstatt, und landete hier. Dann fiel der Strom aus. Anfangs glaubte ich noch, meine Nachbarin würde mich abholen kommen. Ich habe sie angerufen, und sie hat es mir versprochen. Alles klar, hat sie gesagt, ich fahre heute Abend los und bin morgen da. Aber nach ein paar Tagen war sie immer noch nicht aufgetaucht. Mittlerweile waren die Telefonleitungen tot. Ich habe noch eine ganze Weile auf sie gewartet. Ich verstehe das nicht, sie war immer sehr verlässlich. In meiner Verzweiflung habe ich versucht, einen Transporter zu stehlen, aber ich habe mich dumm angestellt, aus Unwissenheit. Außerdem war der Tank leer, irgendwer hatte das Benzin abgesaugt, und die Leute im Dorf bewachten ihre Spritvorräte mit Argusaugen. Es gab keinen Ausweg. Also bin ich hier eingezogen. Und eines Abends ist die Falle zugeschnappt. Die Dörfler brachten mir einen jungen Mann, einen Verletzten, der hohes Fieber hatte. Das warst du.

      Matthias kniet immer noch vor der Plastikwanne, zwischen einem Kleiderhaufen und einem Eimer. Die Hosen, Hemden, Socken und Unterhosen auf der Leine über ihm ähneln säuberlich aufgehängten Lumpen.

      Meine Frau wartet auf mich, erklärt er und hält mit den Händen im Wasser inne. Sie wartet darauf, dass ich sie besuche. Jeden Tag wartet sie darauf, dass ich sie besuche. Ich habe ihr ein Versprechen gegeben. Ich muss zurück in die Stadt. Zurück zu ihr. Ich kann nicht anders. Ich habe ihr ein Versprechen gegeben. Ich habe ihr versprochen, sie niemals im Stich zu lassen. Ich habe ihr versprochen, mit ihr zusammen zu sterben.

      Matthias’ Stimme zittert. Er ist den Tränen nah.

      Sieh mal, sagte er und zieht ein Foto aus der Hosentasche. Das ist sie.

      Da ich nicht weiß, wie ich reagieren soll, greife ich zum Fernrohr und blicke hinaus auf die leblose Landschaft. Die Messlatte für den Schnee zeigt immer noch dasselbe an wie am Tag zuvor.

      Sechsundfünfzig

      Heute ist es bedeckt, und die Bäume sind zusammengerückt. Das Barometer zeigt nach unten. Vielleicht ein aufkommender Schneesturm. Schwer zu sagen, denn wenn sich der Himmel verdunkelt, glaubt man immer, dass ein Schneesturm heraufzieht. Aber noch hüpfen die Meisen zwitschernd am Fuße der Bäume herum. Als ein Blauhäher auftaucht, flattern sie davon. Sobald er weiterfliegt, kehren sie eine nach der anderen zurück.

      Matthias bringt mir eine Schüssel Suppe, ein Stück Schwarzbrot und ein paar Tabletten. Er setzt sich an den Tisch und senkt einen Moment lang den Kopf, während ich schon den ersten Löffel nehme. Nach dem Essen macht er eine Bestandsaufnahme unserer Lebensmittel und beugt sich minutenlang über die offene Bodenluke. Danach trägt er mich zum Sofa, um die Bettwäsche zu wechseln. Er packt mich unter den Achseln und hebt mich hoch. Meine Beine baumeln hin und her wie die einer Marionette.

      Vom Sofa aus betrachte ich Matthias’ Silhouette im Gegenlicht. Er packt das Laken, reißt die Arme hoch, das sich bauschende Tuch sinkt langsam wieder herab. Wie ein Fallschirm. Ich höre ihn vor sich hinmurmeln, brummeln, grummeln. Ich glaube, er redet mit mir, allerdings ohne richtig zu artikulieren, so als blieben seine Worte zwischen den Zähnen stecken. Von den Medikamenten werden mir die Lider schwer, aber seltsamerweise wird seine Stimme dadurch klarer. Als spräche er im Schlaf zu mir. Als vermischten seine Sätze sich mit meinen Träumen. Als wollte er in meinen Kopf eindringen. Und mich mit einem Fluch belegen.

      Bevor es angefangen hat zu schneien, wolltest du nichts essen, jetzt schlingst du alles hinunter. Wie ein Schwein. Ich hatte in letzter Zeit oft Angst, dass dich das Fieber umbringt. Aber du hast jeden Schub überstanden. Du hast meine Pläne durchkreuzt, du bist mir ein Klotz am Bein. Aber du bist auch die Lösung für mein Problem. Mein Weg zurück nach Hause. Und obwohl du dir nichts anmerken lässt, weiß ich, dass du dich verzweifelt an jedes meiner Worte klammerst. Den Schmerz erträgst du ganz gut, aber du hast Angst vor dem, was auf dich zukommt. Also erzähle ich dir was. Egal was. Erinnerungsfetzen, Geistergeschichten, Ausgedachtes. Jedes Mal leuchtet dein Gesicht auf. Nicht viel, aber ein bisschen. Und abends erzähle ich dir von den Büchern, die ich lese. Manchmal geht das bis zum frühen Morgen. Zum Beispiel von dem Buch, das ich gerade zu Ende gelesen habe. Das von den ineinander verwobenen Geschichten, die tausend und eine Nacht dauern. Ich stamme aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit, das weißt du, das merkt man mir an. Uns trennt eine ganze Generation, aber der mürrische, starrsinnige Alte, das bist eher du. Wir leben beide in den Trümmern unserer Existenz, aber anders als du bin ich nicht verstockt. Die Sprache ist meine Überlebensstrategie, mein Trick siebzehn, mein Hoffnungsschimmer. Willst du dich etwa mit mir messen? Soll das hier ein Wettstreit sein? Zwischen uns beiden? Du kannst es mit mir doch gar nicht aufnehmen. Schweig weiter, wenn du unbedingt willst. Bleib weiterhin stumm, wenn du es aushältst, mir ist das egal. Du bist mir ausgeliefert. Ich müsste mich nur auf dein Spiel einlassen und ebenfalls schweigen, dann würdest du schnell in den Falten deiner Bettwäsche versinken. Du willst, dass die Zeit vergeht, aber hast gleichzeitig Angst davor. Am liebsten würdest du dich selbst gesund pflegen, aber das geht nicht. Du bist ans Bett gefesselt. Du bist im Dunkeln gefangen. Du schaffst nicht mal die einfachsten Bewegungen. Und du bist ein Jammerlappen. Du kannst dich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass dein noch junger Körper hinüber ist, zerstört, ein Wrack. Du misstraust mir, das weiß ich, auch wenn du inzwischen akzeptiert hast, dass ich mich um dich kümmere. Und du beneidest mich. Weil ich stehen und laufen kann. Sieh mich an. Hör mir zu. Ich stehe. Sieh mich an, ich bin doppelt so alt wie du, aber meine Beine tragen mich.

      Matthias macht eine Pause. Ich höre ihn näher kommen.

      Seit es angefangen hat zu schneien, stöhnst du manchmal im Fieber


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