Inkompetenzkompensationskompetenz. Ralf Lisch

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Inkompetenzkompensationskompetenz - Ralf Lisch


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gewesen.

      Genug der Worte, es konnte endlich losgehen. Es möge sich doch bitte zunächst jeder einmal selbst vorstellen, sagte Frau Kluge, die allen aus der Personalabteilung bekannt war und die nun das Assessment Center leiten würde. Drei Minuten Zeit habe jeder und die solle man gut nutzen. Es ginge also darum, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, denn nach drei Minuten würde sie jedem rigoros das Wort entziehen. Zeitmanagement sei ganz entscheidend für Manager, sagte sie und hatte inzwischen selbst schon viel zu lange gesprochen. Doch niemand entzog ihr das Wort. Sie war ja die Vorsitzende. Da galten andere Regeln.

      Frau Kluge hätte gar nicht so viel erklären müssen, denn auf diese Aufgabe waren natürlich alle Kandidaten vorbereitet. Sie hatten sich gut informiert, wie solch ein Assessment Center abläuft. Einer nach dem anderen stand auf und präsentierte sich fast so, wie sie es zu Hause vor dem Spiegel geübt hatten. Ausbildung, Studium, derzeitige Aufgaben, vielleicht noch einen Hinweis auf ein Hobby oder einen Sport, den man pflegte – soweit die tägliche Arbeit für das Unternehmen dafür überhaupt genügend Zeit ließ, wie die Kandidaten nicht anzumerken vergaßen. Sonst entstand da womöglich noch ein falscher Eindruck. Ebenso wichtig war, dass das Hobby einen gewissen Anspruch verdeutlichte. Vielleicht klassische Musik. Anspruchsvolle Literatur? Oder doch lieber Sport? Fußball kam da allerdings nicht in Frage. Auch Tennis galt als durchaus steigerungsfähig. Nur die Beobachter wunderten sich etwas, wie viele Kandidaten gerade begonnen hatten, Golf zu spielen. Sie vermerkten es wohlwollend. Wenn sie später die Karriereorientierung der Kandidaten bewerteten, würden sie es berücksichtigen. Doch erst einmal ging es darum zu notieren, ob die Kandidaten bei ihrer Selbstpräsentation Blickkontakt mit ihren Zuhörern hielten. Das war ein Zeichen von Selbstbewusstsein und Offenheit. So hatten sie es von Frau Kluge im Beobachtertraining gelernt. Da gab es Punktabzüge, wenn der Blick auf den Boden gerichtet war oder gar an die Decke, weil die Kandidaten versuchten, sich an ihren zu Hause einstudierten Text zu erinnern.

      Die erste Aufgabe war geschafft. Eine Kaffeepause war in weiter Ferne. Und weil das alles doch noch nicht ganz so locker gelaufen war, wie sie es gerne gesehen hätte, hielt Frau Kluge einen Ice-Breaker bereit. Dafür wurden die Teilnehmer in vier Gruppen eingeteilt und jede Gruppe erhielt die Aufgabe, nun einen möglichst hohen Turm aus Papier zu bauen. Neben dem Kopierer stapelten sich ohnehin immer all die falsch kopierten Blätter, die man nun endlich mal einer sinnvollen Verwendung zuführen würde. Immerhin waren dafür jede Menge Bäume gefällt worden. Klebstoff sei nicht zugelassen, gab Frau Kluge zu bedenken, um die Aufgabe etwas schwieriger zu machen. Hier wurden ja zukünftige Manager gesucht. Aber dann stellte sie doch jedem Team eine Schachtel Büroklammern zur Verfügung. Das Team solle zunächst diskutieren, wie man die Aufgabe am besten anginge, und sich dann für ein Design entscheiden, bevor der Bau des Turms begänne und hoffentlich nicht gleich wieder einstürze. Die Uhr läuft. Jedes Team hat 20 Minuten.

      Frau Kluge war zufrieden. Diese Übung würde das Eis brechen. Sie hatte absichtlich keine Teamleiter benannt. Die Gruppen würden sich also auf einen Kompromiss einigen müssen. Und vielleicht würden sich dabei ja schon einmal einige natürliche Leader herauskristallisieren. Leadership und Teamfähigkeit, das war es, was im Management zählte. Hinzu kamen Kreativität und Innovationsfreude. Da war der Turm geradezu symbolisch. Wo er einstürzte, wäre es nicht weit her mit den Managementqualitäten. Die Beobachter sahen genau hin und machten sich Notizen. Sie hätten gerne eingegriffen. Als erfahrene Manager fühlten sie sich durch ihre Beobachterrolle erheblich eingeengt.

