Die Angst reist mit. Eric Ambler

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Die Angst reist mit - Eric  Ambler


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hatte verständigen müssen. Das furchtbare Erdbeben in Anatolien hatte ihn ähnlich erschüttert wie seine Gastgeber. Die Zugverbindung zwischen Gallipoli und Istanbul war wegen Überschwemmung zeitweilig unterbrochen. Erschöpft und deprimiert traf er schließlich in Istanbul ein.

      Am Bahnhof wurde er von Kopejkin, dem Türkei-Repräsentanten seiner Firma, abgeholt.

      Kopejkin, der 1924 zusammen mit fünfundsechzigtausend anderen Russen in die Türkei gekommen war, hatte sich als Falschspieler, Bordellbetreiber und Uniformlieferant für die türkische Armee durchgeschlagen, bevor er – warum, wusste nur der Chef – den lukrativen Posten bekam, den er gegenwärtig innehatte. Graham mochte diesen rundlichen, lebenslustigen Mann mit den großen Segelohren, der immer gute Laune hatte und außerordentlich gerissen war.

      Enthusiastisch schüttelte er Graham die Hand. »War es eine schlimme Reise? Tut mir sehr leid. Schön, Sie wiederzusehen. Wie sind Sie mit Fethi zurechtgekommen?«

      »Ganz gut. Nach Ihrer Beschreibung hatte ich ihn mir viel schlimmer vorgestellt.«

      »Mein lieber Freund, Sie unterschätzen Ihre gewinnende Art. Er gilt allgemein als schwierig, ist aber ein wichtiger Mann. Hier wird jetzt alles reibungslos gehen. Über das Geschäftliche werden wir bei einem Glas reden. Ich habe Ihnen wie üblich ein Zimmer im Adler Palace reserviert. Für heute Abend habe ich ein Abschiedsessen arrangiert. Auf meine Kosten.«

      »Sehr nett von Ihnen.«

      »Es ist mir eine große Freude, mein Lieber. Anschließend werden wir uns ein wenig amüsieren. Es gibt hier einen Nachtclub, der zur Zeit sehr en vogue ist. Le Jockey Cabaret. Wird Ihnen gefallen. Ganz hübsch eingerichtet, und man trifft dort nur nette Leute. Keinen Nepp. Ist das Ihr Gepäck?«

      Graham sank das Herz. Er hatte zwar damit gerechnet, dass er mit Kopejkin essen würde, sich aber fest vorgenommen, gegen zehn Uhr ein heißes Bad zu nehmen und mit einem Krimi ins Bett zu gehen. Sich im Jockey Cabaret oder sonst einem Nachtclub zu amüsieren, war das Letzte, wonach ihm der Sinn stand. Während sie dem Gepäckträger zu Kopejkins Auto folgten, sagte er: »Vielleicht sollte ich heute Abend früh zu Bett gehen, Kopejkin. Ich habe eine Zugfahrt von vier Tagen und Nächten vor mir.«

      »Mein Freund, es wird Ihnen guttun, noch etwas aufzubleiben. Außerdem fährt Ihr Zug morgen erst um elf Uhr, und ich habe einen Schlafwagenplatz für Sie reserviert. Sie können bis Paris durchschlafen, wenn Sie müde sind.«

      Beim Abendessen im Hotel Pera Palace sprach Kopejkin über den Krieg. Die Sowjets waren für ihn noch immer die »Julimörder« von Nikolaus II., endlos redete er von finnischen Siegen und russischen Niederlagen. Die Deutschen hatten weitere britische Schiffe versenkt und noch mehr U-Boote verloren. Die Holländer, Dänen, Schweden und Norweger vertrauten auf ihre Verteidigungsmaßnahmen. Die Welt rechnete mit einem blutigen Frühjahr. Dann sprachen sie über das Erdbeben. Um halb elf verkündete Kopejkin, dass es Zeit sei, ins Jockey Cabaret aufzubrechen.

      Der Club lag in Beyoğlu, unweit der Grande Rue de Pera, in einer Straße, deren Häuser den Geist eines französischen Architekten der zwanziger Jahre ausstrahlten. Kopejkin nahm ihn freundschaftlich am Arm, als sie eintraten.

      »Es ist sehr nett hier«, sagte er. »Serge, der Besitzer, ist ein Freund von mir. Man wird uns also nicht übers Ohr hauen. Ich werde Sie vorstellen.«

      Für einen Mann seines Typs besaß Graham erstaunlich umfangreiche Kenntnisse von großstädtischem Nachtleben. Aus irgendeinem ihm unverständlichen Grund schienen seine ausländischen Gastgeber davon auszugehen, dass die einzige Form von Unterhaltung, die ein englischer Ingenieur akzeptierte, in eher zweifelhaften Kaschemmen zu suchen war. Solche Etablissements hatte er in Buenos Aires und in Madrid kennengelernt, in Valparaíso und Bukarest, in Rom und Mexiko, und er konnte sich an keines erinnern, das sich von den anderen unterschieden hätte. Er erinnerte sich an die Geschäftspartner, mit denen er bis in den frühen Morgen hinein dagesessen und unerhört teure Sachen getrunken hatte; aber die Bars selbst waren in seiner Erinnerung zum typischen Bild einer verqualmten Souterrainspelunke verschmolzen: auf der einen Seite das Podium für die Kapelle und eine kleine, von Tischen eingerahmte Tanzfläche, auf der anderen Seite ein Bartresen mit Hockern, wo die Getränke angeblich billiger waren.

