Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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ihm ganz fern.«911 Dupont hat die Krise der lyrischen Dichtung mit dem fortschreitenden Zerfall zwischen Stadt und Land kommen fühlen. Einer seiner Verse gesteht das, unbeholfen; er sagt, daß der Dichter »abwechselnd den Wäldern sein Ohr leihe und der Masse«. Die Massen haben ihm seine Aufmerksamkeit entgolten; Dupont war um 1848 in aller Munde. Als die Errungenschaften der Revolution eine nach der andern verloren gingen, dichtete Dupont sein »Chant du vote«. In der politischen Dichtung dieser Zeit gibt es Weniges, was sich mit dessen Refrain messen kann. Er ist ein Blatt von dem Lorbeer, den Karl Marx damals für die »drohend finstere Stirn«912 der Junikämpfer in Anspruch nahm.

      Fais voir, en déjouant la ruse,

      O République! à ces pervers,

      Ta grande face de Méduse

       Au milieu de rouges éclairs! 913

      Ein Akt literarischer Strategie war die Einleitung, die Baudelaire 1851 zu einer Lieferung Dupontscher Gedichte beisteuerte. Man findet darin die folgenden merkwürdigen Aussprüche: »Die lächerliche Theorie der Schule des l’art pour l’art schloß die Moral aus und oft selbst die Leidenschaft; sie wurde dadurch notwendig unfruchtbar.« Und weiter, mit offenbarer Beziehung auf Auguste Barbier: »Als ein Dichter, der trotz manchem gelegentlichen Ungeschick sich fast immer groß bewährte, auftrat und die Heiligkeit der Julirevolution proklamierte, dann in ebenso flammenden Versen Gedichte auf das Elend in England und Irland schrieb, … war die Frage ein für allemal abgetan und fortan die Kunst untrennbar von der Moral wie von der Nützlichkeit.«914 Das hat nichts von der tiefen Duplizität, von der Baudelaires eigene Dichtung beflügelt wird. Sie nahm sich der Unterdrückten an, aber ebenso ihrer Illusionen wie ihrer Sache. Sie hatte ein Ohr für die Gesänge der Revolution, aber auch ein Ohr für die ›höhere Stimme‹, die aus dem Trommelwirbel der Exekutionen spricht. Als Bonaparte durch den Staatsstreich zur Herrschaft kommt, ist Baudelaire einen Augenblick aufgebracht. »Dann faßt er die Ereignisse vom ›providentiellen Gesichtspunkt‹ her ins Auge und unterwirft sich wie ein Mönch.«915 »Theokratie und Kommunismus«916 waren ihm nicht Überzeugungen sondern Einflüsterungen, die sich sein Ohr streitig machten: die eine nicht so seraphisch, die andere nicht so luziferisch wie er wohl meinte. Nicht lange, so hatte Baudelaire sein revolutionäres Manifest preisgegeben und nach einer Reihe von Jahren schreibt er: »Der Grazie und der weiblichen Zartheit seiner Natur verdankt Dupont seine ersten Lieder. Zum Glück hat die revolutionäre Aktivität, welche damals fast alle mit sich riß, ihn nicht ganz von seinem natürlichen Weg abgelenkt.«917 Der schroffe Bruch mit dem l’art pour l’art hatte nur als Haltung für Baudelaire seinen Wert. Er erlaubte ihm, den Spielraum bekanntzugeben, der ihm als Literat zur Verfügung stand. Ihn hatte er vor den Schriftstellern seiner Zeit voraus – die größten unter ihnen nicht ausgenommen. Damit wird ersichtlich, worin er über dem literarischen Betrieb stand, der ihn umgab.

      Der literarische Tagesbetrieb hatte sich hundertundfünfzig Jahre lang um Zeitschriften bewegt. Gegen Ende des ersten Jahrhundertdrittels begann das sich zu ändern. Die schöne Literatur bekam durch das Feuilleton einen Absatzmarkt in der Tageszeitung. In der Einführung des Feuilletons resümieren sich die Veränderungen, die die Julirevolution der Presse gebracht hatte. Einzelnummern von Zeitungen durften unter der Restauration nicht verkauft werden; man konnte ein Blatt nur als Abonnent beziehen. Wer den hohen Betrag von 80 Francs für das Jahresabonnement nicht bestreiten konnte, war auf Cafés angewiesen, in denen man oft zu mehreren um eine Nummer stand. 1824 gab es in Paris 47 000 Bezieher von Zeitungen, 1836 waren es 70 und 1846 200 Tausend. Eine entscheidende Rolle hatte bei diesem Aufstieg Girardins Zeitung »La Presse« gespielt. Sie hatte drei wichtige Neuerungen gebracht: die Herabsetzung des Abonnementspreises auf 40 Francs, das Inserat sowie den Feuilletonroman. Gleichzeitig begann die kurze, abrupte Information dem gesetzten Bericht Konkurrenz zu machen. Sie empfahl sich durch ihre merkantile Verwertbarkeit. Die sogenannte ›réclame‹ brach ihr freie Bahn: Darunter verstand man eine dem Ansehen nach unabhängige, in Wahrheit vom Verleger bezahlte Notiz, mit der im redaktionellen Teil auf ein Buch hingewiesen wurde, dem am Vortage oder auch in der gleichen Nummer ein Inserat vorbehalten war. Sainte-Beuve klagte schon 1839 über ihre demoralisierenden Wirkungen. »Wie konnte man« im kritischen Teil »ein Erzeugnis verdammen …, von dem zwei Fingerbreit tiefer zu lesen stand, daß es ein Wunderwerk der Epoche sei. Die Anziehungskraft der immer größer werdenden Lettern des Inserats bekam die Oberhand: es stellte einen Magnetberg dar, der den Kompaß ablenkte.«918 Die ›réclame‹ steht am Anfang einer Entwicklung, deren Ende die von den Interessenten bezahlte Börsennotiz der Journale ist. Schwerlich kann die Geschichte der Information von der der Pressekorruption getrennt geschrieben werden.

