Wertschätzende Organisationsentwicklung. David Schneider
Читать онлайн книгу.positive Erfahrungen initiiert und die alten Autobahnen durch alternative Wege ergänzt werden.
Das erfolgreiche Umsetzen eines Bedürfnisses wird neuronal mit einem euphorischen Gefühl belohnt − es verstärkt innere Handlungsimpulse und erzeugt Lust, dort weiterzumachen, wo bereits etwas aus eigener Anstrengung gelungen ist. Eine selbstbestimmte Lösungsfindung als handelndes Subjekt erzeugt Begeisterung und Freude. Freigesetzte Botenstoffe regen den Ausbau der Nervenzellverknüpfungen an, in deren Folge wir immer schneller werden. Hüther (2018) bezeichnet Begeisterung als „Dünger für das Gehirn.“ Das Lernen erfolgt am besten durch Interaktion mit und Inspiration durch andere, weil sich hier viel mehr Varianten des Erkundens von Möglichkeiten und des Denkens ergeben.
Bedürfnis nach Kohärenz. Das Gehirn ist unser Organ, das die meiste Energie verbraucht − durch Lernen, Denken und Problemlösen. Eine Komplexitätsreduktion ermöglicht ihm, Energie einzusparen, z. B. durch Verdrängen, Ablenkung, Verleugnen, Weghören, letztlich durch Musterbildung zur Steuerung einer Vielzahl an Einzelaktivitäten. Wir bevorzugen die Nutzung bekannter Denk-Au-tobahnen, denn unsere inneren Einstellungen und Haltungen, unser Denken, Handeln, unser Selbstbild und unsere Umwelt sollen möglichst zueinander passen und wenig Energie für die Erlangung dieser bestmöglichen Passfähigkeit, also von Kohärenz, einfordern. Werden Veränderungen oder komplexe Aufgaben, Vorgaben und Anordnungen an uns herangetragen und sie passen nicht zum bisherigen Kohärenzgefühl, kostet der Umgang damit viel Energie und stresst. Das Hirn sucht nach einem neuen Kohärenzgefühl. Das kann durch Abwehr und Widerstand gegen Veränderung mit Festhalten am Alten, durch ein Sich-Fügen in die Veränderung, oder − und das entspricht unserem Selbstverwirklichungsdrang am besten − durch aktive Mitgestaltung und dem eigenen Wiederfinden in der anstehenden Veränderung hergestellt werden.
Würde. Als soziale Wesen wollen wir dazugehören: zu einer Gemeinschaft, einer Bewegung, einer Idee, einer Vision. Weiterhin wollen wir die eigene Selbstwirksamkeit im autonomen Handeln erfahren. Wir wollen Gestalter des eigenen Lebens sein. Erst wenn wir für etwas brennen, laufen wir zur Höchstform auf. Im Arbeitsalltag aber wird häufig eines oder beide der Grundbedürfnisse verletzt. Wir werden zu Objekten für Funktions- und Zielerfüllung gemacht − und auf diese Weise in unserer Würde verletzt (Hüther, 2019).
Gemeinsames Anliegen. Alle Teammitglieder sollten sich einem gemeinsamen Anliegen verschreiben, das deutlich größer ist als ein Projektziel und vielleicht auch größer als die Firmen-Vision. Dieses Anliegen ist im Grunde unerreichbar, bündelt aber gemeinsame Werte und Vorstellungen der Beteiligten. Dessen kollektives Verfolgen beflügelt die Teammitglieder beim Voranschreiten von Projektziel zu Projektziel und regt an, deutlich kreativer, anders und weiter zu denken, als es für die bloße Zielerreichung notwendig wäre. Außerdem schützt es vor einer Leere, die entstehen kann, wenn wir unsere großen Ziele und Visionen erreichen (Hüther, 2018).
Gemeinsame Anliegen könnten sein: „Menschen sollen durch Spaß und Spannung zum lebenslangen Lernen finden.“ − Betreiber Online-Lernplattform. „Der Alltag wird in jedem Alter mit unseren hochwertigen, einfach zu bedienenden Hilfsmitteln selbstbestimmt und lebenswert bleiben.“ − Hersteller technischer Produkte für Senioren.
Gemeinschaft. Findet sich ein Team, besteht immer die Gefahr, dass sich die anfängliche Euphorie mit wachsenden Aufgaben und Konflikten neutralisiert. Deshalb ist es notwendig, sich in der Gruppe immer wieder gegenseitig zu ermutigen, sich mit der Idee zu identifizieren, ins Tun und in die eigene Kraft zu kommen. Das ist bedeutend mehr als die bloße Teilnahme am Vorhaben, das einfache Zusammensuchen vorhandener Informationen und das Herstellen einer Passfähigkeit zu den eigenen Erwartungen. Es ist das „Was will ich?“ als inneres Anliegen und das vorbehaltlose Sich-Öffnen für Neuland. Es gilt, für sich persönlich und im Team einen Weg zu finden, sich ständig an neuen Aufgaben zu begeistern und die Entdeckerkultur zu bewahren − um letztlich als richtige Entscheidung für sich zu treffen, die ganze Zeit in der Unternehmung dabeizubleiben. Mit gegenseitigem Vertrauen und Inspiration, in persönlicher Freiheit und aus der Souveränität der Gruppe heraus erwächst dann das Potenzial jedes Einzelnen und es entstehen in der Gruppe völlig neue und unerwartete Dinge.
