Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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hierfür blind war. Wem dennoch Ottiliens Dasein in dem Pathos, das von allen andern es unterscheidet, auf das Leben der Jugend hinweist, so konnte nur durch das Geschick ihrer Schönheit Goethe mit diesem Anblick, dem sein Wesen sich verweigerte, ausgesöhnt werden. Hierauf gibt es einen eigenartigen und gewissermaßen quellenmäßigen Hinweis. Im Mai 1809 richtete Bettina an Goethe einen Brief, der den Aufstand der Tiroler berührt und in dem es heißt: »Ja Goethe, während diesem hat es sich ganz anders in mir gestaltet … düstre Hallen, die prophetische Monumente gewaltiger Todeshelden umschließen, sind der Mittelpunkt meiner schweren Ahnungen … Ach vereine Dich doch mit mir« der Tiroler »zu gedenken … es ist des Dichters Ruhm, daß er den Helden die Unsterblichkeit sichere!« Im August desselben Jahres schrieb Goethe die letzte Fassung des dritten Kapitels aus dem zweiten Teil der Wahlverwandtschaften, wo es im Tagebuch der Ottilie heißt: »Eine Vorstellung der alten Völker ist ernst und kann furchtbar scheinen. Sie dachten sich ihre Vorfahren in großen Höhlen, ringsumher auf Thronen sitzend, in stummer Unterhaltung. Dem Neuen, der hereintrat, wenn er würdig genug war, standen sie auf und neigten ihm einen Willkommen. Gestern, als ich in der Kapelle saß und meinem geschnitzten Stuhle gegenüber noch mehrere umhergestellt sah, erschien mir jener Gedanke gar freundlich und anmutig. Warum kannst du nicht sitzen bleiben? dachte ich bei mir selbst, still und in dich gekehrt sitzen bleiben, lange, lange, bis endlich die Freunde kämen, denen du aufstündest und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwiesest«. Es liegt nahe, diese Anspielung auf Walhall als unbewußte oder wissentliche Erinnerung an die Briefstelle Bettinens zu verstehen. Denn die Stimmungsverwandtschaft jener kurzen Sätze ist auffallend, auffallend bei Goethe der Gedanke an Walhall, auffallend endlich, wie unvermittelt er in die Aufzeichnung der Ottilie eingeführt ist. Wäre es nicht ein Hinweis darauf, daß Goethe sich Bettinens heldisches Gebaren in jenen sanftern Worten der Ottilie näher brachte?

