Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte, ermächtigen. Auch sie sucht eine widerhistorische Neuschöpfung – in der Frau die Behauptung der Keuschheit –, welche nicht minder als die diktatorische Verfassung des Tyrannen von dem harmlosen ersten Schöpfungsstande entfernt ist. Wie hier die bürgerliche Devotion so ist die physische Askese dort das Wahrzeichen. Daher behauptet die keusche Fürstin im Märtyrerdrama den ersten Platz.
Während unter dem Terminus des Tyrannendramas auch angesichts seiner extremsten Gestaltungen niemals die theoretische Debatte ist eröffnet worden, gehört die Diskussion der Märtyrertragödie wie bekannt zum eisernen Bestände der deutschen Dramaturgie. Alle Bedenken, die aus dem Aristoteles, aus der verpönten Scheußlichkeit der Fabel und nicht zuletzt aus sprachlichen Motiven gegen die Trauerspiele des Jahrhunderts gang und gäbe waren, verblassen vor der Süffisanz mit der seit hundertfünfzig Jahren die Autoren in dem Begriff der Märtyrertragödie sie verwerfen. Nicht in der Sache, in der Lessingschen Autorität wird man den Grund dieser Einhelligkeit zu suchen haben.391 Bedenkt man die Beharrlichkeit, mit der Literaturgeschichten seit jeher die kritische Erörterung der Werke an längst verflossene Kontroversen binden, so kann die Geltung Lessings nicht verwundern. Und eine psychologische Betrachtungsweise, die nicht von der Sache selbst, sondern von ihrer Wirkung auf den zeitgenössischen Normalbürger ausgeht, dessen Verhältnis zu Bühne und Publikum bis auf die Rudimente einer gewissen Aktionslüsternheit erstorben ist, konnte da keine Korrektur vollziehen. Denn der ärmliche Affektrest der Spannung, der diesem Typus als einzige Evidenz von Theatralischem geblieben ist, kommt in der Vorführung der Märtyrergeschichte nicht auf seine Kosten. Seine Enttäuschung hat sodann die Sprache des gelehrten Protestes angenommen und mit der Feststellung des Mangels innerer Konflikte, der Abwesenheit des tragischen Verschuldens den Wert dieser Dramen endgültig zu fixieren geglaubt. Hinzu kommt die Bewertung der Intrige. Vom sogenannten Gegenspiel der klassischen Tragödie ist sie durch Isolierung der Motive, Szenen, Typen unterschieden. So wie Tyrannen, Teufel oder Juden sich auf der Bühne des Passionstheaters in abgrundtiefer Grausamkeit und Bosheit zeigen, ohne irgendwie sich aufklären oder entwickeln, ohne anderes als ihre niederträchtigen Pläne bekennen zu dürfen, liebt auch das Drama des Barock den Gegenspielern in grelles Licht gestellte Sonderszenen einzuräumen, in denen Motivierung die geringste Rolle zu spielen pflegt. Die barocke Intrige vollzieht sich, man darf es sagen, wie ein Dekorationswechsel auf offener Bühne, so wenig ist die Illusion in ihr gemeint, so aufdringlich die Ökonomie dieser Gegenhandlung betont. Nichts instruktiver als die Unbefangenheit, mit der entscheidende Motive der Intrige sich ihren Platz in Noten suchen müssen. Da räumt Herodes im Mariamne-Drama Hallmanns ein: »Wahr ists: Wir hatten ihm/ die Fürstin zu entleiben/ Im Fall uns ja Anton möcht’ unverseh’ns auffreiben/ Höchstheimlich anbefohl’n.«392 Und in der Anmerkung wird mitgeteilt: »Nehmlich aus allzugrosser Liebe gegen sie/ damit sie keinem nach seinem Tode zu theil würde.«393 Heranzuziehn – wenn nicht als Beispiel der gelockerten Intrige, so doch der unbekümmerten Komposition wäre auch der »Leo Armenius«. Die Kaiserin Theodosia selbst bewegt den Fürsten zur Verschiebung der Exekution an Balbus dem Aufrührer, die da zum Tode des Kaisers Leo führt. In ihrer langen Klage um den Gatten gedenkt sie doch mit keinem Worte ihres Einspruchs. Ein schlagendes Motiv bleibt außer acht. – Die ›Einheit‹ einer schlechtweg historischen Handlung zwang das Drama in einen eindeutigen Verlauf, und gefährdete es. Denn so sicher ein solcher Verlauf aller pragmatischen Geschichtsdarstellung zugrunde zu legen ist, so gewiß beansprucht die Dramatik von Natur Geschlossenheit, um die Totalität, die allem äußeren Zeitverlauf versagt ist, zu gewinnen. Die Nebenhandlung, sei es parallel, sei’s im Kontraste zum Hauptvorgang, garantiert ihr dies. Allein nur Lohenstein beliebt sie öfter; sonst schloß man sie aus und meinte um so sicherer, Geschichte schlecht und recht zur Schau zu stellen. Die nürnberger Schule lehrt es bieder, die Schauspiele seien Trauerspiele deshalb genannt worden, »weil vorzeiten in der Heidenschaft meistteils Tyrannen das Regiment geführet/ und darum gewönlich auch ein grausames Ende genommen«.394 So ist denn Gervinus’ Urteil über den dramatischen Aufbau des Gryphius, »daß … die Scenen nur so hinlaufen, um die Handlungen zu erklären und fortzuführen; auf dramatische Wirkung sind sie nirgends gestellt«,395 im ganzen zutreffend, wenn auch, zumindest für »Cardenio und Celinde« einzuschränken. Vor allem aber ist es von Belang, daß solche wenn auch wohlgegründeten doch isolierten Feststellungen zu Fundamenten der Kritik nicht taugen. Die dramatische Form des Gryphius und seiner Zeitgenossen steht nicht schon darum, weil sie das Dramatische der späteren nicht ausprägt, jenen nach. Ihr Wert bestimmt sich in einem Zusammenhange von eigener Bündigkeit.
