Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr. Timon Krause

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Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr - Timon Krause


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in unseren Ländern gefährden, durch Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, durch stetig zunehmende Kinder- und Altersarmut und durch den wachsenden Zustrom von Kriegs- und Elendsflüchtlingen. Die Staaten Südeuropas, allen voran Griechenland, können ein bitteres Lied von den Auswirkungen der starr auf Haushaltsdisziplin getrimmten EU-Politik singen – Sozialleistungen, Renten, Gesundheitswesen, öffentliche Infrastruktur, überall wurde die durchschnittliche Bevölkerung geschröpft, um dem Diktat der Troika nachzukommen, während die großen Kapitaleigner ungeschoren davon kamen.10

      Wir müssen uns so schnell es nur geht an den Gedanken gewöhnen, dass dauerhaftes Wachstum und stetig zunehmender Reichtum nicht nur nicht möglich, sondern größtenteils widernatürlich und gefährlich sind, allen Hoffnungen auf anstehende technologische Quantensprünge und allen wohlklingenden Konzepten eines „Green New Deals“ zum Trotz. Wir müssen selbstkritisch sein und alte Gewohnheiten in Frage stellen.11 Wie gesagt: Nichts ist umsonst – irgendwer muss am Ende die Zeche zahlen.

      Um die Demaskierung aber auch konstruktiv und ermutigend anzutreiben, möchte ich die Behauptung, alles habe seinen Preis, noch einmal anders formulieren: Alles zählt! Auch wenn uns unser Einfluss global gesehen verschwindend vorkommen mag: er ist es nicht, und jede unserer Handlungen hat Konsequenzen, negative wie auch positive! Dazu ein unverfängliches Beispiel: Man stelle sich vor, einem langjährigen Kettenraucher gelingt es, von seiner Sucht loszukommen. Mit den Schachteln, die er im ersten Jahr nach seiner letzten Zigarette gespart hat, könnte er ein ganzes Zimmer seiner Wohnung tapezieren, mit dem Geld einen neuen Laptop oder ein neues Fahrrad kaufen. Tausende Zigarettenkippen weniger belasten das Grundwasser und verschandeln das Stadtbild. Tausende von Euro weniger fließen in ein Unternehmen, das mit der Sucht und Krankheit von Millionen von Menschen seinen Profit macht und die Gesundheitsbudgets weltweit belastet. Tausende von Euro, angesichts des Milliardenumsatzes der Tabakindustrie ein Witz, oder? Aber unser Nichtraucher wird womöglich anderen Rauchern zum Vorbild; der Sieg über seine Sucht findet im Bekanntenkreis Nachahmer, womöglich hält er eines Tages Seminare für Menschen, die sich das Rauchen ebenfalls abgewöhnen wollen – und wird er nicht seinen eigenen Kindern ein gutes Vorbild sein? Außerdem bleiben die unsichtbaren Folgen seines Verzichtes wie bei jeder präventiven Maßnahme zwar verborgen, ohne jedoch weniger wertvoll zu sein: Die Schäden seiner Umwelt durchs Passivrauchen und die Möglichkeit, als Raucher selbst an Krebs zu erkranken, sinken. Je weniger Menschen mit einer Kippe in der Raucherecke stehen, desto unattraktiver wird diese Situation für alle noch verbliebenen Raucherinnen und Raucher. Kurz gesagt: Jede positive Veränderung geht über den veränderten Umstand selbst hinaus, zieht Kreise, schlägt Wellen, und summiert sich im Laufe der Zeit zu einem immer gewichtigeren Baustein in einem großen Mosaik auf. Und vor allem kann sie Signalwirkung haben. Um tiefgreifende Veränderungen zu erreichen, braucht es nach dem Sozialpsychologen Prof. Harald Welzer drei bis fünf Prozent einer Gesellschaft, die vorangehen und die erforderliche Vorbildfunktion einnehmen.[4] Drei bis fünf Prozent: In dieser Rechnung erhalten die Auswirkungen unserer individuellen Handlungen sofort eine andere Gewichtung.

      Die Grenzen zwischen Privatem und Allgemeinheit sind fließend. Die erste Familie in einer europäischen Kleinstadt, die begann, Solarzellen auf ihrem Hausdach zu installieren, regte vermutlich den einen oder anderen Nachbarn an, es ihr gleichzutun. Mit einem Mal sparte das Stadtviertel monatlich mehrere Tonnen CO2 ein und machte sich ein Stück weit frei von den börsennotierten Energieriesen, die es mit Umweltpolitik erst dann genauer nehmen, wenn ihnen politisch die Pistole auf die Brust gesetzt wird. Der Verzicht Einzelner auf exzessiven Fleischkonsum oder der Erwerb fleischloser Alternativen regt andere Mitmenschen womöglich zum Nachdenken an. Und spätestens, wenn sich Menschen in Initiativen und Organisationen zusammentun, um etwas fürs Allgemeinwohl zu tun, vervielfacht sich die Macht der Einzelnen. Es mag oft unsexy erscheinen, sich für Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit zu engagieren, aber niemand kann behaupten, dass die Auswirkungen dieses Engagements nicht wünschenswert seien – oder vermisst etwa irgendwer FCKW, das für die Zerstörung der schützenden Ozonschicht in unserer Atmosphäre verantwortlich war, und das ohne den hartnäckigen Einsatz von Umweltschutzorganisationen womöglich heute noch im Einsatz wäre? Oder missgönnen wir den zahlreichen Angestellten in Billiglohnverhältnissen in unserem Land die Einführung eines Mindesteinkommens? Es behaupte niemand, Einzelne könnten nichts bewirken. Alles zählt! Jede Entscheidung, auch jeder zaghafte Versuch, kann Auswirkungen haben, womöglich Konsequenzen nach sich ziehen, die nur auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind. Viele Einzelne haben schon ihre Vereine, ihre Kirchengemeinden, ja manchmal sogar ihre Firma verändert, weil sie die Leitenden überzeugen konnten, mit etwas Aufwand große Verbesserungen für die Allgemeinheit erreichen zu können. Und als Konsumenten müssen wir uns zunächst nur der verwirrenden Vielfalt an Alternativen zu den marktbeherrschenden Unternehmen stellen. Das ist vielleicht unbequem, aber es ist mit Sicherheit nicht unmöglich.

