Ende offen. Peter Strauß

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Ende offen - Peter Strauß


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alten Menschen im Altersheim unterbringen und sie dort unter sich bleiben.

      Die Tradition der gegenseitigen Hilfe wurde in manchen Bereichen bis heute bewahrt: In der Landwirtschaft ist Nachbarschaftshilfe weitaus verbreiteter als in neueren Wirtschaftsbereichen.44 Auch Konrad Lorenz bestätigt die Bedeutung der Gemeinschaft für die steinzeitlichen Menschen. Er sagt, dass die Notwendigkeit, die Gemeinschaft nach außen zu verteidigen, den Zusammenhalt so gefördert habe, dass die Menschen die „zehn Gebote des Mosaischen Gesetzes“ von selbst eingehalten hätten. Sie hätten ihre Aggressionen nach außen abreagiert.45

      Manche werden jetzt einwenden: Der Mensch war und ist egoistisch. Ja, das ist richtig, aber der Egoismus und das Bedürfnis nach Gemeinschaft stehen bei uns in einem Gleichgewicht. Wir sind keine Einzelgänger wie beispielsweise Eisbären oder Hamster, sondern können langfristig und überwiegend nur in Gruppen, in Kommunikation, in Zugehörigkeit und Verbindung mit anderen leben. Die Zusammenarbeit ist unsere Stärke und sie hatte damals Vorrang vor dem Wettbewerb.46 Handel, also die Idee von Leistung und Gegenleistung existierte in der Steinzeit nicht, und Freigiebigkeit war der Grundsatz des Gruppenlebens.47

      Peter Kropotkin beschreibt zahllose Beispiele, wie Tiere durch Zusammenarbeit ihre Arterhaltung verbessern, und kommt zu dem Ergebnis, dass Zusammenarbeit ein stärkeres und häufiger auftretendes Prinzip der Natur ist als Konkurrenz. Kampf und Wettbewerb sind in der Tierwelt zwar vertreten, werden aber nur selten ausgelebt, zum Beispiel bei Revierkämpfen, bei Hierarchiekämpfen in einer Herde oder bei Kämpfen der Männchen um die Weibchen während der Paarungszeit. Da jeder Kampf Energie verbraucht und Risiken beinhaltet, ist es für die Arterhaltung von Vorteil, die Zahl der Kämpfe zu minimieren.

      Auch Altruismus hatte früher einen anderen Stellenwert als heute. Vermutlich gab es wesentlich mehr altruistisches Handeln, denn zur Zeit des Clan-Lebens hatte man überwiegend mit Bekannten, Freunden und Verwandten aus der eigenen Gruppe zu tun, zu denen man eine mehr oder weniger enge Bindung hatte. Begegnungen mit fremden Menschen waren die Ausnahme.

      Mütter trugen ihre Kinder, bis sie laufen und zumindest teilweise selbst nach Nahrung suchen konnten. Kinder wurden viel länger gestillt als heute.48 Kinder brauchten in solchen Gruppen weniger „Erziehung“. Die Eltern mussten sich nicht wie heutzutage ständig um sie kümmern, und dies vor allem nicht achtzehn Jahre lang. Die Kinder konnten sich in der Gruppe mit anderen Kindern beschäftigen und sich innerhalb der Gruppe frei bewegen, ohne dass die Aufsicht eines Elternteils benötigt wurde. Dadurch sozialisierten sie sich überwiegend gegenseitig, und es war weniger bedeutend als heute, ob die Eltern noch ein Paar waren oder sich trennten.49 Die Last der Aufsicht durch die Eltern war geringer, weil es im Rudel keine Gefahren gab und es ausreichend war, wenn sich einer oder wenige Erwachsene um alle Kinder des Rudels kümmerten. Weiterhin sind Kinder schon mit ungefähr vier Jahren ausreichend entwickelt, um sich teilweise selbst zu versorgen.50 Sie sind zwar noch nicht völlig selbständig und müssen noch das Jagen und andere Fähigkeiten erlernen. Sie sind aber nicht mehr völlig von den Eltern abhängig und in ihrer damaligen Gesellschaft selbständiger als ihre heutigen Altersgenossen.

      Das Gruppenleben erleichtert die Weitergabe der Erfahrung von den Alten auf die Jungen und Heranwachsenden. Die alten Leute dienten als Speicher von Wissen und Erfahrung51 und sind es in Stammesgesellschaften noch heute. „Unter den Lebensbedingungen der Jäger und Sammler konnte der Wissensschatz einer einzigen Person von über 70 Jahren über das Überleben oder Verhungern bzw. die Niederlage des gesamten Clans entscheiden.“52

      Das Leben in solchen kleinen Gruppen fördert das Gemeinschaftsdenken. Die Gemeinschaft regelt vieles automatisch, was wir in unserer heutigen Massengesellschaft in Gesetze gießen müssen, damit wir nicht über die Stränge schlagen. Die heutige Unpersönlichkeit der Verhältnisse zu den uns täglich begegnenden Personen sorgt dafür, dass unsere Hemmschwelle so weit sinkt, als seien es Mitglieder fremder, rivalisierender Clans. Die Massengesellschaft fördert unsere Rivalität, die – wie in Kapitel 2.5 näher ausgeführt – ursprünglich dazu diente, eine optimale Ausnutzung des Lebensraums zu erreichen, und sie verhindert auf diese Art Mitgefühl und verstärkt Distanz und Egoismus gegenüber unseren Mitmenschen.

