Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Von der Aufgabe einer derartigen Versenkung aus betrachtet erscheint es nicht rätselhaft, daß der Denker der Monadologie der Begründer der Infinitesimalrechnung war. Die Idee ist Monade – das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt. Ihrer Darstellung ist zur Aufgabe nichts Geringeres gesetzt, als dieses Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen.

      Die Geschichte der Erforschung des deutschen Literaturbarock leiht der Analysis einer seiner Hauptformen – einer Analysis, die nicht mit der Feststellung von Regeln und Tendenzen, sondern mit der in ihrer Fülle und konkret erfaßten Metaphysik dieser Form allererst einzuhalten hat – einen paradoxen Schein. Ist es doch unverkennbar, daß unter den vielfältigen Hemmungen, denen die Einsicht in die Dichtung dieser Epoche begegnete, eine der gewichtigsten in der wie immer bedeutenden, so doch befangenen Gestalt liegt, die zumal ihrem Drama eignet. Entschiedener als andre appelliert gerade die dramatische Form an den historischen Nachhall. Er ist der barocken versagt geblieben. Die Erneuerung der literarischen Habe Deutschlands, welche mit der Romantik einsetzte, hat die Dichtung des Barock noch bis heute kaum betroffen. Es war vor allem das Drama Shakespeares, das für die dichtenden unter den Romantikern mit seinem Reichtum und mit seiner Freiheit verdunkelnd vor den gleichzeitigen deutschen Versuchen stand, deren Ernst dem spielenden Theater zudem fremd war. Der werdenden germanischen Philologie ihrerseits galten die durchaus unvolkstümlichen Versuche eines gebildeten Beamtentumes als verdächtig. So bedeutend in Wahrheit die Verdienste dieser Männer um Sprache und Volkstum, so bewußt ihr Anteil an der Bildung einer nationalen Literatur war – in ihrer Arbeit prägte die absolutistische Maxime: alles für, nichts durch das Volk zu leisten, zu deutlich sich aus als daß sie Philologen aus der Schule Grimms und Lachmanns hätte gewinnen können. Nicht zum wenigsten ein Geist, der ihnen, an dem Gerüst des deutschen Dramas Fronenden, verwehrte auf die Stoffschicht deutschen Volkstums irgendwo zurückzugreifen, macht die quälende Gewaltsamkeit ihrer Geste. Spielen doch weder deutsche Sage noch deutsche Geschichte im Barockdrama eine Rolle. Aber auch die Verbreiterung, ja die historisierende Verflachung der germanistischen Studien im letzten Drittel des Jahrhunderts kam der Erforschung des barocken Trauerspieles nicht zugute. Die spröde Form blieb einer Wissenschaft, der Stilkritik und Formenanalyse Hilfsdisziplinen letzten Ranges waren, unzugänglich und zu historisch-biographischen Skizzen konnten die aus unverstandenen Werken trübe blickenden Physiognomien der Autoren die wenigsten verleiten. Ohnehin ist von einer freien oder gar spielerischen Entfaltung des dichterischen Ingeniums in diesen Dramen keine Rede. Vielmehr haben die Dramatiker der Epoche an die Aufgabe, die Form eines weltlichen Dramas überhaupt zu erstellen, sich gewaltsam gebunden gefühlt. Und so oft sie auch, nicht selten in schablonenhaften Reprisen, um diese von Gryphius bis Hallmann sich gemüht haben – das deutsche Drama der Gegenreformation hat niemals jene geschmeidigte, jedem virtuosen Griff sich bietende Form gefunden, die Calderon dem spanischen gab. Gebildet hat es sich – und gerade weil es notwendig dieser seiner Zeit entsprang – in einer höchst gewalttätigen Anstrengung und dies allein würde besagen, daß kein souveräner Genius dieser Form das Gepräge gegeben hat. Dennoch liegt der Schwerpunkt aller barocken Trauerspiele in ihr. Was der einzelne Dichter darin fassen konnte, bleibt ihr unvergleichlich verpflichtet und ihrer Tiefe tut seine Beschränkung nicht Abbruch. Diese Einsicht ist eine Vorbedingung der Erforschung. Unerläßlich freilich bleibt auch dann noch eine Betrachtung, die fähig ist zur Anschauung einer Form überhaupt in dem Sinne sich zu erheben, daß sie anderes in ihr erblickt als eine Abstraktion am Leibe der Dichtung. Die Idee einer Form – soviel wird aus dem Vorangeschickten zu wiederholen erlaubt sein – ist nichts weniger Lebendiges als irgendeine konkrete Dichtung. Ja sie ist als Form des Trauerspiels mit einzelnen Versuchen des Barock verglichen entschieden das Reichere. Und so wie jede, auch die ungebräuchliche, die vereinzelte Sprachform gefaßt zu werden vermag nicht nur als Zeugnis dessen, der sie prägte, sondern als Dokument des Sprachlebens und seiner jeweiligen Möglichkeiten, enthält auch – und weit eigentlicher als jedes Einzelwerk – jedwede Kunstform den Index einer bestimmten objektiv notwendigen Gestaltung der Kunst. Diese Betrachtung blieb der älteren Forschung also schon darum verschlossen, weil Formanalysis und Formgeschichte ihrer Aufmerksamkeit entgingen. Aber nicht darum allein. Vielmehr hat ein sehr unkritisches Haften an der barocken Theorie des Dramas mitgewirkt. Es ist die den Tendenzen der Epoche angeglichene des Aristoteles. In den meisten Stücken war diese Angleichung eine Vergröberung. Ohne nach den erheblichen Bestimmungsgründen dieser Variation zu fahnden, war man allzuschnell bereit, von einem entstellenden Mißverständnis zu reden und von da war es zu der Auffassung, die Dramatiker der Epoche hätten im wesentlichen nichts gegeben, als die unverständige Anwendung ehrwürdiger Präzepte nicht mehr weit. Das Trauerspiel des deutschen Barock erschien als Zerrbild der antiken Tragödie. In dieses Schema wollte ohne Schwierigkeit sich fügen, was einen geläuterten Geschmack in jenen Werken befremdend, ja wohl barbarisch anmutete. Die Fabel ihrer Haupt- und Staatsaktionen entstellte das antike Königsdrama, der Schwulst das edle Pathos der Hellenen und der blutrünstige Schlußeffekt die tragische Katastrophe. So gab das Trauerspiel sich als die unbeholfene Renaissance der Tragödie. Und somit drängte eine weitere Klassifikation sich auf, die vollends jede Sicht auf diese Form vereiteln mußte: das Trauerspiel als Renaissancedrama betrachtet steht in seinen markantesten Zügen als mit ebenso vielen Stilwidrigkeiten behaftet da. Lange blieb diese Inventarisierung dank der Autorität von stoffgeschichtlichen Registern unberichtigt. Durch sie wird das höchst verdienstliche, die Literatur des Gebietes fundierende Werk von Stachel »Seneca und das deutsche Renaissancedrama« von jeder nennenswerten Wesenseinsicht, die es denn auch nicht unbedingt erstrebt, streng ausgeschlossen. In seiner Arbeit über den lyrischen Stil des XVII. Jahrhunderts hat Strich diese Äquivokation, die längst die Forschung lähmte, aufgedeckt. »Man pflegt den Stil der deutschen Dichtung im 17. Jahrhundert als Renaissance zu bezeichnen. Wenn man aber unter diesem Namen mehr versteht, als die wesenlose Nachahmung des antiken Apparates, so ist er irreführend und zeugt von dem Mangel an stilgeschichtlicher Orientierung in der Literaturwissenschaft, denn von dem klassischen Geist der Renaissance hat dieses Jahrhundert nichts gehabt. Der Stil seiner Dichtung ist vielmehr barock, auch wenn man nicht nur an Schwulst und Überladung denkt, sondern auf die tieferen Prinzipien der Gestaltung zurückgeht.«335 Ein weiterer Irrtum, der in der Geschichte von dieser literarischen Periode sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit gehalten hat, hängt mit dem Vorurteil der Stilkritik zusammen. Gemeint ist die angebliche Bühnenfremdheit dieser Dramatik. Es ist dies vielleicht nicht das erstemal, daß die Verlegenheit vor einer sonderbaren Szene zu dem Gedanken avanciert, die habe es nie gegeben, dergleichen Werke hätten nicht gewirkt, die Bühne habe sich ihnen verweigert. Zumindest in der Interpretation des Seneca begegnen Kontroversen, die früheren Diskussionen übers barocke Drama darin gleichen. Wie dem nun sei – für das Barock ist jene hundertjährige Fabel, wie sie von A. W. Schlegel336 bis auf Lamprecht337 sich vererbt, sein Drama sei ein Lesestück gewesen, widerlegt. In den heftigen Vorgängen, die die Schaulust herausfordern, spricht gerade das Theatralische mit besonderer Gewalt. Sogar die Theorie betont die szenischen Effekte bei Gelegenheit. Horazens Dictum: Et prodesse volunt et delectare poetae versetzt die Buchnersche Poetik vor die Frage, wie letzteres denn vom Trauerspiele denkbar sei und sie erwidert: von seinem Inhalt nicht, sehr wohl aber von seiner theatralischen Darstellung338.

