Katie. Christine Wunnicke

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Katie - Christine Wunnicke


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lag sie nun wieder. Lizzie hatte die Fensterläden schon mittags geschlossen. Es nebelte gewiss und wahrscheinlich regnete es auch. Auf dem Nachttisch standen ein Lämpchen und ein Glas mit verdünnter Milch. Ein Fensterflügel war offen. Der Arzt hatte Frischluft verordnet gegen Florence’ Erregung. Oft waren morgens ihre Finger blaugefroren. Sie steckte den Kopf unter die Decke, presste das Gesicht ins Kissen und schrie »Mordselement!« Dies schreien die Seeräuber, wenn es ihnen die Laune verhagelt.

      Seeräuber waren eine der Neigungen der älteren Miss Cook, von denen niemals jemand erfuhr. Sie besaß ein Buch in drei Bänden zu diesem Thema: Captain Marryats Sir Henry Morgan, der Bukanier. Das lag, zusammen mit anderen ungesunden Büchern und Dingen, unter einer losen Bohlendiele unter dem Waschtisch. Im vorletzten Sommer, als sie öfters einmal gesund gewesen war, hatte Florence die Bände aus einem Laden entwendet, in dem es unter anderem gelesene Bücher gab. Zwischen ihren vielen Petticoats hatten sie leicht Platz gefunden. Nicht nur kalte Luft, auch warme Kleidung war gegen Florence’ Erregung verordnet. Selbst unter dem Nachthemd musste sie stets ein Flanellleibchen tragen und jeden zweiten Tag, auch wenn sie zu Bett lag, das Gesundheitskorsett. Das Stehlen war eine ihrer Neigungen. Nur selten, und nur wenn es sehr wichtig war, gab sie ihr nach.

      »Unser Held wird zu einem weißen Sklaven gemacht«, sagte Florence zu ihrer verdünnten Milch, »er kommt auf den Hund, fällt fast dem Wahnsinn anheim, aber er hält sich mannhaft. Er lässt untrügliche Anzeichen seiner künftigen Laufbahn erkennen.« Das war die Überschrift des zehnten Kapitels von Sir Henry Morgan. Florence stieg wieder aus dem Bett und schlich zur Tür. Es war ruhig im Haus. Vater war noch bei der Arbeit. Mutter war beim Gebetskreis. Lizzie weinte gewiss in der Küche, womit sie sich in ihren Ruhepausen oft unterhielt. Wo Selina war, wusste Florence nicht. Wahrscheinlich schaute sie Lizzie beim Weinen zu. Selina mit ihren elf Jahren war ohnehin nicht von Belang. Sie konnte Florence ertappen, wobei auch immer sie wollte, ihre Zunge war gebunden, denn Florence wusste zwei Dutzend Gespenstergeschichten, um ihr die Nacht zur Hölle zu machen, und ein Halbdutzend Geheimnisse, um sie damit zu erpressen.

      Florence klemmte einen Stuhl unter die Türklinke, holte einen Strick unter der losen Bodendiele hervor und fesselte ihre Beine an den Bettpfosten, von den Knöcheln bis hinauf zu den Knien.

      Sie machte Schlingen und Knoten, verstrickte alles gut und setzte noch drei Knoten obenauf. Dann kreuzte sie die Arme im Nacken und legte sich auf den Rücken. Der Boden war kalt, die Beine entblößt bis hinauf zu den Schenkeln, und zwischen den Schlaufen des Stricks bildete ihr Fleisch weiße Wülste. Der Bettpfosten kerbte sich auf der Innenseite in beide Knie. »Mit des Teufels Hülfe, Schurke, befrei dich«, murmelte Florence. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier tat.

      Der Nachmittag war noch lang. Selina Cook, die, wie so oft, im Schrank saß und ihre kranke Schwester bewachte, verfolgte durch den Türschlitz mit Staunen Florence’ Kampf.

      Die Hände hinterm Kopf ineinander geklammert, begann sie sich seitlich zu winden. Die Stricke schnitten ins Fleisch und es lockerte sich nichts. Sie versuchte ihre Fersen geistig zu zwingen, dünn und weich zu werden oder ganz zu verschwinden, so dass der Strick hinüberzugleiten vermochte; ohne Erfolg. Mit ihren langen Zehen griff sie ins Leere, angelte, spreizte und krampfte, doch sie erreichten nur andere Zehen, die Fessel erreichten sie nicht. Florence zerrte und zog und versuchte rücklings zu robben. Das Bett rückte mit, das Bettgestell knarrte, der Strick hielt fest. Florence löste ihre Hände voneinander und richtete sich auf den Schultern, dann auf den Armen auf. Sie zischte »Mordselement« und »Kreuzbataillon, sapperment«. Sie versuchte sich nach rechts und nach links zu verschrauben, doch nichts geschah, der Spielraum zwischen Mensch, Strick und Bett war zu gering, um etwas freizuscheuern. Schließlich kämpfte sie sich auf die Beine. Da stand sie aufrecht, mit zerrauftem Zopf und geröteten Wangen, und begann winzige Sprünge zu machen. Das richtete etwas aus, aber es reichte nicht. Florence legte die Hände um Bettpfosten und Knöchel und rüttelte, rüttelte. Ihr Hinterteil zuckte. Ihr Nachthemd bebte. Selina im Schrank hielt sich den Mund zu, um nicht zu lachen oder zu weinen. Florence’ Miene war grässlich. Selina überlegte, ob es an der Zeit sei, ein Gebet zu sprechen, oder ob das Beten in einem Schrank verboten sei. Florence hatte längst ihre Knöchel aufgewetzt, es tat weh, es blutete sogar, und der Strick hielt fest. Sie fiel vornüber aufs Bett, den Steiß steil erhoben, und verfluchte die Mechanik des menschlichen Kniegelenks. Sie rüttelte, rückte und keuchte. Selina erbebte. Bald wäre Teezeit. Bald musste Florence wieder im Bett sein, Selina aus dem Schrank, der Strick unter den Dielen, der Stuhl unter der Türklinke fort. Florence’ Füße waren taub, ihre Knie stachen. Noch einmal riss sie am Strick, dann hielt sie still. »Unser Held wurde Großadmiral«, flüsterte Florence, »vor Barbados, unter zwölf Segeln.« Sie atmete ein und atmete aus. Langsam ließ sie sich wieder auf den Boden sinken. Und da lockerte sich etwas. Etwas weichte auf. Florence’ Füße, Fersen, Knöchel, Schienbeine, Waden wurden zu Brei, wurden zu Wasser, wurden zu Luft, und schon glitten sie aus den Fesseln, als sei all diese Qual nur ein Scherz gewesen, und es ging, fand Selina, kaum mit rechten Dingen zu.