      Neugier, unser beständiges Streben, Gier, Neid und unser Gerechtigkeitssinn haben früher dazu gedient, möglichst viel Nahrung zu finden und diese möglichst gleichmäßig in der Gruppe zu verteilen, um das Überleben für möglichst viele zu sichern. Neid war der Motor unserer Weiterentwicklung und unseres Strebens.53 In unserer heutigen Marktwirtschaft befeuern diese Eigenschaften den Konsum und lassen uns danach streben, nicht weniger zu besitzen als unser Nachbar. Neid ist nicht nur ein negativ bewertetes Gefühl, das man sich der Volksmeinung folgend möglichst abgewöhnen sollte. Es ist auch eine Motivation für Leistung. Neid diente in archaischen Gesellschaften dazu, eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Nahrung zu erreichen.54 Andererseits hatte Neid eine natürliche Grenze: „Wenn sämtliche Rohmaterialien – Holz, Steine, Tierfelle – für die rudimentäre Technologie leicht verfügbar sind, werden Diebstähle so überflüssig wie der Versuch, andere durch den eigenen Reichtum zu übertrumpfen.“55

      Die Gemeinschaft bietet einen guten Schutz vor dem Egoismus Einzelner, sodass die Auswirkungen von Neid, Gier und Egoismus im Clan-Leben begrenzt sind und in erster Linie dazu dienen, dass alle ausreichend versorgt werden: Einzelne in einer neolithischen menschlichen Gemeinschaft, die andere unterwerfen, ausbeuten oder für sich arbeiten lassen wollen, werden damit nicht weit kommen. Gegenüber einem Außenseiter sind sie vielleicht noch erfolgreich, aber auch in dieser relativ eindeutigen Situation laufen sie schon Gefahr, dass der Außenseiter von anderen Gruppenmitgliedern in Schutz genommen wird. Immerhin haben Menschen auch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, und das nicht ohne Grund.56

      Konstruiert man den Fall, dass sich mehrere zusammenschließen, um sich das Leben dadurch zu erleichtern, dass sie auf Kosten anderer leben, so ist die restliche Gruppe immer noch größer, und sie verlieren mehr, als sie gewinnen. Wenn eine ganze Gruppe (vor Erfindung der Waffen) beschlossen hätte, nur noch auf Kosten anderer durch Morden und Rauben zu leben, so wäre sie auf heftigen Widerstand gestoßen. Sie wäre wahrscheinlich schnell zu der Einsicht gelangt, dass es leichter ist, selbst zu jagen und zu sammeln, als ständig andere zu berauben, da bei jedem Überfall das Risiko besteht, dass eigene Gruppenmitglieder den Tod finden. Außerdem setzt ein Raubzug voraus, dass es etwas zu holen gibt – und dies war erst mit dem Anlegen von Vorräten, also der Entstehung von Besitz nach der Sesshaftwerdung des Menschen in größerem Maße gegeben. Davor gab es bei anderen Clans kaum mehr zu rauben als das Ergebnis des täglichen Jagens und Sammelns.

      Auch abtrünnige Steinzeitmenschen, die beschließen, durch Diebstahl und Raub bei anderen Clans ihre Nahrung zu beschaffen, haben ein größeres Verletzungsrisiko und haben fast nur Gegner und wenige Freunde, sodass es sich eher lohnt, den Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten. In der damaligen Welt ergab sich aus den menschlichen Eigenschaften und der Lebensweise, dass der Versuch der Ausnutzung anderer relativ unergiebig war. Erst wenn die Waffen und die Kampftechnik der Räuber deutlich überlegen sind und es bei den potentiellen Opfern ausreichend Beute (Besitz) gibt, steigen ihre Chancen. Dies ist ein möglicher Grund, warum es Jahrtausende dauerte, bis das Rauben und das Leben auf Kosten anderer unter den Menschen zunahmen.

      Kropotkin schreibt, die Dorfmark (also die Gemeinschaft) sei die stärkste Waffe im Kampf gegen die Unterdrückung durch die Listigsten oder Stärksten gewesen. Das enge Zusammenleben habe dafür gesorgt, dass der Egoismus im Zaum gehalten wurde.57 Rache war der Sanktionsmechanismus für Fehlverhalten. „Eine Gemeinschaft ohne Sanktion hätte aber irgendwann dazu geführt, dass die Egoisten die Gutwilligen ungestraft ausnützen.“58 Die Rache war also der steinzeitliche Vorläufer der heutigen Gerichtsbarkeit.

      Ein weiterer Grund für die Stärke damaliger Gemeinschaften liegt aber nicht darin, dass Abtrünnige keine Chance hatten, sondern dass der Zusammenhalt so stark war, dass es kaum Abtrünnige gab. Es kam aufgrund des Verbundenheitsgefühls der Gruppenmitglieder untereinander, das damals viel stärker war als heute (siehe Kapitel 2.8), selten jemand auf die Idee, andere auszunutzen.

      Die Verbreitung von Ausbeutung, Rücksichtslosigkeit, Ignoranz, Egoismus,


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