Ende offen. Peter Strauß

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Ende offen - Peter Strauß


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gehalten wurden, manche nur, weil sie zu hübsch waren.102 Diese Inhaftierung war nur möglich, weil die Eltern und Verwandten sie wegen „moralischer Verfehlungen“ verstoßen hatten und der Rest der Welt glaubte, sie seien zu Recht dort, weil sie unzüchtig, verdorben und entehrt seien und es verdient hätten. Man konnte so mit ihnen umspringen, weil sie weder Unterstützer hatten noch irgendeine Form von Zuflucht oder die Möglichkeit zur Gegenwehr.

      Für alle Menschen- und Tierkinder gilt, dass die Eltern eine unangreifbare Übermacht darstellen. Die Natur hat uns die Liebe zu unserem Nachwuchs mitgegeben, damit wir ihm gegenüber geduldiger, wohlwollender, fürsorglicher sind, als wir es bei Erwachsenen wären.103 Wenn ein Erwachsener durch mangelnde Erfahrung etwas kaputt macht, sich ungeschickt anstellt, hilflos ist, Pflege oder Unterstützung braucht, haben wir wesentlich weniger Geduld als gegenüber unseren Kindern. Und dies ist für das Überleben der Art dringend erforderlich, um zu verhindern, dass in einer vorzivilisatorischen Gruppe die Übermacht der Eltern gegenüber den Kindern zu instinktiven Gewalthandlungen führt, gegen die sich diese nicht wehren könnten.

      In vielen Bereichen verwenden wir unsere Übermacht gegenüber dem größten Teil der Natur zu unserem Nutzen: Kein Leben eines Schweins wird geschont, wenn ein paar Cent zu verdienen sind. Wenn eine Entscheidung zwischen Gewaltfreiheit und Kostenreduktion gefällt werden muss, fällt die Entscheidung im Kapitalismus fast immer zugunsten des Gewinns, vor allem, wenn es keine Restriktionen gibt oder keine Gefahr besteht, dass die Handlung öffentlich bekannt wird. Und wir alle schauen selten hin. Denn die meisten von uns haben schon von Quälerei bei Tierhaltung und Schlachtung gehört, beschäftigen sich aber kaum mit dem Thema, wollen weiter gut und billig essen und hoffen, dass alles mit rechten Dingen zugehe und die Fleischhersteller oder der Gesetzgeber verantwortlich handeln. Menschen, die in Schlachthöfen arbeiten, haben die Gelegenheit, Tiere ungestraft zu quälen – mit der Begründung: „Die Tiere sterben ja sowieso“. Ein im Internet zu findender Film über die Schlachtung einer Kuh104 hinterlässt beim Anschauen dasselbe schaurige Gefühl wie Dokumentationen über die Grausamkeiten in Konzentrationslagern.

      Unternehmen wie Nestlé, Unilever oder große Automobilhersteller können aufgrund ihrer Position ihre Lieferanten gegeneinander ausspielen, um niedrigere Preise durchzusetzen. Andere wie Maxdome, Ebay, Paypal können durch den Aufwand nicht zu rechtfertigende Gebühren für ihre Dienstleistungen verlangen, weil sie wenig oder keine Konkurrenz in ihrem Marktsegment haben. In Form von Banken, Hedgefonds und sonstigen „Investoren“ wurden große Machthäufungen zugelassen, die es jenen erlauben, die Preise von Grundnahrungsmitteln durch Spekulation so sehr hochzutreiben, dass die Ärmsten der Erde dadurch verhungern.

      Große Machtunterschiede geben dem Unterlegenen wenige Möglichkeiten zur Gegenwehr und damit zur Sanktionierung der Machtausübung. Es braucht nicht viel Böswilligkeit, damit der Überlegene den Unterlegenen schlecht behandelt. Ein „Täter“ kann durchaus ohne böse Absicht, sondern in Unwissenheit über die Auswirkungen handeln, weil sich die Betroffenen in ihrer Notlage kein Gehör verschaffen können.

       Warum gibt es keine Superhelden?

      In der Phantasie würden sich viele wünschen, Superheld zu sein, und diese modernen Film-Märchen vermitteln den Eindruck, das sei gut für alle, denn die Superhelden retten immer wieder die Welt vor Gefahren, die mit der Kraft eines normalen Menschen nicht zu bewältigen sind.105 Abgesehen von den Grenzen, die die Physik setzt, wäre es problematisch für die Arterhaltung, wenn es Einzelpersonen mit übermenschlichen Kräften gäbe. Diese Einzelnen könnten nicht nur wie im Film eine starke Hilfe sein, sondern sie könnten auch mit dem Rest machen, was sie wollen.

      Grundsätzlich bringt auch jede Erfindung die Gefahr mit sich, dass ein neues Machtmittel geschaffen wird, dem die Menschen moralisch nicht gewachsen sind. Drastischstes Beispiel hierfür ist die Entdeckung der Kernkraft, die uns die Fähigkeit zum Mord an der gesamten Menschheit eröffnet hat. Wir können es uns als Menschheit nicht mehr leisten, bei ständig zunehmender Macht nur aus unseren Fehlern zu lernen, sonst wird es irgendwann den Fehler geben, aus dem wir nicht mehr lernen können.