In ihm ist der Verwandtschaft des barocken Dramas mit kirchlich-mittelalterlichen zu gedenken, wie sie sich im Passionscharakter zeigt. Doch hat sich die Verweisung vom Verdacht müßigen Analogisierens, das die Stilanalyse nicht fördert, sondern verdunkelt, angesichts der Aperçus einer Literatur, die unter Herrschaft der Einfühlung steht, zu reinigen. In diesem Sinne wäre zu bemerken, die Darstellung der mittelalterlichen Elemente im Drama des Barock und seiner Theorie sei hier zu lesen als ein Prolegomenon zu weitern Auseinandersetzungen von mittelalterlicher und barocker Geisteswelt, wie sie in anderem Zusammenhang begegnen werden. Daß mittelalterliche Theorien im Zeitalter der Religionskriege wieder aufleben,396 daß in »Staat und Wirtschaft, in Kunst und Wissenschaft«397 vorerst noch das Mittelalter herrschend blieb, daß seine Oberwindung, ja Benennung im Lauf des XVII. Jahrhunderts erst erfolgt,398 das alles ist längst ausgesprochen worden. Wendet der Blick gewissen Einzelheiten sich zu, so überrascht die Fülle der Belege. Selbst eine rein statistische Kompilation aus der Poetik der Epoche kommt zum Schluß, der Kern der Tragödiendefinitionen sei »genau derselbe, wie in den grammatikalischen und lexikalischen Werken des Mittelalters«.399 Und was besagt es gegen die schlagende Verwandtschaft jener Opitzschen Definition mit der kurrenten mittelalterlichen eines Boethius oder Placidus, wenn Scaliger, der sonst mit ihnen wohlverträglich ist, mit Beispielen gegen ihre Unterscheidung von tragischer und komischer Dichtung, die ja bekanntlich über das Dramatische hinausgriff, auftrat.400 Sie lautet in dem Text des Vincenz von Beauvais: »Est autem Comoedia poesis, exordium triste laeto fine commutans. Tragoedia vero poesis, a laeto principio in tristem finem desinens.«401 Ob dieses traurige Ereignis in verteilter Rede oder in prosaischem Fluß sich gibt, gilt als ein beinah wesenloser Unterschied. Demgemäß hat Franz Joseph Mone überzeugend die Bindung zwischen mittelalterlichem Schauspiel und mittelalterlicher Chronik dargetan. Es zeigt sich, »daß die Weltgeschichte von den Chronikschreibern als ein großes Trauerspiel angesehen« wurde »und die Weltchroniken mit den altdeutschen Schauspielen zusammen hängen. In so fern nämlich der jüngste Tag der Schluß jener Chroniken ist, wie das Ende des Dramas der Welt, so hängt die christliche Geschichtsschreibung freilich mit dem christlichen Schauspiele zusammen, und es kommt hier darauf an, die Äußerungen der Chronikschreiber zu beachten, welche diesen Zusammenhang deutlich angeben. Otto von Freisingen sagt (praefat ad Frid. imp.): cognoscas, nos hanc historiam ex amaritudine animi scripsisse, ac ob hoc non tam rerum gestarum seriem quam earundem miseriam in modum tragoediae texuisse. Er wiederholt dieselbe Ansicht in der praefat. ad Singrimum: in quibus (libris) non tam historias quam aerumnosas mortalium calamitatum tragoedias prudens lector invenire poterit. Die Weltgeschichte war also dem Otto eine Tragödie, zwar nicht der Form aber dem Inhalt nach.«402 Fünfhundert Jahre später, bei Salmasius, ist es dieselbe Anschauungsweise: »Ce qui restoit de la Tragedie iusques à la conclusion a esté le personnage des Independans, mais on a veu les Presbyteriens iusques au quatriesme acte et au delà, occuper auec pompe tout le theatre. Le seul cinquiesme et dernier acte est demeure pour le partage des Independans; qui ont paru en cette scene, apres auoir sifflé et chasse les premiers acteurs. Peut estre que ceux-là n’auroient pas fermé la scene par vne si tragique et sanglante catastrophe.«403 Hier, weitab von dem Gehege der hamburgischen, geschweige der nachklassischen Dramaturgie, in der ›Tragödie‹, die das Mittelalter vielleicht mehr noch in die dürftige Überlieferung der antiken Dramenstoffe hineininterpretierte, als in seinen Mysterien realisiert sah, eröffnet sich die Formwelt des barocken Trauerspiels.
Indessen: wo das christliche Mysterium wie die christliche Chronik das Ganze des Geschichtsverlaufs, den welthistorischen als einen heilsgeschichtlichen, vor Augen stellen, hat die Haupt- und Staatsaktion mit einem bloßen Teile des pragmatischen Geschehns zu tun. Die Christenheit oder Europa ist aufgeteilt in eine Reihe von europäischen