Formen der Verstörung. Lydia Davis

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Formen der Verstörung - Lydia  Davis


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der Stadt wegzuziehen. Dann entschloss ich mich aber doch zu bleiben, freilich: wie ein Entschluss kam mir das einfache Auf-dem-Balkon-liegen-Bleiben nicht vor. Zu solchen Zeiten bin ich vor Unentschlossenheit wie gelähmt, und gleichzeitig klopfen die Gedanken in meinem Schädel wie verrückt – wie eine Libelle, die reglos in der Luft zu hängen scheint, mit ihren Flügeln aber wie toll gegen die stetige Brise ankämpft. Dann riss ich mich heraus, so wie ein fremder Mensch einen fremden Menschen aus dem Bett zerrt.

      Die Tatsache, dass ich das Essen sorgfältig plante, war wahrscheinlich bedeutungslos. Ich wollte etwas Bekömmliches kochen, weil sie zu Kräften kommen musste. Ich erinnere mich, dass ich frühmorgens die Champignons suchte und zwischen Bäumen herumkroch – direkt unter den Blicken zweier ältlicher Schwestern, denen ich oder mein Korb zutiefst missfiel. Oder vielleicht missfiel ich ihnen auch deshalb, weil ich im Wald einen guten Anzug trug. Aber ihr Beifall hätte auch keinen Unterschied gemacht.

      Als die Stunde dann da war, fürchtete ich kurz, dass sie nicht kommen würde, anstatt – wozu mehr Anlass bestand – zu fürchten, dass sie tatsächlich kommen könnte. Zunächst hatte sie gesagt, sie würde vielleicht nicht kommen. Seltsam, dass sie das getan hat. Ich kam mir vor wie ein Laufbursch, der nicht mehr laufen kann, sich aber immer noch auf irgendeine Anstellung Hoffnungen machte.

      Genau so wie ein sehr kleines Tier, das auf dem Waldboden unter Blättern und Zweigen aus Angst einen Riesenlärm und einen Mordswirbel macht und zu seinem Loch eilt, oder sogar wenn es keine Angst hat, sondern bloß Nüsse sucht, so dass man meinen könnte, ein Bär würde gleich auf die Lichtung hinaus preschen, während es sich doch bloß um eine Maus handelt – das entsprach genau meinem Gefühlszustand: so klein und doch so laut. Ich bat sie, komm doch bitte nicht zum Essen, aber dann sagte ich, sie solle doch bitte nicht auf mich hören, sondern trotzdem kommen. Unsere Worte sind so oft die irgendeines unbekannten Wesens, eines Alien. Ich glaube keinen Reden mehr, noch in der schönsten ist ein Wurm.

      Einmal, als wir zusammen in einem Restaurant zu Abend aßen, schämte ich mich wegen des Essens so sehr, als hätte ich es selbst gekocht. Der erste Gang verdarb uns den Appetit für alles Weitere, selbst wenn es essenswert gewesen wäre: fette, weiße Leberknödel, die in einer dünnen, mit Fettaugen gesprenkelten Brühe schwammen. Das war zweifellos ein deutsches Gericht, eher jedenfalls als ein tschechisches. Aber weshalb auch sollte es etwas Komplizierteres zwischen uns geben als still nebeneinander in einem Park zu sitzen und einem Kolibri zuzuschauen, der von den Petunien in die Krone einer Birke aufsteigt, um darin auszuruhn?

      Am Abend unseres Essens sagte ich mir, dass ich, sollte sie nicht kommen, die Leere der Wohnung genießen wollte, denn wenn es für das Leben selbst notwendig ist, allein in einem Zimmer zu sein, so ist es für das Glück notwendig, allein in einer Wohnung zu sein. Man hatte mir die Wohnung für diesen Anlass leihweise überlassen. Aber ich hatte das Glück der leeren Wohnung noch nicht ausgekostet. Es ist vielleicht gar nicht die Leere der Wohnung, die mir so gut tut, oder nicht hauptsächlich sie, sondern der Besitz zweier Wohnungen überhaupt. Sie kam dann aber doch, wenn auch verspätet. Sie erklärte mir, sie habe sich verspätet, weil sie mit einem Mann hatte sprechen wollen und warten musste, der seinerseits schon ungeduldig auf das Ende einer Debatte um die Eröffnung eines neuen Kabaretts wartete. Ich glaubte ihr nicht.

      Als sie zur Tür hereinkam, war ich beinahe enttäuscht. Sie wäre so viel glücklicher gewesen, hätte sie mit einem anderen Mann zu Abend gegessen. Sie hatte mir eigentlich eine Blume bringen wollen, erschien aber ohne. Und doch erfüllte mich, allein weil ich mit ihr zusammen war, eine solche Glückseligkeit – wegen ihrer Liebe und ihrer Freundlichkeit, die so hell und heiter war wie das Summen einer Fliege auf dem Zweig einer Linde.