      Die Information brauchte wenig Platz; sie, nicht der politische Leitartikel noch der Roman im Feuilleton, verhalf dem Blatt zu dem tagtäglich neuen, im Umbruch klug variierten Aussehen, in dem ein Teil seines Reizes lag. Sie mußte ständig erneuert werden: Stadtklatsch, Theaterintrigen, auch ›Wissenswertes‹ gaben ihre beliebtesten Quellen ab. Die ihr eigene billige Eleganz, die für das Feuilleton so bezeichnend wird, ist ihr von Anfang an abzusehen. Mme de Girardin begrüßt in ihren »Pariser Briefen« die Photographie wie folgt: »Man beschäftigt sich derzeit viel mit der Erfindung des Herrn Daguerre, und nichts ist possierlicher als die seriösen Erläuterungen, die unsere Salongelehrten von ihr zu geben wissen. Herr Daguerre darf unbesorgt sein, man wird ihm sein Geheimnis nicht rauben … Wirklich, seine Entdeckung ist wundervoll; aber man versteht nichts von ihr; sie ist zu viel erklärt worden.«919 Nicht so bald und nicht überall fand man sich mit dem Feuilletonstil ab. 1860 und 68 erschienen in Marseille und Paris die beiden Bände der »Revues parisiennes« von dem Baron Gaston de Flotte. Sie machten es sich zur Aufgabe, gegen die Leichtfertigkeit der historischen Angaben, ganz besonders im Feuilleton der pariser Presse, anzukämpfen. – Im Café, beim Aperitif kam das Füllwerk der Information zustande. »Die Gepflogenheit des Aperitifs … stellte sich mit dem Aufkommen der Boulevardpresse ein. Früher, als es nur die großen, seriösen Blätter gab … kannte man keine Stunde des Aperitifs. Sie ist die logische Folge der ›Pariser Chronik‹ und des Stadtklatsches.«920 Der Kaffeehausbetrieb spielte die Redakteure auf das Tempo des Nachrichtendienstes ein, ehe noch dessen Apparatur entwickelt war. Als der elektrische Telegraph gegen Ende des Second Empire in Gebrauch kam, hatte der Boulevard sein Monopol verloren. Die Unglücksfälle und die Verbrechen konnten nunmehr aus aller Welt bezogen werden.

      Die Assimilierung des Literaten an die Gesellschaft, in der er stand, vollzog sich dergestalt auf dem Boulevard. Auf dem Boulevard hielt er sich dem nächstbesten Zwischenfall, Witzwort oder Gerücht zur Verfügung. Auf dem Boulevard entfaltete er die Draperie seiner Beziehungen zu Kollegen und Lebeleuten; und er war auf deren Effekte so angewiesen wie die Kokotten auf ihre Verkleidungskunst921. Auf dem Boulevard bringt er seine müßigen Stunden zu, die er als einen Teil seiner Arbeitszeit vor den Leuten ausstellt. Er verhält sich als ob er von Marx gelernt hätte, daß der Wert jeder Ware durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt ist. Der Wert seiner eigenen Arbeitskraft bekommt dergestalt angesichts des ausgedehnten Nichtstuns, das in den Augen des Publikums für ihre Vervollkommnung nötig ist, etwas beinahe Phantastisches. Mit solcher Schätzung stand das Publikum nicht allein. Das hohe Entgelt des damaligen Feuilletons zeigt, daß sie in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet war. In der Tat bestand ein Zusammenhang zwischen der Senkung der Abonnementsgebühren, dem Aufschwung des Inseratenwesens und der wachsenden Bedeutung des Feuilletons.

      »Auf Grund des neuen Arrangements« – der Herabsetzung der Abonnementsgebühren – »muß das Blatt von der Annonce leben …; um viele Annoncen zu erhalten, mußte die viertel Seite, die zur Affiche geworden war, einer möglichst großen Anzahl von Abonnenten zu Gesicht kommen. Es wurde ein Köder nötig, der sich an alle ohne Ansehen ihrer Privatmeinung richtete, und der seinen Wert darin hatte, die Neugier an die Stelle der Politik zu setzen … War der Ausgangspunkt, der Abonnementspreis von 40 Francs, einmal gegeben, so gelangte man über das Inserat fast mit absoluter Notwendigkeit zum Feuilletonroman.«922 Eben das erklärt die hohe Dotierung dieser Beiträge. 1845 schloß Dumas mit dem »Constitutionnel« und der »Presse« einen Vertrag, in dem ihm für fünf Jahre ein jährliches Mindesthonorar von 63 000 Francs bei einer jährlichen Mindestproduktion


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