Der Geheimbund der 45. Bernhard Wucherer
Читать онлайн книгу.richtig verwirklicht worden. Die Grundlagen hierfür hatte er mit seinem strategisch klugen Straßen- und Marktausbau in Isine gelegt … und im Sommer des Jahres 1269 dabei insofern Glück gehabt, dass eine gewaltige Feuersbrunst zwar fast den gesamten Klosterkomplex in Schutt und Asche gelegt, die Stadt selbst aber nicht erfasst hatte. Dies war der Grund gewesen, weswegen es nicht zum Bau der Stadtmauer gekommen war.
Dennoch war die Bevölkerung von Isine mit dem zufrieden, was sich in ihrem Städtchen verbessert hatte. Allerdings schielte sie doch mit einem leichten Gefühl des Neides auf das aufblühende, selbstständige Lindau, dem sie gerne ebenbürtig wäre.
*
Obwohl es in erster Linie die Aufgabe der Mönche gewesen war, das bis auf die Grundmauern niedergebrannte Kloster wieder zu errichten, hatten sich auch die Einwohner von Isine fleißig daran beteiligt. So war trotz seines fortgeschrittenen Alters auch Godefried Eberz dem Ruf der Mönche gefolgt, sich durch das Einbringen seiner Arbeitskraft einen Platz im Himmelreich zu sichern. Wenn er selbst auch nicht daran geglaubt hatte, war es für ihn und seine Familie gleichsam Ehre und Verpflichtung gewesen, beim Klosteraufbau mit dabei zu sein, … auch wenn dies seine morschen Knochen eigentlich nicht mehr zugelassen hatten. »Aber was tut man nicht alles für …«
»Ich dachte, du glaubst nicht daran, dich in den Himmel einkaufen zu können?«, hatte ihn seine Frau Maria nicht nur einmal schmunzelnd unterbrochen und ihm sein heißgeliebtes Pflaumenmus hingestellt, das Godefrieds Meinung nach »gut für den Körper« sein sollte.
Trotz der Beschwerden des Alters waren die beiden ein glückliches und zufriedenes Paar. Lediglich ihr jüngster Sohn Lukas bereitete der Mutter nach wie vor ernsthafte Magenbeschwerden und dem Vater Kopfzerbrechen. »Was haben wir mit der Erziehung nur falsch gemacht? Aus Cristoff und Friedrik ist doch auch etwas geworden!«, klagte Godefried bei der Morgensuppe einmal mehr seiner Frau, weil er es nicht verstehen konnte, dass Lukas ganz aus der Art geschlagen und straffällig geworden war.
»Aber er ist trotzdem unser Sohn!«, versuchte Maria, den mittlerweile stadtbekannten Dieb und Einbrecher in Schutz zu nehmen.
»Dass ein Eberz am Haus des Grafen bereits zum zweiten Mal angekettet für jedermann sichtbar ganze zwei Tage und Nächte lang auf dem Prangerstein stehen musste, ist wohl mehr als unangenehm … und ganz beiläufig gesagt auch geschäftsschädigend«, ärgerte sich das Familienoberhaupt, das Lukas trotz allem immer noch genauso liebte wie seine beiden älteren Brüder.
Und weil Maria dies wusste, legte sie ermutigend ihre Hand auf seine und hauchte ihm ein sanftes »Ich liebe dich, du alter Griesgram!« entgegen.
»Du hast ja recht, Maria! Mir hätte nichts Besseres passieren können, als mit dir Kinder zu bekommen!«, entgegnete er mit dem Blick in den Augen, in den sie sich vor nunmehr fast fünfzig Jahren verliebt hatte.
»Wie es Philip wohl in den südlichen Gefilden ergeht?«, leitete Maria in melancholisch klingendem Tonfall zum Vetter ihres kränkelnden Mannes über, um ihn von seinen trüben Gedanken an Lukas abzulenken. Immer wenn Handelsreisende aus den italienischen Landen zurückgekehrt waren, hatten sie erfahren, dass aus Godefrieds Onkel Paul etwas ganz Besonderes geworden war. Aufgrund seiner guten Beziehungen zu einem Professore di medicina in Bologna hatte Melchior Habisreitinger den jungen Allgäuer tatsächlich an der dortigen Università unterbringen können, wo er allerdings anstatt die vom Vater gewünschte Arithmetik das Studienfach Medizin belegt hatte.
Und weil es sich um die wohl älteste Universität der Welt handelte – so zumindest behaupteten dies die dortigen Professoren –, hatte diese Universität einen ganz besonders guten Ruf, der ihr schon vorausgeeilt war, als dort die »Schule des Rechts« gegründet worden war. »Wäre dies nicht auch etwas für mich?«, hatte der an allem interessierte junge Mann aus dem fernen Isine damals gefragt und bei seiner Einschreibung zur Antwort bekommen, dass er sein Maul halten und zufrieden sein solle, beim berühmten Professore Rizzardini studieren zu dürfen. Also war aus dem Kaufmannssohn Paul Eberz aus Isine im Allgäu anstatt eines Zahlenkünstlers oder eines Rechtsgelehrten innerhalb weniger Jahre ein Medico und später sogar ein hochreputierter Professore geworden. Und später aus seinem Sohn Philip über die Jahre ebenso.