      Man ermesse nach alledem, ob es Wahrheit ist oder eitel Mystifikation, wenn Gundolf mit gespieltem Freisinn behauptet: »Die Gestalt Ottiliens ist weder der Hauptgehalt, noch das eigentliche Problem der Wahlverwandtschaften« und ob es einen Sinn gibt, wem er hinzufügt: »aber ohne den Augenblick, da Goethe das geschaut, was im Werk als Ottilie erscheint, wäre wohl weder der Gehalt verdichtet noch das Problem so gestaltet worden«. Denn was ist in alledem klar, wenn nicht eins: daß die Gestalt, ja der Name der Ottilie es ist, der Goethe an diese Welt bannte, um wahrhaft eine Vergehende zu erretten, eine Geliebte in ihr zu erlösen. Sulpiz Boisseree hat er es gestanden, der mit den wunderbaren Worten es festgehalten hat, in denen er dank der innigsten Anschauung von dem Dichter zugleich tiefer auf das Geheimnis seines Werkes hinweist als er ahnen mochte. »Unterwegs kamen wir dann auf die Wahlverwandtschaften zu sprechen. Er legte Gewicht darauf, wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeigeführt. Die Sterne waren aufgegangen; er sprach von seinem Verhältnis zur Ottilie, wie er sie lieb gehabt und wie sie ihn unglücklich gemacht. Er wurde zuletzt fast rätselhaft ahndungsvoll in seinen Reden. – Dazwischen sagte er dann wohl einen heitern Vers. So kamen wir müde, gereizt, halb ahndungsvoll, halb schläfrig im schönsten Sternenlicht … nach Heidelberg.« Wenn es dem Berichtenden nicht entgangen ist, wie mit dem Aufgang der Sterne Goethes Gedanken auf sein Werk sich hinlenkten, so hat, er selbst wohl kaum gewußt – wovon doch seine Sprache Zeugnis ablegt – wie über Stimmung erhaben der Augenblick war und wie deutlich die Mahnung der Sterne. In ihr bestand als Erfahrung was längst als Erlebnis verweht war. Denn unter dem Symbol des Sterns war einst Goethe die Hoffnung erschienen, die er für die Liebenden fassen mußte. Jener Satz, der, mit Hölderlin zu reden, die Cäsur des Werkes enthält und in dem, da die Umschlungenen ihr Ende besiegeln, alles inne hält, lautet: »Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über, ihre Häupter weg«. Sie gewahren sie freilich nicht und nicht deutlicher konnte gesagt werden, daß die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird. Damit tritt denn der innerste Grund für die »Haltung des Erzählers« zutage. Er allein ist’s, der im Gefühle der Hoffnung den Sinn des Geschehens erfüllen kann, ganz so wie Dante die Hoffnungslosigkeit der Liebenden in sich selber aufnimmt, Wenn er nach den Worten der Francesca da Rimini fällt »als fiele eine Leiche«. Jene paradoxeste, flüchtigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung, wie im Maß, da die Sonne verlischt, im Dämmer der Abendstern aufgeht, der die Nacht überdauert. Dessen Schimmer gibt freilich die Venus. Und auf solchem geringsten beruht alle Hoffnung, auch die reichste kommt nur aus ihm. So rechtfertigt am Ende die Hoffnung den Schein der Versöhnung und der Satz des Platon, widersinnig sei es, den Schein des Guten zu wollen, erleidet seine einzige Ausnahme. Denn der Schein der Versöhnung darf, ja er soll gewollt werden: er allein ist das Haus der äußersten Hoffnung. So entringt sie sich ihm zuletzt und nur wie eine zitternde Frage klingt jenes »wie schön« am Ende des Buches den Toten nach, die, wenn je, nicht in einer schönen Welt wir erwachen hoffen, sondern in einer seligen. Elpis bleibt das letzte der Urworte: der Gewißheit des Segens, den in der Novelle die Liebenden heimtragen, erwidert die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen. Sie ist das einzige Recht des Unsterblichkeitglaubens, der sich nie am eigenen Dasein entzünden darf. Doch gerade dieser Hoffnung wegen sind jene christlich-mystischen Momente fehl am Ort, die sich am Ende – ganz anders wie bei den Romantikern – aus dem Bestreben alles Mythische der Grundschicht zu veredeln, eingefunden haben. Nicht also dies nazarenische Wesen, sondern das Symbol des über die Liebenden herabfahrenden Sterns ist die gemäße Ausdrucksform dessen, was vom Mysterium im genauen Sinn dem Werke einwohnt. Das Mysterium ist im Dramatischen dasjenige Moment, in dem dieses aus dem Bereiche der ihm eigenen Sprache in einen höheren und ihr nicht erreichbaren hineinragt. Es kann daher niemals in Worten, sondern einzig und allein in der Darstellung zum Ausdruck kommen, es ist das »Dramatische« im strengsten Verstande. Ein analoges Moment der Darstellung ist in den Wahlverwandtschaften der fallende Stern. Zu ihrer epischen Grundlage im Mythischen, ihrer lyrischen Breite in Leidenschaft und Neigung, tritt ihre dramatische Krönung im Mysterium der Hoffnung. Schließt eigentliche Mysterien die Musik, so bleibt dies freilich eine stumme Welt, aus welcher niemals ihr Erklingen steigen wird. Doch welcher ist es zugeeignet, wenn nicht dieser, der es mehr als Aussöhnung verspricht: die Erlösung. Das ist in jene »Tafel« gezeichnet, die George über Beethovens Geburtshaus in Bonn gesetzt hat:

      Eh ihr zum kampf erstarkt auf eurem sterne

      Sing ich euch streit und sieg von oberen sternen.

      Eh ihr den leib ergreift auf diesem sterne

      Erfind ich euch den traum bei ewigen sternen.

      Erhabner Ironie scheint dies »Eh ihr den leib ergreift« bestimmt zu sein. Jene Liebenden ergreifen ihn nie – was tut es, wenn sie nie zum Kampf erstarkten? Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.

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      1928

      Damals wie heute meiner Frau gewidmet

      Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen, im Überschwänglichen zu suchen, sondern, wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.

      Johann Wolfgang von Goethe:

      Materialien zur Geschichte der Farbenlehre320

      Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen. Zwar wird es in seiner abgeschlossenen Gestalt Lehre sein, solche Abgeschlossenheit ihm zu leihen aber liegt nicht in der Gewalt des bloßen Denkens. Philosophische Lehre beruht auf historischer Kodifikation. So ist sie denn auch more geometrico nicht zu beschwören. Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche Elimination des Darstellungsproblems, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit,


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