Ende offen. Peter Strauß
Читать онлайн книгу.aber lassen sich die Wutbürger und Rechten erklären, die nicht unter Armut und Chancenlosigkeit leiden und das auch nicht in ihrem Umfeld erleben, also Leute, die nicht durch die Agenda 2010 und die Umverteilung von Arm nach Reich beeinträchtigt werden? Was die Studie von Heitmeyer nicht erfasst hat, sind individuelle biografische Unterschiede. Wie in den vorherigen Kapiteln ausgeführt, hängt das persönliche Aggressionsniveau damit zusammen, wie viel Gewalt bzw. Liebe und Geborgenheit jemand in seiner Kindheit erfahren hat. Dementsprechend wird auch die persönliche Tendenz zur Abgrenzung gegenüber anderen dadurch bestimmt. Jemand, dem in der Kindheit so wichtige Dinge wie Freiheit, Selbstbestimmtheit, spielerisches Entdecken der Umwelt verweigert wurden und der daher das Gefühl entwickelt hat, dass ihm Perspektiven genommen wurden, derjenige wird auch stärker von Ängsten bestimmt werden. Er ist sicherlich anfälliger für die Entwicklung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Einen Teil wird auch dazu beitragen, dass viele den Rückgang der Aufstiegschancen innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen – auch wenn sie selbst nicht davon betroffen sind.
Schon die Nazis machten sich die weitverbreitete Unzufriedenheit zunutze, indem sie eine „jüdische Weltverschwörung“ als Urheber der demütigenden Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkrieges und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Not in Deutschland ausmachten. Damit lenkten sie die Wut der Menschen gezielt auf diese Minderheit. Floriert heute möglicherweise der Rechtsradikalismus in ganz Europa, weil die Bürger instinktiv spüren, dass große Teile des von ihnen Erarbeiteten bei den Superreichen und Konzernen verbleiben? Ein weiterer Faktor ist die schnelle ("disruptive") Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Jahren. Sie ist dominiert von ökonomischer Liberalisierung und technologischem Fortschritt, schert sich aber nicht um die Sehnsucht der Menschen nach Verlässlichkeit und Orientierung.
Der Zusammenhang zu Aggressivität und Revierverhalten
Dass Konservativismus, Rechtsorientierung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zunehmen, wenn es den Bürgern und vor allem der Jugend schlechter geht, deckt sich mit den Erkenntnissen von Konrad Lorenz: Wie immer, wenn die Überlebenschancen zurückgehen, werden Menschen aggressiver und fangen an, nach anderen zu hacken und sich Sündenböcke zu suchen. Das ist durch die Evolution so beabsichtigt und dient der Arterhaltung. In bedrohlichen Zeiten sollen vor allem diejenigen überleben, die die Aggressivität ihrer Umwelt am besten aushalten, weil sie größere Widerstandskräfte haben als ihre Artgenossen.
Wie bei den erwähnten Füchsen und Hasen auf der Insel ist es für jede Spezies notwendig, dass sie Mechanismen hat, mit einem zurückgehenden Angebot an benötigten Ressourcen umzugehen – und zu dieser Regulierung dient bei uns die Aggressivität. Wenn unsere Lebensgrundlagen gefährdet sind, werden wir untereinander aggressiver – um nicht auszusterben. Dieses menschliche Verhalten zu verteufeln, verleugnet dessen biologische Sinnhaftigkeit. Erst wenn man diese Tatsache akzeptiert hat, lässt sich über Auswege und Ersatzstrategien nachdenken.
In Krisenzeiten wie in entspannten Zeiten wird Kreativität benötigt. Aber in Krisenzeiten ist es wichtiger, drängende Probleme in Bezug auf die Existenz pragmatisch zu bewältigen, und in Friedenszeiten ist es möglich, neue Ideen zu sammeln und sich weiterzuentwickeln. In Friedenszeiten braucht man ausgefallenere Menschen, die sich außerhalb des Mittelmaßes bewegen und daher neue Ansätze in die Gemeinschaft einbringen, in Krisenzeiten braucht man diese weniger. Dies wird ein weiterer Grund dafür sein, weshalb uns die Evolution dazu gebracht hat, dass wir alle von der Norm Abweichenden in Krisenzeiten ausgrenzen wollen.
„Schmarotzer“
Wer sich über Minderheiten empört und sie ausgrenzen will, wirft ihnen häufig vor, sie lebten auf Kosten der Allgemeinheit. Missbrauch der Sozialsysteme kommt in jeder Gesellschaft vor. Die Frage ist allerdings, wodurch die Empörung darüber tatsächlich entsteht. Dass die Forderung nach Abweisung von Flüchtlingen mit der Begründung, man befürchte andernfalls Einschnitte beim eigenen Wohlstand, nicht auf logischen Überlegungen beruht, sondern auf reflexhaften Äußerungen, zeigt sich u. a. daran, dass in dieser Diskussion nie gefordert wurde, Reichtum stärker zu besteuern oder einen ähnlichen Betrag zur Unterstützung der Ärmsten zur Verfügung zu stellen, wie er zur Rettung der Banken in der Finanzkrise aufgebracht wurde. Also wird auch die Ausweisung von Flüchtlingen das Problem nicht lösen, da die Flüchtlinge nicht die Ursache sind, sondern die noch nicht bewusst gewordene und ins richtige Verhältnis gesetzte Verschlechterung der eigenen Lebensumstände und Chancen.