Wir brauchen die Interaktion mit anderen Menschen, um über Versuch und Irrtum, also über eigene Erfahrungen, zu dem zu werden, was uns als Person ausmacht.
Gedankenanstöße
Kohärenz erschüttern. Das Selbstbild, das eine Person von sich aufgebaut hat, ist immer einzigartig. Es bildet den Kern der Individualität und fügt sich in den erstrebten Zustand der eigenen Kohärenz ein. Wenn wir bei Erschütterung unserer Kohärenz bewusst den „scheinbar einfacheren“ Weg vermeiden, uns durch weitere Selbstoptimierung oder Selbstausbeutung noch effizienter zu agieren bzw. uns selbst die Schuld geben, dann können wir unser Selbstbild in Frage stellen, Neues dazulernen, selbst verschuldete Fehlentwicklungen korrigieren und uns weiterentwickeln.
Gemeinschaften und Organisationen laufen ebenfalls Gefahr, in ihrem Bestreben nach Kohärenz in ihrer Entwicklung zu erstarren. Auch für erfolgreiche Teams gilt: Je länger der Erfolg mit gleichen Mitteln andauert, desto mehr werden flexible zu festeren Strukturen. Stehen Gemeinschaften dazu noch unter Druck, dann wird eine Veränderung als äußere Bedrohung wahrgenommen.
Für die Zukunft einer Organisation in Veränderung braucht es aber das komplette Gegenteil: möglichst viele Ideen vieler Köpfe und die Entfaltung der Potenziale der Mitarbeitenden in der Gemeinschaft. Dazu sind Strukturen immer wieder zu hinterfragen und die Freiräume für die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden zu erweitern.
Freiwilligkeit statt Druck. Anstrengungen gegen Belohnung oder wegen Vermeidung von Strafe formen immer noch unsere Verhaltensmuster. Sie führen zur Unterdrückung der intrinsischen Motivation − oder anders ausgedrückt − unserer ureigenen Freude an dem, was wir tun. Je mehr unter Druck gesetzt wird, desto weniger wird auf Dauer herauskommen. Freiwilligkeit, Neugierde, Lernwille und Befähigung sind die Schlüssel für eine Potenzialentfaltungsgemeinschaft.
Weiterentwicklung. Der Fokus sollte nicht primär auf das Ernten von Erfolgen ausgerichtet sein, sondern darauf, Gelingensbedingungen für Erfolge zu erhalten, zu pflegen und zu schützen. Dies geschieht durch Maßnahmen, die eine Weiterentwicklung der einzelnen Mitarbeitenden und des Teams, sowie das Öffnen für neue Denkweisen gewährleisten. Je länger bislang erfolgreiche Szenarien genutzt werden, desto wahrscheinlicher wird das Scheitern damit.
Handeln
Kontakt aufnehmen. Wir können durch entscheidende positive Erfahrungen, durch Wiederentdeckung der eigenen Gestaltungskraft und frische Verbundenheitsgefühle mit anderen Menschen neu starten. Wir sollten mit dem persönlichen Gespräch beginnen; erspüren, wie das Gegenüber tickt, was sein Anliegen ist, warum es hier ist und was es erreichen will. Wir sollten auch Platz zur Selbstreflexion bieten, wodurch eigenes Hinterfragen angeregt wird und sich neue Zugänge zeigen.
Gemeinsame Werte. Lernen wir einander kennen, mit unseren Wünschen und persönlichen Zielen, gehen wir auf die Suche nach Verbindungen und Überschneidungen. Aus diesem Geflecht der Wertvorstellungen können wir anstelle eines Ziels ein gemeinsames größeres Anliegen zur Identifikation schaffen. Gemeinsame Motive sind der beste Klebstoff. Kleine Schritte reichen für den Anfang aus. Sind eine gewisse Verbundenheit und Vertrauen in der Organisationskultur entstanden, kann ein wirksames gemeinsames Anliegen gefunden werden.
Grenzerfahrung. Potenzialentfaltung setzt ein, wenn wir uns in einer Gemeinschaft zugehörig, geborgen, verbunden und sicher fühlen. Dazu müssen wir Erfahrungen durch Erlebnisse machen, die an individuelle Grenzen führen, deren Überwindung aber gemeinsam im Team erfolgt. Das Meistern kollektiver Grenzerfahrungen schweißt zusammen.