Gegen die Spielregeln. Philea Baker
Читать онлайн книгу.KAPITEL 1
Mittwoch, 10. Juni 1874, 14:44 Uhr Fenchurch Street, London
Regentropfen trommelten auf das Kutschendach. In dicken Rinnsalen bahnte sich das Wasser seinen Weg am Fenster hinab, sammelte sich an dessen unterem Rand, von wo aus es durch eine unsichtbare Ritze tröpfchenweise ins Innere des Wagens drang. Eine kleine Pfütze hatte sich auf dem Boden gebildet.
Er hob den Blick und sah hinaus. Häuserfronten zogen in bizarren Formen an seinen Augen vorbei. Die Hitze im Innenraum der Kutsche hatte sich aufgestaut und erschwerte ihm das Atmen. Von Zeit zu Zeit war das Grollen eines entfernten Gewitters zu vernehmen. Den Hut in seinen Händen drehend, gab er sich dem Rütteln der Kutsche hin. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er sein Ziel erreichen würde.
Der Pfiff des Kutschers, der die Pferde in eine langsamere Gangart fallen ließ, kündigte das Ende der Fahrt an. Kaum dass die Räder stillstanden, riss er die Tür auf. Er gierte nach Kühlung, nach einem Hauch von Wind, aber in der Fenchurch Street, inmitten der City of London, war es trotz des Regens kein bisschen besser als in Mayfair. Er setzte den Hut auf. Die Straße war erfüllt von regem Treiben. Menschen mit Regenschirmen in der Hand säumten die Trottoirs, die Kutschen fuhren dicht an dicht. Das Hufgeklapper der Pferde übertönte alle anderen Geräusche.
Er stand vor dem dreigeschossigen Bau des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping. Majestätisch hoben sich die Mauern von dem wolkenverhangenen Himmel ab. Regentropfen benetzten sein Gesicht, als er die Fassade hinaufblickte. Anhand der hohen Fenster ließ sich erahnen, dass man an der Deckenhöhe im Lloyd’s Register nicht gespart hatte, denn die angrenzenden Häuser hatten bei gleicher Gebäudehöhe ein Stockwerk mehr aufzuweisen.
Wie er aus Erzählungen wusste, verdankte das Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping seinen Namen einem Kaffeehaus: dem Kaffeehaus von Edward Lloyd. Einst war es ein bescheidener Ort gewesen, an dem man sich getroffen hatte, um über Schiffe zu sprechen. Nun war es die einzige Klassifikationsgesellschaft für Schiffe weltweit. Hier, in der Fenchurch Street, wurden die Namen der Schiffe registriert nebst Baujahr, Werft, Heimathafen, Kapazitäten, Besitzer, Kapitän und vielem Weiteren – bis hin zum Abwrackdatum. Seine Gedanken wurden vom Kutscher unterbrochen, der nach seinem Lohn fragte. Er reichte dem Mann die verlangten Münzen, dann nahm er geschwind die Stufen, um ins Trockene zu gelangen.
Der Raum war von beeindruckender Größe. Er mochte mehr als die Hälfte der Grundfläche des gesamten Gebäudes einnehmen. Die groben Holzplanken knarrten leise unter seinen Füßen. Zwei große Glaskuppeln im hinteren Bereich, die an Bullaugen erinnerten, spendeten reichlich Licht für eine Vielzahl von Pulten. Jeder Winkel, jedes Detail verdeutlichte, worum es sich in diesem Haus drehte: um Schiffe. Die Wände waren olivgrün gestrichen. Mit Decken- und Wandstuck war sparsam umgegangen worden. Vor einer großen Tafel an der rechten Seitenwand diskutierten ein Dutzend Männer lautstark. In den Mauern, die als Raumteiler dienten, befanden sich Kamine. Zu dieser Jahreszeit waren sie eine bloße Zierde, im Winter waren sie jedoch sicherlich mehr als notwendig, um den großen Raum zu wärmen. Die gesamte linke Seite des Raumes war mit Bänken und Tischen bestückt, die den Besuchern Gelegenheit gaben, sich niederzulassen und dem Informationsaustausch zu frönen. Im Eingangsbereich, zu seiner Linken, befand sich die Anmeldung. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Zwei riesige Wanduhren, die in etwa fünf, sechs Metern Höhe an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren, zeigten die Zeit Londons und seine Zeit an: die Zeit Neuenglands. Während er wartete, ließ er seinen Blick über die Besucher gleiten. Das Lloyd’s Register war ein Ort von internationalem Charakter – aus allen Teilen der Welt trafen hier Menschen aufeinander. Das gefiel ihm.