       Der Glaube an Macht erschafft und legitimiert Macht

      Viele Menschen streben heute nach Ansehen, Geltung und Beachtung, und viele Menschen sind bereit, diesen Drang bei anderen anzuerkennen oder dazu beizutragen. Einem Star- und Personenkult liegen ähnliche Verhaltensmodelle zugrunde wie Machtstrukturen und Hierarchien. Eine Veränderung, die keinen Personenkult mehr schafft, wäre der Weg zu mehr Gemeinschaft. Miteinander ist das Gegenteil einer Struktur mit „Oben“ und „Unten“. Es wäre ein Abschied von Hierarchien, die durch Ansehen verstärkt werden. Ohne Personenkult und Ehrfurcht vor hohen Positionen verlieren Hierarchien an Bedeutung, und das Miteinander tritt in den Vordergrund.

      Der Anfang ist gemacht. Die Bedeutung von Stellungen und Rollen ist rückläufig, und der Trend geht zur Gleichheit im Status. Heutzutage gibt es immer mehr Vorgesetzte, die ihre Position gar nicht oder viel weniger als früher ausnutzen, die sich genauso verhalten wie vor ihrem Aufstieg und sich von ihren Untergebenen nur noch durch ihre Aufgaben, nicht durch ihr Verhalten oder Erscheinungsbild unterscheiden. In den Siebziger und Achtziger Jahren hätte ein Mitarbeiter, der eine Entscheidung eines Vorgesetzten hinterfragte, eine Abmahnung oder Kündigung riskiert. Heute dagegen ist es vielerorts üblich, dass Entscheidungen offen vom Vorgesetzen mit dem Team diskutiert werden.

      Schon im neunzehnten Jahrhundert hat der Prozess der Rückbildung der Hierarchien mit dem Bedeutungsverlust der Monarchien begonnen, und es setzte sich damit fort, dass sich Menschen in unterschiedlichen Positionen immer weniger durch ihre Kleidung unterschieden. Klar, auch heute müssen die höchsten Führungskräfte „ordentlich“ gekleidet sein, und sie definieren sich über bestimmte Kleidung. Aber es gibt nicht mehr den Prunk wie im Mittelalter und die Unterschiede verschwimmen immer mehr. In manchen jungen Branchen, zum Beispiel der IT-Branche, kann oder muss der Geschäftsführer genauso gekleidet sein wie der Sachbearbeiter. Die Anerkennung irgendwelcher Positionen wird mit weiterer Reifung des Menschen zurückgehen. Wir werden weder Stars oder Anführer anbeten wollen, noch selbst welche werden wollen.

      Wie entstehen Machtanhäufungen? Als Einzelne wollen wir vorwärts kommen durch die Sammlung von Wissen, Vermögen, Macht, Erfahrung, Geld usw. Das ist zumindest teilweise (außer in Bezug auf Vermögen und Geld) richtig, denn es ist der Motor unserer Entwicklung – auch der unserer Kultur – und wurde uns von der Evolution mitgegeben. Aber daraus abzuleiten, dass auch beliebig große Ansammlungen von Macht erstrebenswert seien, ist ein Fehlschluss, denn die Möglichkeit zur Machtanhäufung ist erst durch unsere Kultur (Besitz) entstanden und war von der Evolution nicht eingeplant.

      Die Annahme, dass Machthäufungen erstrebenswert seien, vertreten wir unbewusst, indem wir die Macht von Diktatoren, großen Konzernen, Medien und anderen als selbstverständlich hinnehmen und nicht in Frage stellen. Wenn zu viele Menschen an Helden und starke Anführer glauben, so werden sie diese auch bekommen. So entsteht die Umgebung, die eine Machthäufung toleriert.

      − Wir empfinden Machthäufungen als zulässig und richtig und liefern so die Legitimation auch der Macht, die uns schaden will.

      − Der Glaube an die Macht befördert Einzelne in Machtpositionen, weil viele danach streben und bei manchen Menschen dieses Streben von Erfolg gekrönt ist.

      − In der Bevölkerung gibt es immer wieder den Gedanken an eine wohlwollende Diktatur. Diese soll „mit harter Hand“ notwendige Entscheidungen treffen und etwas zum Besseren wenden, was der Demokratie nicht gelingt. Darin drückt sich auch der Wunsch aus, die Entwicklung der Menschheit zu beschleunigen. Es ist anstrengend, zusehen zu müssen, wie andere Fehler machen, die man selbst vielleicht schon hinter sich gelassen hat. Andererseits hatte man selbst auch die Freiheit, diese Fehler zu machen, bis man sie als solche erkannte und sein Verhalten änderte. Was wäre, wenn man als wohlwollender Diktator anderen Vorschriften machen könnte und man später herausfände, dass die anderen doch recht hatten? Wer könnte dafür wirklich die Verantwortung tragen? Jeder Versuch, der darüber hinausgeht, andere zu überzeugen oder ihnen Vorbild zu sein, ist der erste Schritt in Richtung Diktatur. Weiterhin besteht immer die Gefahr, dass der wohlwollende Diktator sein Wohlwollen ablegt oder


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