Schweiz – Europäische Union: Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug. Matthias Oesch

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Schweiz – Europäische Union: Grundlagen, Bilaterale Abkommen, Autonomer Nachvollzug - Matthias Oesch


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Sie sind Teil des europäischen Verwaltungsverbunds (E. Schmidt-Assmann, S. 1; s. zu diesem Label auch BVerfGE 140, 317 [338] – Identitätskontrolle), wobei dieser Verbund durch die Beteiligung von Drittstaaten über die EU hinaus erweitert wird und paneuropäische Dimensionen annimmt. Aktuell beteiligt sich die Schweiz an der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA), an der Europäischen Umweltagentur (EUA) und am Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz (Eionet), an der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), am Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), an Europol und Eurojust, an den Satellitennavigationsprogrammen Galileo und EGNOS und an Forschungsprogrammen (s. zum Ganzen Agenturbericht, passim; M. Oesch/A. Lang, S. 135-139; C. Tobler, IT-Agentur, Rz. 53-72). Ergänzend pflegt die Schweiz mit weiteren Agenturen und Einrichtungen lose, unterschiedlich weitgehende Formen der Zusammenarbeit (fachlicher Austausch, Beobachterstatus); dazu gehören das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM), die Europäische Verteidigungsagentur (EVA), die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA), die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Auf diese Weise erhält die Schweiz Zugang zu einschlägigen Gremien und Netzwerken. Sie profitiert von Vorarbeiten und kann mit eigenen Beiträgen Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen. Zeitweise besitzen diese Agenturen die Befugnis, für die Schweiz verbindliche Entscheide zu treffen; dies gilt etwa für die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA).

      Die Beteiligung der Schweiz an unionalen Einrichtungen ist auch eine Folge davon, dass sich das Umfeld für die intergouvernementale Zusammenarbeit in Europa in den letzten zwei Jahrzehnten verändert hat. Die Tätigkeiten und Aufgaben von internationalen Organisationen und informellen Foren wurden vermehrt auf Einrichtungen der EU übertragen und damit gleichsam «vergemeinschaftet» bzw. «unionalisiert». Beispiele dafür sind die Joint Aviation Authorities (JAA), welche zur Harmonisierung der in Europa geltenden Vorschriften im Bereich der technischen und operationellen Flugsicherheit beitrugen, und der informelle und ad hoc orchestrierte Informationsaustausch zwischen europäischen Staaten zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Diese Aufgaben werden heute im Wesentlichen durch die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) und das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC; s. zu den Verhandlungen über eine Beteiligung der Schweiz N. 35) wahrgenommen; die EASA und das ECDC sind Agenturen der EU. Die Integration von europäischen Organisationen und informellen Netzwerken in den EU-Rechtsrahmen und die damit einhergehende Formalisierung und Verrechtlichung führen dazu, dass die Beteiligung von Drittstaaten grundsätzlich in Frage gestellt wird und nurmehr unter klar definierten Vorgaben – und ohne Stimmrecht – im Angebot ist (Agenturbericht, S. 2-3; S. Lavenex/R. Schwok, S. 44).

      Die EU ermöglicht der Schweiz, sich bei der Vorbereitung neuer EU-Rechtsakte im Anwendungsbereich der bilateralen Abkommen zu beteiligen und den Inhalt mitzugestalten (N. 94). Expertinnen und Experten aus der Schweiz tauschen sich in Arbeitsgruppen, Ausschüssen und weiteren – auch informellen – Netzwerken mit den Kolleginnen und Kollegen der EU-Eigenverwaltung und der Verwaltungen der EU-Mitgliedstaaten aus (proposal shaping), verfügen in aller Regel aber über kein Stimmrecht (decision making).

      Der Einfluss der Schweiz hängt wesentlich von der Qualität und Überzeugungskraft der Argumente ab (power of the pen). Diese fallen umso eher auf fruchtbaren Boden, je technischer eine Materie ist. Umgekehrt verfügen Äusserungen eines «Passivmitglieds» zwangsläufig über weniger Gewicht als Einwürfe von «Aktivmitgliedern», wenn politisch umstrittene Grundsatzfragen debattiert werden. Das ist für die Schweiz nachteilig, auch wenn die meisten Entscheidungen in solchen unionalen Gremien im Konsens getroffen werden (Agenturbericht, S. 46, 51, 106; Bericht Schengen 2013, S. 6334). Entsprechend essentiell ist, dass die Schweiz ihre Mittel möglichst effektiv einsetzt und sich mit anderen Staaten, deren Interessen gleichlaufen, verbündet.

