Deutschstunde. Siegfried Lenz

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Deutschstunde - Siegfried Lenz


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in den Garten führte, lösten sich ihre Hände. Mein Vater stand sehr dicht an der Tür, fast bedrängt von dem Maler, er konnte den Drücker nicht sehen, er vermutete ihn neben seiner Hüfte, und er griff mehrmals vorbei, bevor er ihn endlich ertastet hatte und ihn sogleich niederdrückte in dem Wunsch, sich aus der Reichweite des Malers herauszudrehen.

      Der Wind riß ihn aus dem Türrahmen. Mein Vater hob unwillkürlich die Arme, breitete sie aus, doch bevor der Nordwest ihn anhob, legte er eine Schulter gegen den Wind und ging zu seinem Fahrrad.

      Der Maler schloß die Tür gegen den Widerstand des Windes. Er trat an ein Fenster zum Hof. Wahrscheinlich wollte oder mußte er sogar schon sehen, wie mein Vater mit mir davonfuhr unter dem Wind. Mag sein, daß es ihn zum ersten Mal auch nach der Gewißheit verlangte, zu erfahren, ob mein Vater wirklich Bleekenwarf verließ, deshalb beobachtete er unsern mühseligen Aufbruch.

      Ich schätze, daß auch Ditte und Doktor Busbeck uns nachblickten, bis wir am automatischen rot-weißen Leuchtfeuer waren, da wird Ditte gefragt haben: Ist es passiert?, und der Maler, ohne sich umzuwenden: Es ist passiert, und Jens soll das Verbot überwachen. – Jens? wird Ditte gefragt haben, und der Maler: Jens Ole Jepsen aus Glüserup: Er ist am nächsten dran.

      

      3 Die Möwen

      Das Guckloch in der Tür war besetzt. Ich spürte es gleich, brauchte nur den rinnenden, nadelfeinen Schmerz im Rücken zu deuten, um zu wissen, daß ein forschendes, sagen wir: kalt forschendes Auge sich hinter das Guckloch geklemmt hatte und mich beobachtete, während ich schrieb und schrieb. Zum ersten Mal fühlte ich mich beobachtet, als mein Vater und der Maler sich gerade zutranken; der lange, quälende Blick im Nacken wollte mich von da ab nicht mehr loslassen, lief prickelnd wie feiner Flugsand über meine Haut; dazu hörte ich vor meiner Zellentür tappende Schritte, Warnungen, auch halb erstickte Freudenrufe, so daß ich annehmen mußte, nicht weniger als zweihundertzwanzig Psychologen hätten sich auf dem zugigen Korridor eingefunden, um sich ungeduldig Aufschluß zu holen über mich und meine Strafarbeit.

      Der Anblick, den ich ihnen vom Guckloch aus bot, muß sie so erregt haben, daß einige sich zu spontanen, unbeherrschten Ausrufen wie »Bulzer Symptom« oder »objektive Simultanschwelle« hinreißen ließen, und vielleicht, wer weiß, würde sich die Schlange auch jetzt noch am Guckloch vorbeischieben, wenn ich nicht den Auftritt gewaltsam beendet hätte: die Beunruhigung im Nacken, im Rücken den klopfenden Schmerz, sammelte ich in meinem Taschenspiegel das Licht der elektrischen Birne und warf es überraschend gegen das Guckloch. Der Strahl reinigte das Guckloch. Ein verstümmelter Ausruf war draußen zu hören, eine verstümmelte Warnung, dann ein Wogen und Trappeln und die Schritte einer Kolonne, die sich mit zunehmender Unachtsamkeit entfernte: mein Rücken war wieder entspannt, schmerzfrei.

      Ich strich zufrieden über mein Aufsatzheft, machte neben dem Tisch einige Lockerungsübungen; da fuhr ein Schlüssel ins Schloß, die Tür sprang auf, und Joswig, immer noch gekränkt, trat wortlos, doch mit offener, fordernder Hand ein. Er forderte den Aufsatz, er verlangte den Tribut der Deutschstunde, den Himpel oder Korbjuhn, vermutlich aber Direktor Himpel ihn gebeten hatte einzutreiben. Ich tat erstaunt, ich tat erschrocken, und ich konnte ihm einen zurechtweisenden Blick nicht ersparen, doch unser Lieblingswärter lenkte nur meine Aufmerksamkeit in die beginnende Morgendämmerung über der Elbe und sagte: Her mit dem Zeug, damit du hier rauskommst; gleichzeitig griff er sich mein Heft, bog es, ließ die Seiten surrend am Daumen vorbeilaufen und überzeugte sich dabei, daß ich nicht untätig gewesen war.

      Ich meine, es lag väterliche Zufriedenheit in seiner Stimme, als er sodann feststellte: Na also, Siggi, was sein muß, gelingt auch, selbst wenn es sich um einen Aufsatz handelt. Anerkennend legte er mir eine Hand auf die Schulter, lächelte, nickte. Er wies mich darauf hin, daß ich die ganze Nacht geschrieben hatte. Er stellte mir eine Belobigung des Direktors in Aussicht. Dankbar sah er mich an und erbot sich, mein Heft in das Direktionsgebäude hinüberzutragen, wollte sich auch schon zur Tür entfernen, als ich ihn anrief und mein Heft zurückforderte. Unser Lieblingswärter blickte verständnislos, auch mißtrauisch, preßte das eingerollte Heft zusammen, hob es hoch und sagte: Aber die Strafe, Siggi, sie ist doch hiermit verbüßt.

      Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte: Die Strafe, sie hat gerade begonnen. »Die Freuden der Pflicht« wurden einstweilen nur vorbereitet, weiter nichts. Alles ist noch am Anfang.

      Karl Joswig blätterte in meinem Anfangskapitel, zählte die Seiten und fragte ungläubig: Du bist nicht fertig, obwohl du die ganze Nacht geschrieben hast? – Die Entstehung, sagte ich, ich habe gerade die Entstehung der Freude, und er darauf, schon wieder leicht gekränkt: Muß es so lang ausfallen? – Die Freuden dauerten nun mal lange, sagte ich, und dann: Eine Strafarbeit soll man doch wohl ernst nehmen? Er bestätigte es. Wenn die Strafe erfolgreich verläuft, sagte er, ist auch die Besserung erfolgreich verlaufen. Eben, sagte ich. Du weißt, was ich von dir erwarte, sagte er. Ja, sagte ich. Du bist mir eine gelungene Strafarbeit schuldig, sagte er, darum wirst du in diesem festen Zimmer bleiben, bis du fertig bist. Du wirst allein essen. Du wirst allein schlafen. Du wirst entscheiden, wann du zu uns zurückkehren willst.

      Danach erinnerte er mich daran, was Direktor Himpel mir aufgetragen hatte, wiederholte, daß meine Strafarbeit unbefristet sei und so weiter, und zum Schluß, bevor er ging, um mein Frühstück zu holen, gab er mir mein Heft zurück und fragte mit aufrichtiger Teilnahme: Sind es schlimme Sachen, mit denen sie dich plagen? – Die Freuden der Pflicht, sagte ich.

      Das tut mir leid, sagte er, und, kaum hörbar, sehr leid, Siggi, und unwillkürlich griff er in die Tasche, zog zwei zerknitterte Zigaretten heraus, ein flaches Streichholzheft, warf alles schnell unter meine Matratze und sagte ausdruckslos: Das Rauchen auf den Zimmern ist verboten. – Ja, sagte ich.

      Damit ging er, und seit dem Frühstück stehe ich am vergitterten Fenster, sehe in die Morgendämmerung über der Elbe, über den eisbedeckten Strom, in den starke Schlepper und der Eisbrecher »Emmy Guspel« ihre kurzlebigen Muster schneiden. Schräg stehen die Bojen unter dem Druck des treibenden Eises. Richtung Cuxhaven wurde am Himmel ein ockerfarbenes Transparent entrollt, neben dem sich jetzt Schneewolken formieren. Die kleine zerrissene Flamme der Ölraffinerie duckt sich unter zunehmenden Windstößen, die immer stärker und wütender werden und das Rattern der Niethämmer von der Werft bis zu mir herübertragen.

      In unseren Werkstätten, auch in der Inselbibliothek, in der der Spezialist für Handtaschen, Ole Plötz, mich nun vertritt, haben sie längst mit der Arbeit begonnen, doch das bedrückt mich nicht, ich habe kein Verlangen nach der Nähe meiner Freunde, nicht einmal Charlie Friedländer fehlt mir, er, der jeden und alles nachmachen kann, Stimmen und Bewegungen, Korbjuhns Stimme zum Beispiel, Himpels Bewegungen. Ich möchte hierbleiben, allein, allein in dieser Zelle, die mir wie ein wippendes Sprungbrett vorkommt, auf das sie mich geschickt haben, ich muß runter, ich muß springen und tauchen, einmal und noch einmal, so lange, bis ich alles hochgebracht habe, die Dominosteine der Erinnerung sozusagen, die ich auf meinem Tisch ansetzen möchte, Stück für Stück.

      Schon wieder läuft ein Tanker elbabwärts, es ist der sechste seit dem Frühstück und heißt »Kishu Maru« oder »Kushi Maru«, was liegt daran, er wird schon ankommen, ebenso wie die »Claire B. Napassis« und die »Betty Oetker«. Hoch liegen sie aus dem Wasser, ihre Schrauben schlagen durch die Luft, quirlen eine Eiswassersuppe, sie werden an Glückstadt vorbeilaufen und an Cuxhaven, und auf der Höhe der Inseln, denke ich mir, werden sie dem Zwangsweg nach Westen folgen – auf unserer Höhe beinahe.

      Doch ich möchte mich da erst gar nicht einschiffen, um auf einmal in Dharan oder Caracas zu landen, ich kann mir keine Versetzung durch Strömung oder Laune leisten, denn ich muß meinem Kurs folgen, der auch ein Zwangskurs ist, und der führt nach Rugbüll, an die Pier der Erinnerung, wo alles gestapelt und bereit liegt. Meine Fracht liegt in Rugbüll. Rugbüll ist der Hafen der Bestimmung, zumindest aber Glüserup, darum sollten wir das Ruder nicht sich selbst überlassen.

      Wie beharrlich sich alles anbietet und aufdrängt, jetzt, wo die Leinen losgeworfen sind, und wie zuverlässig es sich wieder herstellen läßt: ich rolle einfach


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