Als »Professore Philippo«, wie man Philip Eberz in seiner südländischen Wahlheimat allseits genannt hatte, eines Tages klar geworden war, dass er sterbenskrank war, hatte er seine Arbeit niederlegen wollen, um in die Allgäuer Heimat seiner Familie zurückzukehren. Aber dies hatte sich nicht so einfach gestaltet wie er gehofft hatte; denn »Philippo« hatte sich in der norditalienischen Region Emilia-Romagna derart unentbehrlich gemacht, dass man ihn nicht hatte gehen lassen wollen. »Due Semestre!«, hatte der Leiter der Universität seinem besten Professore die Abwesenheit zugebilligt, ihn wegen seiner fortgeschrittenen Krankheit dann aber doch für immer ziehen lassen müssen. Leider war die Reise für den kranken Philip Eberz so anstrengend gewesen, dass er es nicht bis nach Isine geschafft und bei der anstrengenden Überquerung des Brenners verstorben war.
Philip Eberz hatte sich wegen seiner herausragenden Leistungen schon während seines Studiums an der Unversità di Bologna ganz offiziell mit der Anatomie des menschlichen Körpers befassen dürfen. Weil später aus ihm ein Dozent geworden war, der dies seinen Studiosen beibringen mochte, hatte er sogar eine »permesso speciale« zur Begutachtung der inneren Organe erhalten. Obwohl es ihm in Bologna in jeder Hinsicht stets gut ergangen war, hatte ihn die Neugier nach der Heimat seiner Familie, aus der sein Vater vor Jahrzehnten gezogen war, stets begleitet. Und mit zunehmendem Alter war dies immer schlimmer, anstatt besser geworden. Weil er zudem mit argen Schmerzen zu kämpfen gehabt hatte, war ihm schon lange klar geworden, dass er seinen Professorenposten bald würde aufgeben müssen. Also hatte er geplant, baldmöglichst nach Isine zu reisen, um dort in monetär abgesicherten Verhältnissen seinen Lebensabend zu verbringen.
Philip war ganz nach seinem Vater geraten. Während seines gesamten Lebens in Bologna hatte der spröde Mann keine nennenswerten Freundschaften geschlossen und niemanden allzu nahe an sich herangelassen. Lediglich zu Matteo Gallo, einem seiner ehrgeizigsten und besten Studiosen, hatte er Vertrauen gefasst und ihm bei den vielen gemeinsamen Spaziergängen durch Bolognas Straßen und Gassen von der Allgäuer Heimat erzählt und von einem Isine vorgeschwärmt, das er nur aus den Erzählungen seines Vaters gekannt hatte. Die beiden hatte die Leidenschaft zu ihrem Beruf verbunden, insbesondere aber die Besessenheit zur Erforschung des menschlichen Körpers. Um wissenschaftlich vorwärtszukommen, hatten sie neben ihrer offiziell genehmigten Arbeit auch noch heimlich Leichenöffnungen vollzogen. Von Ehrgeiz zerfressen hatten sie sich dazu hingerichtete Verbrecher und verstorbene Landstreicher oder andere Verblichene besorgen lassen, deren Verbleib niemanden interessierte.
Matteo, der junge Medico aus Bologna, hatte aufgrund seiner engen Verbindung zu seinem Mentor Kontakte mit anderen Handelsreisenden nördlich der Alpen. Dies hatte den klugen Kopf dazu ermuntert, seine wegen des Professors sowieso schon guten Deutschkenntnisse zu erweitern.
Nach »Philippos« Tod, hatte er immer wieder etwas aus Isine erfahren, was Wehmut in ihm hatte aufkommen lassen, obwohl er die Heimat seines verstorbenen Freundes nur aus dessen Erzählungen kannte.
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Wie meistens um diese frühsommerliche Jahreszeit glühte die Sonne über »Bella Italia«. Weil in diesem Jahr ein ganz besonders heißer Sommer herrschte, schwitzten die Menschen jetzt noch mehr als sonst. Deswegen sehnten sich viele von ihnen nach dem Schatten der Pinien und Zypressen. Andere verkrochen sich zu Hause oder suchten Erholung in einer Osteria. Und diejenigen, die es sich leisten konnten, gönnten sich dort ein kaltes Getränk – so auch der stadtbekannte Medico Matteo Gallo, der – wie an fast allen Tagen – nach mehreren Vorlesungen in seine Lieblingsosteria gekommen war, um sich dort zu zerstreuen.
Wie oft war er mit »Philippo« hier gewesen? Er wusste es nicht.
Matteo liebte dieses Lokal an der weitläufigen, von Arkaden gesäumten Piazza Maggiore allein schon wegen der Vielfalt des dortigen Publikums. Hier trafen sich Intellektuelle, Künstler, Kaufleute, Handwerker und Menschen einfacher Berufe aus aller Welt. Und genau dieses Gemisch gefiel dem allseits beliebten Medico, von dem niemand ahnen konnte, was er in aller Heimlichkeit trieb. Bologna war ein bedeutendes Zentrum für Architektur, Kunst und Kultur,