Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Der letzte Überlebende - Sam Pivnik


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polnischen Stadt lebten Intellektuelle, es gab nationalistische Gruppierungen, rechte und linke. Lauter Menschen, die vor dem September 1939 eine klare Meinung dazu gehabt hatten, in welche Richtung sich die polnische Politik bewegen sollte. Wir wissen heute, warum man es auf diese Leute abgesehen hatte. Sie waren potenzielle Unruhestifter, und irgendjemand in der Stadt muss mit dem Finger auf sie gezeigt haben, sonst hätten die Einsatztruppen ja nicht gewusst, an welche Türen sie klopfen mussten. Die Leute wurden aus ihren Häusern gezerrt, in langen Reihen an den Stadtrand geführt und erschossen. So lauteten jedenfalls die Gerüchte, und nach dem, was ich am Montag in den Straßen rund um die Modrzejowska sah, zweifelte ich nicht daran.

      Innerhalb von sieben Tagen war die Welt, die wir kannten, verstanden und liebten, verschwunden. Ich sah die Verwirrung in den Augen meines Vaters. Wenn es in der Vergangenheit Schwierigkeiten gegeben hatte, war er immer in die Synagoge gegangen, zum Rabbi, um mit den anderen Ältesten zu sprechen und Gott um seine Führung zu bitten. Jetzt war die Synagoge nur noch eine schwelende Ruine, und viele der Ältesten lagen tot in den Straßen.

      Die Historiker streiten sich bis heute darüber, wie viele Menschen an diesem Wochenende starben. Abgesehen von denen, die in ihren Häusern verbrannten, schätzt man die Zahl auf etwa hundert Männer, Frauen und Kinder, davon vielleicht achtzig Juden. Mir schienen es damals viel mehr zu sein. Aber war nicht jeder einzelne Mensch schon einer zu viel?

      Die Pivniks hielten stoisch zusammen. Viel schlimmer konnte es ja wohl nicht mehr kommen, dachten wir.

      3

      Besatzung

      Unsere Schule war geschlossen, die Synagoge bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Mein Vater war kein kleiner Geschäftsmann mehr, der stolz auf seine Fähigkeiten als Schneider und seinen Status in der Gemeinde sein konnte. Er war arbeitslos wie alle anderen und gab ein potenzielles Ziel für die uniformierten Schurken ab, die durch unsere Straßen zogen.

      Wir alle mussten uns an eine neue Lebensweise anpassen, irgendwie damit zurechtkommen. Wir konnten ja nicht wissen, dass unser altes Leben auf immer verloren war. Gerüchte aus dem Osten erreichten uns, und die Geschichtsbücher bestätigen es heute: Am 17. September marschierte die Rote Armee in Polen ein. Wir hatten nur achtzehn Bataillone am Fluss Bug stehen, unsere gesamten Streitkräfte befanden sich im Westen und versuchten verzweifelt, die Wehrmacht aufzuhalten. Polen war wie eine Nuss zwischen den Kiefern eines Nussknackers eingeklemmt. Am nächsten Tag wurden der Präsident und der Oberbefehlshaber unserer Streitkräfte in Haft genommen. Beide forderten die Truppen zur Fortsetzung des Kampfes auf.

      Die 23. Leichte Artillerie war längst verschwunden; wir sahen sie nie wieder. Wir Juden wussten, wie man sich bei kleinen Scharmützeln wegen eines Fußballspiels oder um Ostern herum wehrte, aber diese Situation war ganz anders. Wir waren Zivilisten, und so schwer es uns immer gefallen war, uns daran zu halten, hatte unser Rabbi uns doch stets gelehrt, die andere Wange hinzuhalten. Adolf Hitler und Josef Stalin jedoch hatten die Lehren des Rabbis außer Kraft gesetzt. Sie hatten Millionen von Menschen zum Tode verurteilt.

      Offiziell – auch wenn wir den Namen nie benutzten – wurde Będzin zu Bendsburg im deutschen Gau Oberschlesien. Unsere christlichen Nachbarn in der Stadt standen vor einer schwierigen Entscheidung. Diejenigen mit deutschen Vorfahren konnten ihre Anerkennung als Volksdeutsche beantragen. Das bedeutete, sie waren mindestens schon mal zur Hälfte arisch. Alle anderen wurden vertrieben und bekamen den Befehl, ihr Hab und Gut auf dem Rücken oder auf Karren und Wagen mitzunehmen und sich in dem Gebiet anzusiedeln, das die Deutschen als Generalgouvernement bezeichneten. Hans Frank, Hitlers Anwalt, wurde zum Verantwortlichen für dieses Gebiet ernannt. Er erklärte im Radio, Polen würde wie eine Kolonie behandelt und die Polen würden zu Sklaven des Großdeutschen Reiches. Zu dieser Zeit besaßen die Menschen in Będzin immerhin noch Radios. Sein Hauptquartier befand sich in Krakau, aber seine Fangarme erreichten uns alle. Juden konnten natürlich keine deutschen Staatsbürger werden, sondern unterlagen jetzt den Nürnberger Rassegesetzen, die schon seit vier Jahren auf die deutschen Juden angewandt wurden.

