Gesammelte Erzählungen. Jules Verne

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Gesammelte Erzählungen - Jules Verne


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Auf dem Eiland Axel hatten wir ungefähr zweihundertundsiebzig Lieues zur See gemacht, und wir befanden uns über sechshundert Lieues6 von Island entfernt.

      – Gut! Von diesem Punkt ausgehend wollen wir vier Tage Sturm rechnen, während dessen unsere Geschwindigkeit nicht geringer sein konnte, als achtzig Lieues in vierundzwanzig Stunden.

      – Ich denke. Das gäbe also dreihundert Lieues weiter.

      – Ja, und das Meer Lidenbrock mäße also fast sechshundert Lieues von einem Ufer zum andern! Verstehst Du wohl, Axel, daß es an Größe sich mit dem Mittelländischen messen kann?

      – Ja! Zumal wenn wir’s nur der Breite nach gemessen haben!

      – Das ist wohl möglich!

      – Und, merkwürdiger Umstand, fügte ich bei, sind unsere Berechnungen genau, so haben wir jetzt dieses Mittelländische Meer über unserm Kopf.

      – Wirklich!

      – Wirklich, denn wir sind bei neunhundert Lieues von Rykjawik entfernt!

      – Das ist ein hübsches Stück Wegs, lieber Junge; doch ob wir nun vielmehr unter’m Mittelländischen Meer sind, als unter der Türkei oder dem Atlantischen, darüber läßt sich nur dann eine Behauptung aussprechen, wenn wir von unserer Richtung nicht abgekommen sind.

      – Nein, der Wind schien sich gleich zu bleiben; ich denke also, dieses Uferland müsse südöstlich von Gretchen-Hafen liegen.

      – Gut, es ist leicht, sich durch den Kompaß davon zu überzeugen. So wollen wir ihn befragen.«

      Der Professor ging zu den Felsen, worauf Hans die Instrumente niedergelegt hatte. Er war heiter, lustig, rieb sich die Hände! Wahrhaftig wie ein Jüngling! Ich folgte ihm, sehr begierig zu wissen, ob ich in meiner Schätzung nicht irre.

      Als wir an dem Felsen ankamen, nahm mein Oheim den Kompaß, legte ihn horizontal und beobachtete die Nadel, die nach einigem Schwanken in fester Stellung blieb nach Maßgabe des magnetischen Einflusses.

      Mein Oheim schaute, dann rieb er sich die Augen und schaute von Neuem. Endlich wendete er sich voll Erstaunen nach mir hin.

      »Was ist vor?« fragte ich.

      Er deutete mir an, das Instrument zu untersuchen. Es entfuhr mir ein Ausdruck der Überraschung. Die Nadel zeigte Norden da, wo wir Süden vermuteten! Sie drehte sich nach dem Ufer zu, anstatt aufs volle Meer hinzuweisen!

      Ich schüttelte den Kompaß, untersuchte ihn; er war in vollkommenem Zustand. In welche Lage man die Nadel bringen mochte, sie nahm hartnäckig die unerwartete Richtung.

      Also, es war kein Zweifel mehr – während des Sturms war der Wind umgeschlagen, was wir nicht bemerkt hatten, und hatte das Floß nach dem Ufer zurückgeführt, welches mein Oheim hinter sich zu lassen meinte.

      6 2700 Kilometer

      Siebenunddreißigstes Kapitel

      Ein Gebeinfeld

      Die wechselnden Gefühle, welche den Professor Lidenbrock peinigten, Bestürzung, Unglauben und endlich Zorn, kann ich unmöglich schildern. Nie hab’ ich einen Menschen so haltungslos anfangs, dann so gereizt gesehen. Die Beschwerden der Überfahrt, die bestandenen Gefahren, alles war von Neuem vorzunehmen! Wir waren rückwärts, anstatt voran gekommen.

      Aber mein Oheim gewann rasch wieder die Oberhand.

      »Ah! Was für einen Streich hat mir das Verhängniß gespielt! Die Elemente verschwören sich wider mich! die Luft, das Feuer und Wasser vereinigen ihre Kräfte, meine Fahrt zu hindern! Nun gut! Man soll erfahren, was meine Willenskraft vermag. Ich werde nicht nachgeben, nicht eine Linie weit zurückweichen, und wir werden sehen, wer die Oberhand bekommen wird, der Mensch oder die Natur!«

      Auf dem Felsen stehend, gereizt, drohend schien Otto Lidenbrock gleich dem wilden Ajax die Götter herauszufordern. Aber ich hielt für angemessen, mich ins Mittel zu legen, um den unsinnigen Jähzorn zu zügeln.