      Obwohl wir uns unbehaglich fühlten, machten wir mit Essen weiter. Als ich in die leere Schüssel starrte, klagte ich über meine Schwäche, klagte ich über das Geborenwerden, klagte ich über das Licht der Sonne. Wir aßen etwas, das leidigerweise nicht von unseren Tellern verschwinden wollte, es sei denn, wir schluckten es. Ich war gerührt und zugleich beschämt, glücklich und zugleich traurig, weil sie offensichtlich mit Genuss aß – beschämt und traurig einzig deshalb, weil ich ihr nichts Besseres zu bieten hatte, gerührt und glücklich, weil offenbar genügend da war, zumindest dieses eine Mal. Es war bloß die gütige und liebenswerte Art, mit der sie jede einzelne Speise dieses Menüs verzehrte, und die Feinfühligkeit ihrer Komplimente, die ihm Wert verliehen – es war nämlich grottenschlecht. Sie hätte an seiner Stelle wirklich irgendsowas wie gebackene Scholle oder Fasanenbrust mit Fruchteis und Obst aus Spanien verdient. Hätte ich ihr denn nicht so etwas auftischen können?

      Und als ihre Komplimente zögerlicher wurden, wurde die Sprache selbst für sie geschmeidig und schöner, als man mit Recht erwarten durfte. Hätte ein ahnungsloser Fremder Felice reden gehört, hätte er gedacht: Was für ein Mann! Er muss Berge versetzt haben! – und dabei tat ich nichts, als die Kascha nach Ottlas Anweisungen zuzubereiten. Ich hoffte, dass sie, nachdem sie gegangen war, einen Platz finden würde, irgendwo in einem Garten im Halbschatten, in dem sie sich in einen Liegestuhl legen und ausruhen konnte. Was mich betrifft: Dieser Krug war zerbrochen – schon lange ehe er zum Brunnen ging.

      Und dann noch dieser Vorfall. Erst als ihre Füße direkt vor meinen Augen waren, wurde mir bewusst, dass ich kniete. Überall auf dem Teppich waren Schnecken, und überall roch es nach Knoblauch.

      Kann sein, dass wir uns trotzdem gleich nach dem Essen am Tisch an die Lösung kniffliger arithmetischer Aufgaben machten – ich erinnere mich nicht, kurze Additionen und dann lange, während ich zum Fenster hinaus und zum Gebäude auf der anderen Straßenseite hinüberschaute. Vielleicht hätten wir auch zusammen Musik gemacht, aber ich bin unmusikalisch.

      Unsere Unterhaltung war stockend und holprig. In meiner Nervosität schweifte ich immerzu sinnlos ab. Schließlich sagte ich, ich hätte mich verrannt, aber das machte nichts, denn wenn sie so ein weites Stück des Wegs mit mir gegangen war, dann waren wir beide verloren. Es gab so viele Missverständnisse, selbst wenn ich bei der Sache blieb. Und doch hätte sie nicht befürchten müssen, dass ich wütend auf sie sei, sondern im Gegenteil: dass ich es nicht war.

      Sie dachte, ich hätte eine Tante Klara. Es stimmt, ich habe eine Tante Klara, natürlich hat jeder Jude eine Tante Klara, aber die meine ist schon lange tot. Sie sagte, die ihre sei etwas merkwürdig und neige dazu, Erklärungen abzugeben, zum Beispiel, dass man seine Briefe richtig frankieren und nichts zum Fenster hinauswerfen soll, lauter unanfechtbare Dinge, aber nicht einfach. Wir sprachen über die Deutschen. Sie hasst die Deutschen so sehr, aber ich sagte ihr, die Deutschen sollte sie nicht gar so sehr hassen, die Deutschen sind wunderbar. Vielleicht war es – heilige Eitelkeit! – ein Fehler, damit zu prahlen, ich hätte unlängst eine Stunde und mehr Holz gehackt. Ich fand, sie sollte mir dankbar sein – immerhin widerstand ich der Versuchung, etwas Unfreundliches zu sagen.

      Noch ein Missverständnis, und sie würde aufstehen und gehen. Wir versuchten auf jede mögliche Art und Weise zu sagen, was wir dachten, aber in diesem Augenblick waren wir ja keine Liebenden, sondern bloß Grammatiker. Selbst Tiere lassen alle Vorsicht fahren, wenn sie miteinander streiten: Eichhörnchen rennen wie verrückt über eine Wiese oder Straße und zurück und vergessen ganz, dass Raubtiere in der Nähe sein könnten, die sie beobachten. Ich erklärte ihr, das Einzige, was mir daran gefiele, wenn sie wieder gehen sollte, wäre der Abschiedskuss. Sie versicherte mir, dass es, obwohl wir im Zorn auseinandergingen, bis zum nächsten Wiedersehen nicht lange hin sein würde, aber für mich in meinem Kopf bedeutete ›bald‹ anstatt ›nie mehr‹ trotzdem nur ›nie mehr‹. Dann ging sie.

      Durch diesen Verlust war ich sogar noch mehr Robinson als Robinson selbst – er hatte wenigstens noch die Insel und Freitag, seine Vorräte, seine Ziegen, das Schiff, das ihn holte, seinen Namen. Aber was mich anging, so stellte ich mir vor, von einem Chefarzt zwischen die Knie genommen zu werden und an den Fleischklumpen zu würgen, die er mir mit den Karbolfingern in den Mund stopft und dann entlang der Gurgel hinunterdrückt.

      Der Abend war vorbei. Eine Göttin ging aus dem Kino, und ein kleiner Gepäckträger stand verlassen auf dem Perron – und das sollte unser Abendessen gewesen sein? Schmutzig bin ich – darum mache ich ein solches Geschrei um Reinheit. Niemand singt so rein, als die, welche in der tiefsten Hölle sind – was wir für den Gesang der Engel


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