      Da hing das Seil, noch geknotet, am Pfosten. Die Befreite strich ihr Haar zurück und glättete das Hemd über den Beinen.

      »Oh«, sagte Florence. Dann verstaute sie den Strick unterm Waschtisch und holte Selina aus dem Schrank. Sie hatte laut darin gebetet.

      »Alles, was heute noch kommt«, sagte Florence zu ihrer kleinen Schwester, »ist wichtig für morgen und all die kommenden Jahre. Das nennt man ein Omen

      »Danke«, stammelte Selina, und: »Bitte, bitte nicht!«

      Längst musste Florence nicht mehr drohen, um Selina Angst zu machen; Selina übernahm das selbst.

      Am Abend, der diesen ereignisreichsten Tag des Jahres ’69 beschloss, erzählte Mrs. Cook ihrem Mann eine Geschichte, die im Gebetskreis besprochen worden war und die Mrs. Cook halb bange machte und halb entzückte. Lizzie, die am Kamin zugange war, hörte mit und erzählte es nachher den Mädchen weiter; und weil sie, so Florence, bei aller Larmoyanz doch über einen recht wachen Geist verfügte, blieb zumindest das Wesentliche wahrscheinlich erhalten.

      Eine Gebetskreislerin, die jüngst verwitwet war, berichtete Lizzie, hätte an einem Sitzen, wie man das nannte, teilgenommen – und wie graute Selina bald vor dem Wort ›Sitzen‹ –, jener Unternehmung nach amerikanischer Mode, bei der man Seelen aus dem Jenseits mit List und Finten dazu nötigt, sich den Anwesenden durch Zeichen zu offenbaren. Es sei ein gut christliches Sitzen gewesen, so die Witwe, so Mrs. Cook, sagte Lizzie, mit eifrigem Hymnengesang, und nichts Anstößiges oder Schreckliches habe sich zugetragen. Nur Frauen hätten gesessen, und die Einladung sei von einer Matrone ausgegangen, die als Medium – und dieses Wort war den Cook-Töchtern neu – schon allerlei Erfolge hatte für sich verzeichnen können und die in ihrem eigenen Heim, in der guten Stube, nach Einbruch der Dunkelheit und bei Kerzenschein zuweilen gegen geringes Entgelt solche Treffen veranstaltete.

      Allerlei fromme Seelen, so die Witwe, hätten sich, vom Hymnengesang angelockt, bald in der Stube eingefunden und dort den Sitzenden Zeichen ihrer Anwesenheit gegeben. Mr. Cook habe seine Frau an dieser Stelle unterbrochen, sagte Lizzie, und sich nach dem Tisch erkundigt, ob er gedröhnt und gepoltert oder die Damen gepufft oder gar nach ihnen getreten habe wie ein Gaul. Mrs. Cook sei darüber ungehalten gewesen und habe sehr betont, dass der Tisch – und inzwischen graute Selina schon vor dem Wort ›Tisch‹ – nur mit wenigen knappen Stößen, gleichsam wie ein Morse’scher Apparat, auf einfache Fragen einfach geantwortet habe – vor allem ›ja‹ und ›nein‹ nach einer vorher vereinbarten Chiffre.

      Der verstorbene Mann der Gebetskreislerin etwa, und dies habe Mrs. Cook am meisten gerührt, habe immer nur ›ja‹ geklopft, ein einziges Ja auf jede Frage, die seine Frau an ihn gerichtet habe, »Wie steht es um dich?«, »Bist du in Friede?«, »Bist du bei Gott?«, immer nur ›ja‹ ohne Knacken und Knarren und immer im selben Takt. Und an diesem kargen, lakonischen Klopfen habe die Witwe ganz unzweifelhaft ihren Mann zu erkennen vermocht, weil er ebenso klopfte, wie er einst gesprochen hatte, einsilbig und ein wenig verdrießlich. Und dennoch, so Lizzie, habe er den ganzen weiten Weg aus dem Jenseits gemacht, nur um die gewissermaßen ganz konversationellen und gar nicht brennenden Fragen seiner Frau dauernd mit einem mürrischen Ja zu beantworten.


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