      Fakt ist natürlich, dies geht nur auf Kosten unserer Zeit. Was im Umkehrschluss heißt: Ja, in erster Linie aus Zeitgründen bestellen wir alles bei jenem großen Onlinelieferanten, der leider auch für Lohndumping und die skandalöse Praxis, neuwertige Retourware teilweise aus Kostengründen zu vernichten, bekannt ist. Nähmen sich nur genug Menschen die Zeit für die entsprechende Recherche nach Alternativen, oder vielleicht auch einfach für den Einkauf im nächstgelegenen Fachgeschäft, wäre besagter Großhändler vielleicht bald nicht mehr der Monopolist, zu dem wir ihn gemacht haben. Aber dies nur am Rande.

      Alles zählt, auch der eine oder andere Euro mehr, den wir bereit sind, in Produkte zu investieren, über deren Hintergründe wir Bescheid wissen: Möbelstücke aus zertifiziertem Holz, Kleidungsstücke aus kontrollierter Fertigung, Finanzprodukte, die ethisch vertretbar angelegt werden, Lebensmittel aus der Region, in der wir leben. Wer oder was hindert uns noch daran, eine konsequente, umfassende Umkehr in Angriff zu nehmen?

      7 Der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes, einer Nähfabrik in Dhaka, Bangladesch, der über 1000 Menschenleben forderte, gilt als Paradebeispiel für die ausbeuterischen Verhältnisse, für die westliche Firmen und Konsumenten in der Dritten Welt verantwortlich sind. Seit der Katastrophe im Jahr 2013 wurde allerdings viel verbessert: Gerade in Bangladesch wurden die Arbeitnehmerrechte und Schutzstandards deutlich angehoben, die Gehälter gesteigert, sogar wirksame Umweltschutzstandards erlassen. Nicht übersehen werden darf dabei allerdings, dass neben den weiterhin problematischen Bereichen in den klassischen Produktionsländern der Textilindustrie (Korruption bei der Überwachung der angehobenen Standards, zahlreiche kleinere, mitunter gar nicht kontrollierte Betriebe, …) selbige nun einfach auf andere Länder (beispielsweise Äthiopien) ausweicht, die noch nicht im Blick der kritischen Weltöffentlichkeit stehen und wo Arbeitnehmervertretungen schwach ausgeprägt sind.[1]

      8 Viele exklusive Modelabels lassen übrigens unter ebenso unmenschlichen Arbeitsbedingungen produzieren wie die Billiganbieter, von denen manche den Premium-Marken in Sachen Ethik- und Nachhaltigkeitsstandards mittlerweile sogar einige Schritte voraus sind.

      9 Die Kritik an den verschiedenen Freihandelsabkommen, welche die EU mit unterschiedlichen Nationen bzw. Wirtschaftsräumen seit Jahren vorantreibt, ist zuletzt wieder in den Hintergrund getreten – an Aktualität hat sie allerdings nichts verloren: Supranationale Schiedsgerichte, die gigantische Klagen gegen Staaten zwecks „Investitionsschutz“ von Unternehmen ermöglichen, Aushöhlung von Gesundheits- und Arbeitnehmerstandards, geheim verhandelt oder mit diplomatischen Winkelzügen an der Nationalparlamenten vorbei auf den Weg gebracht. Zudem werden die Eckwerte oftmals stark einseitig diktiert; gerade afrikanische Nationen können den von den Europäern geforderten Bedingungen wenig entgegensetzen. Freihandel im eigentlichen Sinne des Wortes sähe anders aus. Am Ende zahlen die Steuerzahler in den Industrienationen und die Arbeiter in den „Juniorpartner-Ländern“ die Zeche.[2]

      10 Erwiesenermaßen hat die von Deutschland angeführte Sparpolitik die Wirtschaftskrise im Süden Europas verschärft. Leidtragend ist vor allem die einfache Bevölkerung in Ländern wie Griechenland: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist auf über 70% gestiegen, bei etwa 25% Gesamtarbeitslosigkeit; in der Zeit seit Ausbruch der Krise sind die Renten bereits 13 (!) mal gekürzt worden; die öffentlichen Ausgaben im Gesundheitssektor zwischen 2009 und 2016 wurden halbiert, 54 der 137 Krankenhäuser geschlossen. Saniert wurden stattdessen die Banken – auf Kosten der


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