      Die Forschung, welche mit so vielfachen Befangenheiten sich diesem Drama gegenüber fand, hat in Versuchen einer objektiven Würdigung, die wohl oder übel der Sache fremd bleiben mußten, die Verwirrungen nur gesteigert, denen nun jede Besinnung auf den Sachverhalt von Anfang an begegnen muß. Daß dabei die Sache so könnte aufgefaßt werden, von der Wirkung des barocken Trauerspiels ihre Übereinstimmung mit den von Aristoteles als Wirkung der Tragödie angesprochenen Gefühlen der Furcht sowie des Mitleids zu erweisen, um zu schließen, es sei echte Tragödie – da doch Aristoteles sich nie hat beifallen lassen zu behaupten, nur Tragödien könnten Furcht und Mitleid hervorrufen – das sollte man wohl nicht für möglich halten. Höchst skurril bemerkt ein älterer Autor: »Durch seine Studien lebte sich Lohenstein so in eine vergangene Welt ein, daß er darüber seine vergaß und in Ausdruck, Denken und Fühlen einem antiken Publikum verständlicher, als dem seiner Zeit gewesen wäre.«339 Dringender als die Widerlegung derartiger Extravaganzen mag der Hinweis erfordert werden, daß ein Wirkungszusammenhang nie eine Kunstform bestimmen kann. »Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerläßliche Forderung! Aristoteles, der das Vollkommenste vor sich hatte, soll an den Effekt gedacht haben! welch


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