      Die nächste Übung würde nun aber deutlich ernsthafter, sagte Frau Kluge. Es ginge ja keineswegs um die Auswahl von Baumeistern, sondern um die Auswahl zukünftiger Manager. In dieser Rolle würde man sich mit anspruchsvollen Themen und Entscheidungen auseinandersetzen müssen. Das erfordere unternehmerisches Denken und Handeln. Deshalb sollten sich die Kandidaten doch bitte einmal vorstellen, sie würden im Aufsichtsrat eines Unternehmens sitzen, das die Übernahme eines bedeutenden, aber doch etwas kleineren Konkurrenten plane. Beide Unternehmen hätten eine lange Tradition und eine ausgeprägte, allerdings sehr unterschiedliche Firmenkultur. Nur in einem Punkt würden sich beide Unternehmen ähneln. Beide machten seit Jahren erhebliche Verluste, wobei das kleinere Unternehmen allerdings noch schlechter dastehe als das größere. Die optimistisch geschätzten jährlichen Synergieeffekte seien bemerkenswert, würden jedoch geringer ausfallen als die gemeinsamen Verluste. Da sei allerdings noch Potential durch zusätzliche Mitarbeiterfreisetzungen bei dem Übernahmekandidaten. Bei vorsichtiger Schätzung seien die Mergerkosten erheblich. Allerdings bewege man sich in einer Branche, in der Größe Vorteile biete. Leider würden die Experten für die Zukunft keine grundlegende Verbesserung der Marktsituation erwarten. Außerdem sehe man sich einem starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt. All das sollten sich die Kandidaten mal vorstellen und diskutieren. Wie sie da als Aufsichtsräte entscheiden würden. Als Manager müsse man ja Visionen für die Zukunft entwickeln und strategisch denken. Zwei Stunden würden für die Diskussion zur Verfügung stehen und in dieser Zeit solle man möglichst zu einer Entscheidung kommen. Denn Entscheidungsfreude sei eine wichtige Eigenschaft eines Managers.

      Wieder wurden Gruppen gebildet. Der Vorsitz würde während der zwei Stunden wechseln, damit sich jeder in unterschiedlichen Rollen beweisen könne. So saßen die Kandidaten zusammen und versuchten Visionen zu entwickeln und unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Etwas Zahlenmaterial hatten sie auch bekommen, was allerdings wenig daran änderte, dass das Szenario doch reichlich realitätsfern erschien. Über solch eine theoretische Situation musste man ja erst einmal nachdenken. Wer sich das wohl ausgedacht hatte?

      Das Schweigen währte allerdings nur kurz. Als zukünftige Manager fürchteten sie Missinterpretationen. Nichts zu sagen, könnte leicht als Schwäche ausgelegt werden. Man solle die Situation doch erst einmal strukturieren und in einzelne Punkte gliedern, meldete sich eine Teilnehmerin zu Wort, obwohl dieser Vorschlag doch vom Vorsitzenden der Diskussionsgruppe erwartet worden wäre. Die Beobachter notierten es in ihren Beobachtungsprotokollen unter dem Stichwort Initiative und gaben der Teilnehmerin zusätzlich Pluspunkte für analytisches Denken.

      Die Frage, inwieweit sich die unterschiedliche Unternehmenskultur nachteilig auf den Integrationsprozess nach der Firmenübernahme auswirken würde, wurde kontrovers diskutiert. Die einen hatten erhebliche Bedenken, weil kulturelle Veränderungen Zeit bräuchten. Häufig sei auch nach vielen Jahren der ursprüngliche Stallgeruch noch deutlich zu riechen, warnte einer. Er hätte da ein paar Beispiele. Bedenkenträger, notierte der Beobachter an dieser Stelle. Man müsse die neuen Mitarbeiter einfach nur gründlich trainieren, warf ein anderer Teilnehmer in die Diskussion ein. Die Beobachter vermerkten einen Pluspunkt für sein Durchsetzungsvermögen.

      So wogte die Diskussion hin und her. Einerseits und andererseits. These, Antithese, Synthese. Die Kandidaten hatten ein feines Gespür für Erwartungen und merkten schnell, dass es deutlich angemessener wäre, sich für eine Übernahme auszusprechen statt dagegen. Auf irgendeine Kleinigkeit würde man trotzdem verweisen müssen. So würden Sorgfalt und Analysevermögen demonstriert. Die weiteren Diskussionsbeiträge wären dann allerdings vorwärtsgerichtet und optimistisch zu formulieren. Damit da gar nicht erst Missverständnisse entstünden. Immerhin galt es, Initiative, Durchsetzungskraft und eine positive Einstellung zu vermitteln. Die Beobachter waren zufrieden, dass sich am Ende der zwei Stunden alle Gruppen klar für eine Übernahme des Konkurrenten ausgesprochen hatten. Sie notierten es mit Wohlwollen.

      Es war Zeit für die Mittagspause. Eine Stunde musste reichen, denn es standen noch zwei weitere Übungen auf dem Programm, bevor es zu einer Auswertung der Ergebnisse kommen würde. Allerdings zeigten sich da schon deutliche Trends. Doch nun ging es erst einmal um einen Intelligenztest, den Frau Kluge mit einigen Fragen zur Persönlichkeit angereichert hatte. Dr. Winter hatte ausdrücklich darum gebeten, das Assessment Center mit einem kurzen Intelligenztest zu verbinden. Denn es war ja klar, dass es für gehobene Managementpositionen einer gesunden Portion Intelligenz bedurfte. Das könne man am besten an ihm sehen, hatte Dr. Winter gesagt. Irgendjemand hatte ihn noch gefragt, wie er Intelligenz definieren würde. Aber diese Frage ließ wohl eher an der Intelligenz des Fragestellers zweifeln und Dr. Winter hatte sie deshalb unbeantwortet gelassen.

      So saßen die Teilnehmer kurz nach dem Mittagessen schon wieder an ihren Plätzen, und während sie noch mit der Mittagsmüdigkeit kämpften, sahen sie sich am Computer allerlei


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