      Er rechnete nicht damit, dass das Le Jockey Cabaret anders aussehen würde. Er hatte recht.

      Die futuristisch bemalten Wände mit ihren Darstellungen von windschiefen Wolkenkratzern, saxophonspielenden Schwarzen, grünen magischen Augen, Osterinselmasken, Telefonen und aschblonden Hermaphroditen mit langen Zigarettenspitzen schienen die Atmosphäre der Straße widerzuspiegeln. Es war gerammelt voll in dem Lokal und sehr laut. Serge, ein Russe mit scharf geschnittenem Gesicht und grauen Stoppelhaaren, trat so auf, als würden seine Gefühle ständig mit ihm durchgehen. Ein Blick in seine Augen verriet Graham, dass damit aber kaum zu rechnen war. Serge begrüßte sie höflich und führte sie zu einem Tisch neben der Tanzfläche. Kopejkin bestellte eine Flasche Cognac.

      Die Kapelle, die sich mit einem amerikanischen Schlager abquälte, hörte abrupt auf und begann, einen Rumba zu spielen, was ihr mehr lag.

      »Hier ist immer was los«, sagte Kopejkin. »Möchten Sie tanzen? Es gibt jede Menge Mädchen hier. Sagen Sie mir, welche Ihnen gefällt, dann spreche ich mit Serge.«

      »Nein, nein, lassen Sie nur. Ich glaube, ich werde wirklich nicht lange bleiben.«

      »Sie sollten nicht an Ihre Reise denken. Trinken Sie noch einen Cognac, dann fühlen Sie sich besser.« Er stand auf. »Ich werde jetzt mal tanzen und ein nettes Girl für Sie auftreiben.«

      Graham fühlte sich nicht sehr wohl. Er hätte mehr Begeisterung zeigen müssen. Kopejkin bemühte sich schließlich. Es war bestimmt kein Vergnügen für ihn, einen übermüdeten Engländer zu unterhalten, der am liebsten im Bett liegen wollte. Er trank demonstrativ noch etwas Cognac. Immer mehr Gäste kamen. Er sah, wie Serge sie herzlich begrüßte und dann, sobald sie ihm den Rücken zugekehrt hatten, dem zuständigen Kellner verstohlen Anweisungen erteilte – eine kleine Erinnerung daran, dass er und sie nicht zum Vergnügen im Le Jockey Cabaret waren. Er drehte den Kopf zur Seite und sah Kopejkin beim Tanzen zu.

      Das Mädchen war dünn und dunkel und hatte extrem große Zähne. Das rote Satinabendkleid schlotterte ihr am Leib, als wäre es für eine fülligere Frau angefertigt worden. Sie lächelte oft. Kopejkin hielt sie ein wenig auf Abstand und redete die ganze Zeit. Graham fand, dass Kopejkin, trotz seiner Leibesfülle, der einzige Mann auf der Tanzfläche war, der sich völlig ungezwungen bewegte. Da war der ehemalige Bordellbesitzer, der sich in einer vertrauten Atmosphäre befand. Als die Musik aufgehört hatte, brachte er das Mädchen zu ihrem Tisch.

      »Das ist Maria«, sagte er. »Sie kommt aus Ägypten. Sieht man ihr nicht an, was?«

      »Nein.«

      »Sie spricht ein bisschen Französisch.«

       »Enchanté, Mademoiselle.«

      »Monsieur.« Ihre Stimme war überraschend heiser, aber ihr Lächeln war angenehm. Sie war offensichtlich gutmütig.

      »Armes Kindchen!« Kopejkin klang wie eine Gouvernante, die hoffte, ihr Schützling werde sich vor den Gästen nicht danebenbenehmen. »Sie hat gerade eine Halsentzündung auskuriert. Aber sie ist ein nettes Mädchen und hat anständige Manieren. Assieds-toi, Maria!«

      Sie setzte sich neben Graham. »Je prends du champagne«, sagte sie.

      »Oui, mon enfant. Plus tard«, sagte Kopejkin vage. »Sie bekommt Provision, wenn wir Champagner bestellen«, bemerkte er zu Graham und schenkte ihr einen Cognac ein.

      Sie nahm das Glas ohne Kommentar, hob es an die Lippen und sagte: »Skål!«

      »Sie hält Sie für einen Schweden«, sagte Kopejkin.

      »Wie kommt sie denn darauf?«

      »Sie schwärmt für Schweden, also habe ich ihr erzählt, dass Sie ein Schwede sind.« Er lachte. »Sie können nicht behaupten, dass der türkische Repräsentant nichts für die Firma tut.«

      Sie


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