Auswege
Anonymität erleichtert Fremdenfeindlichkeit. Persönliche Bekanntschaft wirkt aggressionshemmend. Es fällt einem schwer, auch nur unhöflich gegenüber Fremden zu sein, wenn man ihnen Auge in Auge gegenübersteht – selbst wenn man zuvor über die betreffende Gruppe geschimpft hat.214 Der Demagoge trachtet danach, den Kontakt zwischen verfeindeten Gruppen zu verhindern. Daraus ergibt sich eine Möglichkeit, wie man gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit jeder Art entgegentreten kann. Integration entsteht: wenn die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen ein gemeinsames Ziel anstreben, dabei zusammenarbeiten und das Ganze unter Leitung und Aufsicht geschieht.215 Daher geschieht Integration in Deutschland überwiegend im Berufsleben und in Sportvereinen, ist aber im Privaten nach wie vor die Ausnahme.
Aus den Ausführungen dieses Kapitels ergibt sich, dass der Extremismus unter anderem aus den zurückgehenden Lebens- und Berufschancen der jetzigen prekär Beschäftigten und vor allem der Jugend gespeist wird. Die Agenda 2010 und der ausufernde Neoliberalismus haben hier weitreichende Schäden angerichtet.216
Allein die Erkenntnis der zugrunde liegenden Zusammenhänge kann schon einen Rückgang von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Aggressivität bewirken. Wenn uns bewusst wird, dass eine impulsive Wut auf Fremde aus unserem biologischen Erbe stammt und heute keine sinnvolle Funktion mehr hat, können wir sie leichter beherrschen. In unserer Geschichte gibt es zahllose Beispiele dafür. Wir haben in den letzten Jahrhunderten viele Formen von Gewalt abgeschafft, weil wir sie nicht mehr für angemessen hielten und unser Mitgefühl für die Betroffenen wuchs. Vergewaltigung, Rachemorde und Folter waren im Mittelalter nicht ungewöhnlich und sind für uns heute ein absolutes Tabu – allein durch Erkenntnis.
2.7 Gewalt im Kleinen und im Großen, Krieg und Langzeitfolgen
Hören wir in den Nachrichten, dass irgendwo ein Krieg beendet wurde, so atmen wir innerlich auf bei dem Gedanken: Es ist vorbei. Das Gegenteil ist der Fall: Es fängt gerade erst an.
Im Krieg verlieren Menschen Angehörige und Freunde, ihnen werden Verstümmelungen zugefügt, Menschen werden vergewaltigt und müssen Leid und Gewalt mitansehen. All das tragen sie ihr ganzes Leben lang mit sich herum. Die Älteren unter uns werden sich noch daran erinnern, dass bis in die Achtziger Jahre viel mehr Menschen mit fehlenden Gliedmaßen im Straßenbild zu sehen waren. Die Folgen eines Krieges wirken sehr lange nach, bestimmen die Entwicklung der Gesellschaft eines Landes und haben in Zeiten der Globalisierung Einfluss auf die gesamte Welt.
Jan Philipp Reemtsma zitiert Theodor W. Adorno in seinem Buch Vertrauen und Gewalt: „Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft, als dass im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird daran denken können, denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist ein Ferment kommender Destruktion.“ Jedes Trauma ist, auch wenn es durch Verdrängung der Erinnerung und damit der Möglichkeit zur Verarbeitung entzogen wurde, weiterhin im Menschen aktiv.
Menschen, die einen Krieg erlebt haben, zeigen Verhaltensweisen, die in Friedenszeiten absurd erscheinen, wie beispielsweise eine panische Angst vor Flugzeugen oder Feuerwerk oder eine übertriebene Vorratshaltung. Manche werden in Anbetracht des erlebten Grauens mehr oder weniger sprachlos. Andere haben das Verständnis für die Feinheiten des Lebens verloren, können nur extreme, lebensbedrohliche Zusammenhänge ernstnehmen und tun normale Empfindungen als unbedeutend ab. Manche werden von Alpträumen geplagt, andere können aufgrund ihrer Erlebnisse nicht mehr offen und freundlich sein, sondern reagieren schon bei kleinen Anlässen mit Gewalt. Manche richten sich selbst mit Alkohol zugrunde. Andere können keinen Kontakt mehr zu ihren Mitmenschen aufrechterhalten.
Wer einen Krieg erlebt hat, ist fast