»Guten Tag.« Der Mann hinter dem Pult musterte ihn interessiert.
»Guten Tag. Ich möchte ein Schiff registrieren lassen.«
»Das Schiff ist wo gebaut worden?«
»In Maine.«
»Wenden Sie sich bitte an Schalter sieben.« Der Mann deutete auf den Bereich mit den Glaskuppeln. Der Mann am Schalter sieben hieß Peck, wie er dem kleinen Metallschild auf dem Pult entnehmen konnte.
»Guten Tag. Ryon Buchanan aus Kennebunkport, Maine. Ich möchte ein Schiff anmelden.«
T. C. Peck musterte ihn skeptisch. »Guten Tag. Zunächst benötige ich die Konstruktionspläne und die Schiffsdaten.«
Ryon beugte sich hinab, öffnete seine Tasche und holte ein Bündel Unterlagen hervor. »Hier sind die Konstruktionspläne und Schiffsdaten der Ocean King, signiert von Nathaniel Thompson, dem Eigentümer der Thompson Werft.« Er legte die Papiere auf das Pult. Als er den Kopf hob, sah er, dass der Blick des Schalterbeamten starr auf seinem Zopf haftete, der durch das Hinabbeugen zur Tasche auf seine Brust gerutscht war. Am Schalter nebenan scherzte man.
»Ich benötige ferner Ihre Ausweispapiere, Mr. Buchanan«, erklärte T. C. Peck kurzangebunden.
Ryon fasste in die Innenseite seines Jacketts, ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden. Die Stirn in Falten gelegt, durchblätterte T. C. Peck seine Papiere und das Anschreiben von Nathaniel Thompson. Er atmete hörbar durch die Nase ein, während er den Lederumschlag öffnete, in dem sich die Unterlagen befanden. Um seine Mundwinkel zuckte es von Zeit zu Zeit, als er diese prüfte. »Die Dokumente werden hier verwahrt, damit die Daten im Greenbook aufgenommen werden können. Sie erhalten einen Beleg für die Aufnahme.« Er füllte ein Formular aus, setzte einen Stempel darauf, unterschrieb und reichte es ihm. »In zwei Tagen können Sie wiederkommen und Ihre Unterlagen abholen.« T. C. Peck hüstelte. »Die Konstruktionspläne sind nicht unterschrieben. Wenn Sie der Ingenieur dieses Schiffes sein wollen, unterzeichnen Sie sie jetzt.« Ryon nahm die Feder sowie die Unterlagen entgegen und signierte diese. »Das war es auch schon«, ließ der Schalterbeamte ihn wissen.
Die Verabschiedung erfolgte durch ein stummes Nicken.
Ryon schritt zurück zur Anmeldung, und nachdem er abermals gewartet hatte, bis er an der Reihe war, legte er einen Brief auf den Schalter. »Ich würde gern Mr. Bridgetown sprechen, sofern er im Hause ist.«
Der Mann hinter dem Schalter las das Schreiben und nickte schließlich. »Mr. Buchanan, wenn Sie bitte meinem Kollegen folgen möchten.« Er rief einen Bediensteten.
Im zweiten Stock des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping befanden sich der berühmte Committee Room und die Büros der Vorsitzenden. Auch hier waren Holzplanken ausgelegt, doch war die Einrichtung deutlich gehobener: Die Türrahmen waren von Marmorsäulen eingefasst, komplexe Mosaikmuster zierten die Decken. Der Geruch von Tabak und Holz, der im unteren Geschoss dominierte, war ebenfalls wahrnehmbar, jedoch schwächer.