      »Hören Sie mich an, sagte ich zu ihm in festem Ton. Jeder Ehrgeiz hat hienieden seine Grenzen; gegen das Unmögliche soll man nicht ankämpfen; für eine Seereise sind wir zu schlecht ausgerüstet; fünfhundert Lieues macht man nicht auf einem schlechten Gebund Balken mit einer Bettdecke anstatt Segel, einer Stange anstatt des Masts, und den entfesselten Winden gegenüber. Wir können nicht das Fahrzeug lenken, sind ein Spielball der Stürme: es wäre Narrheit zum zweiten Male diese unmögliche Überfahrt zu versuchen!«

      Zehn Minuten lang konnte ich solche unwiderlegbare Gründe der Reihe nach anführen, ohne unterbrochen zu werden, aber das kam einzig von der Unaufmerksamkeit des Professors, der kein Wort meiner Beweisführung hörte.

      »Zum Floß!« rief er.

      Dies war seine Antwort. Ich mochte tun, was ich wollte, bitten, zornig werden, ich stieß wider einen Willen, der härter war als Granit.

      Hans war eben mit der Ausbesserung des Floßes fertig geworden. Man hätte meinen können, der seltsame Mensch habe eine Ahnung von den Projekten meines Oheims. Mit einigen Stücken Surtarbrandur hatte er das Fahrzeug wieder fest gemacht. Ein Segel war schon wieder aufgesteckt und der Wind spielte in seinen wallenden Falten.

      Der Professor sagte dem Führer einige Worte, und sogleich brachte dieser das Gepäck an Bord und machte alles zur Abfahrt fertig. Die Atmosphäre war ziemlich rein und der Wind hielt sich gut aus Nordwest.

      Was konnte ich machen? Allein mich zweien widersetzen? Unmöglich. Wäre nur Hans auf meiner Seite gewesen. Aber nein. Es schien, als habe der Isländer allen persönlichen Willen aufgegeben und ein Gelübde der Selbstverleugnung getan. Von einem Diener, der so seinem Herrn leibeigen war, konnte ich nichts erlangen. Ich mußte mit vorwärts.

      Ich war also im Begriff meinen gewohnten Platz auf dem Floß einzunehmen, als mein Oheim mich mit der Hand anhielt.

      »Wir fahren erst morgen ab«, sagte er.

      Ich machte eine Bewegung, wie Einer, der sich in alles ergibt.

      »Ich darf nichts versäumen, fuhr er fort, und weil das Verhängniß mich auf diese Seite der Küste getrieben hat, so will ich sie erst untersuchen, ehe ich sie verlasse.«

      Diese Bemerkung wird man verstehen, wenn man weiß, daß wir zwar an die Nordküste zurückgekommen waren, aber nicht an die nämliche Stelle, wo wir früher abfuhren. Gretchen-Hafen mußte westlicher liegen. Also nichts natürlicher, als die Umgebung, wo wir ans Land getrieben waren, sorgfältig zu untersuchen.

      »So wollen wir auf Entdeckungen ausgehen!« sagte ich. Wir ließen Hans bei seiner Arbeit und machten einen Ausflug. Der Raum zwischen unserem Ruheplatz am Meer und dem Fuß der Vorberge war sehr weit; man konnte eine halbe Stunde gehen, bis man an die Felsenwand kam. Unsere Füße zertraten unzählige Muscheln von allen Formen und Größen, worin die Tiere der ersten Epoche gelebt hatten. Ich bemerkte auch enorme Schildkrötendecken, deren Durchmesser oft über fünfzehn Fuß betrug. Sie gehörten den riesenhaften Glyptodons der Urzeit an. Außerdem war der Boden mit einer großen Menge von Steintrümmern bedeckt, eine Art Steinkiesel, die von den Wellen abgerundet und reihenweise ans Ufer geschichtet waren. Ich wurde dadurch auf die Bemerkung geleitet, daß das Meer ehemals diesen Raum bedeckt haben müsse. Auf den zerstreuten Felsen, welche jetzt außer Berührung mit dem Meere sind, hatten die Fluten deutliche Spuren gelassen.

      Dies konnte bis auf einen gewissen Punkt das Dasein dieses Meeres vierzig Lieues unter der Erdoberfläche erklären. Aber, meiner Ansicht nach, mußte diese Masse sich allmälig im Innern der Erde verlieren, und sie kam offenbar aus den Gewässern des Ozeans her, welche durch irgendeine Spalte eindrangen. Doch mußte man annehmen, daß diese Spalte gegenwärtig verstopft sei, denn sonst würde diese Höhle, oder besser dieser ungeheure Behälter, in ziemlich kurzer Zeit angefüllt worden sein. Vielleicht auch ist dieses Wasser, indem es gegen unterirdische Feuer zu kämpfen hatte, zum Teil verdünstet. Daher die über unserem Kopf schwebenden Wolken und die Entwickelung der Elektrizität, welche im Innern des Erdkerns Gewitter erzeugte.


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