      Juden durften keine freien Berufe mehr ausüben. Rapaport und andere jüdische Lehrer verloren ihre Stellen. Wir konnten nicht in die Armee eintreten, selbst wenn wir es gewollt hätten – allerdings stand unsere Armee irgendwo am Bug ohnehin kurz vor dem Zusammenbruch, und niemand kam ja auf die Idee, sich der Wehrmacht anzuschließen. Universitäten konnte man vergessen. Kluge Jungen in meiner Schule bekamen keine Ausbildung mehr – genau wie ich. Von diesem September an und noch lange Zeit litt Polen unter dem Verlust einer ganzen Generation von Intellektuellen.

      Zusammen mit zahllosen weiteren Kleingewerbetreibenden wurde mein Vater zum Lohnsklaven – und die Löhne waren erbärmlich. Deutsche Zivilisten kauften die jüdischen Geschäfte zu lächerlichen Preisen. Sie brachten ihre eigenen arischen Angestellten mit, und wenn sie überhaupt jüdische Angestellte weiter beschäftigten, dann mit einem niedrigeren Status als zuvor. Es gab keine Gratifikationen mehr und die Löhne waren sehr niedrig. Ich erinnere mich, dass ich wohl im Oktober in der Werkstatt meines Vaters stand und allmählich begriff, was vor sich ging. Uniformierte Beamte waren in unseren Hof marschiert, wo Nathan und ich ein bisschen Fußball spielten. Sie hatten meinem Vater die Scheren, das Garn, die Nähmaschine und die Stoffballen abgenommen. Und natürlich gab es keine Aufträge mehr. Die meisten polnischen Beamten waren fort, und obwohl ich nie genau darüber nachgedacht habe, muss es wohl so gewesen sein, dass auch einige von Onkel Moyshes Armeekunden im nahe gelegenen Szopienice tot waren.

      Es dauerte noch ein halbes Jahr, bis Alfred Rossner nach Będzin kam. Bis dahin ging es uns einigermaßen gut. Rossner sah seltsam aus; ihm fehlten einige Zähne, und er hatte einen Hüftschaden. Was wir nicht wussten, war, dass er Bluter war und Glück gehabt hatte, überhaupt noch am Leben zu sein. Er wurde zum sogenannten Treuhänder ernannt und betrieb zwei Kleiderfabriken im Auftrag der SS. Einer seiner leitenden Angestellten war Arje Ferleizer, ein Jude, der einmal Rossners Chef gewesen war und 1938 aus Deutschland geflohen war, um der Verfolgung zu entgehen. Ironie des Schicksals, dass sie sich in Będzin wieder trafen.

      Hendla und mein Vater arbeiteten für Rossner, genau wie fast zehntausend Juden, die er bis 1943 beschäftigte. Damals wussten wir gar nicht zu schätzen, was für ein gefährliches Spiel Rossner in unserem Interesse spielte. Anders als der berühmtere Oskar Schindler war Rossner kein unabhängiger Geschäftsmann, sondern Angestellter der SS, und entsprechend beschränkt waren seine Möglichkeiten, Juden zu helfen. Immerhin wurden mein Vater und Hendla als Facharbeiter eingestellt und als „kriegswichtig“ eingestuft. Sie bekamen Sonderausweise, spezielle blaue Kennkarten, die sie zumindest theoretisch vor der Willkür der SS schützten. Wir wussten damals nichts davon, aber dank dieser Pässe konnten wir zumindest für kurze Zeit als Familie zusammenbleiben. Alfred Rossner, der Nazibeamte schmierte, hohe SS-Leute mit ganz besonderen Uniformen versorgte und ihre Frauen in die neueste Mode der Vierzigerjahre kleidete, hielt mit all seinem Tun auch die Pivniks am Leben.

      Für mich war es nicht so leicht, Arbeit zu finden. Vater war Schneidermeister, und Hendla mit ihren achtzehn Jahren war eine geschickte Näherin, aber ich war letztlich ein kleiner Junge ohne Ausbildung. Das bisschen Nähen, was ich hinbekam, war nichts im Vergleich zu Rossners Leuten. Aber dann hatte ich doch Glück. Ich hatte Pferde immer schon gern gehabt, und ein Tier, das ich immer wieder streichelte und tätschelte, gehörte einem jüdischen Lieferanten namens Dombek. Jetzt pflegte und fütterte ich also dieses Pferd und half Dombek beim Möbeltransport, machte Botengänge für ihn, half beim Heben und Schleppen. Ich weiß nicht mehr, wie viel ich dafür bekam – wahrscheinlich nur ein Taschengeld aber es war mein erster Lohn, und ich war stolz, etwas zum Haushaltseinkommen beizutragen.

      Das alles änderte sich allerdings Anfang der Vierzigerjahre. Inzwischen hatte ich Arbeit in einer Möbelfabrik gefunden, die einem Mann namens Killov gehörte und von Herrn Häuber verwaltet wurde. Beide Männer gehörten zu den freundlicheren Deutschen, aber nicht annähernd so wie Rossner. In der Fabrik wurden Möbel und hölzerne Transportkisten hergestellt, und die Arbeiter waren nach Juden und Nicht-Juden aufgeteilt. Ich war mit der Fertigung schwerer Kisten aus Buchenholz beschäftigt. Sie wurden für den Transport der 500-Kilo-Bomben benutzt, die die Dornier- und Heinkel-Flugzeuge über Europas Städten abwarfen. Ende 1940 hatten wir keine Ahnung,


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