      Insgesamt wirkt die Schweiz damit punktuell in mitgliedstaatsähnlicher Weise im europäischen Staatenverbund (s. zu diesem Label BVerfGE 89, 155 [181] – Maastricht) mit. Politisch bleibt die Schweiz eine Aussenseiterin und ist für Mitwirkungsrechte auf das Entgegenkommen der EU angewiesen; funktional ist sie eng eingebunden – deutlich enger als dies prima vista und allein mit Blick auf die klassisch völkerrechtlich ausgestalteten Vertragsbeziehungen aussehen mag (S. Lavenex/R. Schwok, S. 49). Dabei verändert die Mitwirkung in den unionalen Agentur- und Programmverwaltungen sowie bei der Vorbereitung neuer EU-Rechtsakte den tradierten Integrationsmodus der Schweiz (J. Saurer, S. 428). Die traditionelle Politik des Bilateralismus trägt reaktive Züge. Die EU bestimmt Rhythmus und Themen. Die Schweiz folgt hintenan nach. Sie übernimmt passiv «fertiges» EU-Recht, sei es im Rahmen des Abschlusses und der Weiterentwicklung bilateraler Abkommen, sei es im Rahmen des autonomen Nachvollzugs. Demgegenüber verlangt die Mitarbeit in unionalen Gremien eine proaktive und konstruktive Mitwirkung – verbunden mit der Verpflichtung, (Mit-) Verantwortung für die Politikgestaltung im paneuropäischen Kontext zu übernehmen.

      3

      Introvertierte Verfassungstradition

      Die Bundesverfassung atmet einen weltoffenen und völkerrechtsfreundlichen Geist (vgl. auch A. Auer/G. Malinverni/M. Hottelier, Rz. 31; G. Biaggini, Öffnung, S. 965). Sie verpflichtet den Bund, «in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt» zu handeln (Präambel), sich «für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung» einzusetzen (Art. 2 BV), «zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen» beizutragen (Art. 54 BV) und «die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland» zu wahren (Art. 101 BV). Diese Zielbestimmungen geben der Aussenpolitik – verbindlich, wenngleich offen formuliert und konkretisierungsbedürftig – inhaltlich die Richtung vor. Der Grundrechtekatalog beruht wesentlich auf der EMRK, welche auf diese Weise «konstitutionalisiert» wurde (G. Biaggini, Verhältnis, S. 727). Die Aussenverfassung regelt die kompetenziellen Fragen (Art. 54-56, Art. 140-141, Art. 166 und Art. 184 BV). Das Staatsvertragsreferendum – 1921 eingeführt, 1977 erstmals erweitert – wurde 2003 als Reaktion auf den fortschreitenden Prozess der Globalisierung und Europäisierung des Rechts weiter ausgebaut mit dem Ziel, die direkt-demokratische Legitimierung völkerrechtlicher Verträge sicherzustellen (s. zur demokratischen Legitimation der bilateralen Abkommen N. 59-68). Die Völkerrechtsfreundlichkeit wird durch die Verpflichtung zur Beachtung des Völkerrechts durch Bund und Kantone betont (Art. 5 BV). Diese Vorgaben gelten allesamt auch bei der Gestaltung der Beziehungen der Schweiz zur EU. Beachtenswert ist, dass der Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften dem obligatorischen Referendum untersteht, womit die Tür auch für einen EU-Beitritt verfassungsrechtlich offensteht (Art. 140 BV).

      Das BGer hat das Verhältnis von Völker- und Landesrecht weiter ausdifferenziert. Eine reichhaltige Praxis besteht dabei auch zur Geltung und zum Rang der bilateralen Abkommen im schweizerischen Recht, zur Auslegung des schweizerischen Rechts im Licht der bilateralen Abkommen sowie zu ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit (N. 50-58).

      Gleichzeitig schweigt sich die Bundesverfassung über die Bedeutung der Einbindung der Schweiz in globale und regionale Organisationen und Vertragswerke und die damit einhergehenden Interdependenzen und Abhängigkeiten weitgehend aus. Die einzige internationale Organisation, welche namentlich erwähnt wird, ist die UNO. Der durch eine Volksinitiative angestossene Beitritt der Schweiz zur UNO von 2002 hat es immerhin in die Übergangsbestimmungen geschafft (Art. 197 Ziff. 1 BV). Dieses verzerrte Bild ist bedauerlich und der Orientierungsfunktion der Bundesverfassung abträglich (s. dazu auch A.R. Ziegler/K. Odendahl, Rz. 39; G. Biaggini, Öffnung, S. 969). Gleichzeitig ändert dieser blinde Fleck der Verfassung nichts an der grundlegend konstitutiven Bedeutung, welche Organisationen und Regelwerke wie die WTO, die OECD, die UNO-Pakte I und II und andere Menschenrechtskonventionen für die jeweiligen Politikbereiche in der Schweiz haben.

      Der Befund der Verfassungsblindheit gilt ebenso für die Beteiligung der Schweiz am europäischen Integrationsprozess. Die Leserin und der Leser suchen die Begriffe Europa, EU, EFTA, bilaterale Abkommen, Europarat und EMRK in der Bundesverfassung vergeblich. Es besteht ein Widerspruch zur gelebten (Verfassungs-) Wirklichkeit, der sich mit jedem weiteren Integrationsschritt


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