Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.Dreiheit griechischen Lebens – auf den Agon als Schema weist die »Griechische Kulturgeschichte« Jacob Burckhardts499 – schließt sich im Zeichen des Vertrags zusammen. »Im Kampf gegen Fehderecht und Selbsthilfe sind Gesetzgebung und Verfahren in Hellas geformt worden. Wo die Neigung zur Eigenmacht schwand oder es dem Staate gelang, sie einzudämmen, trug der Prozeß doch zunächst nicht den Charakter eines Nachsuchens um richterliche Entscheidung, sondern den einer Sühneverhandlung … Im Rahmen eines solchen Verfahrens, dessen Hauptziel nicht war, das absolute Recht zu finden, sondern den Verletzten zum Verzicht auf Rache zu bewegen, mußten sakrale Formen für Beweis und Spruch um des Eindrucks willen, den sie auch auf den Unterliegenden nicht verfehlten, eine besonders hohe Bedeutung gewinnen.«500 Der antike Prozeß – der Strafprozeß insbesondere – ist Dialog, weil gebaut auf die Doppelrolle von Kläger und Beklagtem, ohne Offizialverfahren. Er besitzt seinen Chor teils in den Schwurgenossen (denn z. B. im altkretischen Recht traten die Parteien den Beweis mit Eideshelfern an, das heißt mit Leumundszeugen, die sich ursprünglich auch mit Waffen im Ordal für das Recht ihrer Partei verbürgen), teils in dem Aufgebot der das Gericht um Erbarmen anflehenden Genossen der Beklagten, teils endlich in der richtenden Volksversammlung. Für athenisches Recht ist das Wichtige und Charakteristische der dionysische Durchschlag, daß nämlich das trunkene, ekstatische Wort die reguläre Verzirkelung des Agon durchbrechen durfte, daß eine höhere Gerechtigkeit aus der Überzeugungskraft der lebendigen Rede erwuchs als aus dem Prozeß der mit Waffen oder in gebundenen Wortformen einander widerstreitenden Sippen. Das Ordal wird durch den Logos in Freiheit durchbrochen. Dies ist zutiefst die Verwandtschaft von Gerichtsprozeß und Tragödie in Athen. Das Wort des Helden, wo es vereinzelt den starren Panzer des Selbst durchbricht, wird zum Schrei der Empörung. Die Tragödie geht ein in dies Bild des Prozeßverfahrens; eine Sühneverhandlung findet auch in ihr statt. Daher lernen bei Sophokles und bei Euripides die Helden »nicht sprechen … bloß debattieren«, daher rührt, daß »der antiken Dramatik die Liebesszene fremd ist«.501 Ist aber der Mythos im Sinn des Dichters die Verhandlung, so ist seine Dichtung Abbildung und Revision des Verfahrens zugleich. Und dieser ganze Prozeß ist gewachsen um die Dimension des Amphitheaters. Die Gemeinde wohnt dieser Wiederaufnahme des Verfahrens bei als kontrollierende Instanz, ja als richtende. Ihrerseits sucht sie über den Vergleich zu befinden, in dessen Auslegung der Dichter das Gedächtnis der Heroenwerke erneuert. Aber es klingt im Schluß der Tragödie ein non liquet stets mit. Die Lösung ist zwar jeweils auch Erlösung; doch nur jeweilige, problematische, eingeschränkte. Das Satyrspiel wie es vorangeht oder folgt ist Ausdruck dessen, daß auf das non liquet des dargestellten Prozesses nur ein Elan der Komik vorbereitet oder reagiert. Und auch darin behauptet sich der Schauer des undurchdringlichen Endes: »Der Held, der Furcht und Mitleid in andern erweckt, bleibt selber unbewegtes starres Selbst. Im Beschauer wiederum schlagen sie sofort nach innen, machen auch ihn zum in sich selber eingeschlossenen Selbst. Jeder bleibt für sich, jeder bleibt Selbst. Es entsteht keine Gemeinschaft. Und dennoch entsteht ein gemeinsamer Gehalt. Die Selbste kommen nicht zueinander, und dennoch klingt in allen der gleiche Ton, das Gefühl des eigenen Selbst.«502] Ihre verhängnisvolle und nachhaltige Auswirkung hat die prozessuale Dramaturgie der Tragödie in der Lehre von den Einheiten gehabt. An dieser ihrer sachlichsten Bestimmtheit geht demnach auch die tiefe Interpretation vorüber, die da meint: »Die Einheit des Ortes ist das selbstverständliche, nächstliegende Sinnbild dieses Stehengeblieben-seins inmitten der immerwährenden Wechsel des umgebenden Lebens; darum der technisch notwendige Weg zu seiner Gestaltung. Das Tragische ist nur ein Augenblick: das ist der Sinn, den die Einheit der Zeit ausspricht.«503 Nicht daß dies anzuzweifeln wäre – ja das befristete Auftauchen der Heroen aus der Unterwelt gibt diesem Innehalten zeitlichen Verlaufs den höchsten Nachdruck. Jean Paul verleugnet doch nur die erstaunlichste Divination, wenn er rhetorisch zur Tragödie meint: »Wer wird zu öffentlichen Festspielen und vor eine Menge düstere Schattenwelten vorführen?«504 Niemand zu seiner Zeit erträumte sonst dergleichen. Aber wie überall, so liegt auch hier die fruchtbarste Schicht metaphysischer Deutung in der Ebene des Pragmatischen selbst. In der ist die Einheit des Orts: die Gerichtsstätte; die Einheit der Zeit: die seit je – im Sonnenumlauf oder anders – eingegrenzte des Gerichtstags; und die Einheit der Handlung: die der Verhandlung. Diese Umstände sind es, welche die Gespräche des Sokrates zum unwiderruflichen Epilog der Tragödie machen. Dem Helden selber wächst in seiner eigenen Lebenszeit nicht nur das Wort, sogar die Schar der Jünger, seiner jugendlichen Sprecher zu. Sein Schweigen, nicht sein Reden wird von nun an aller Ironie voll sein. Sokratischer, die das Gegenteil ist von tragischer. Tragisch ist das Entgleisen der Rede, die da unbewußt die Wahrheit des heldischen Lebens berührt, das Selbst, dessen Verschlossenheit so tief ist, daß es auch da nicht erwacht, wo es sich träumend beim Namen ruft. Das ironische Schweigen des Philosophen, das spröde, mimenhafte, ist bewußt. An Stelle des Opfertodes des Heros gibt Sokrates das Beispiel des Pädagogen. Den Kampf aber, den dessen Rationalismus der tragischen Kunst angesagt hatte, entscheidet Platons Werk mit einer Überlegenheit, die zuletzt den Herausforderer entscheidender traf als die Geforderte, gegen die Tragödie. Denn dies geschieht nicht in dem rationalen Geist des Sokrates, vielmehr im Geist des Dialoges selbst. Wenn am Ende des »Symposion« Sokrates, Agathon und Aristophanes einsam einander gegenübersitzen sollte es nicht das nüchterne Licht seiner Dialoge sein, das Platon da überm Diskurs vom echten Dichter, der gleicherweise Tragik wie Komödie in sich halte, mit dem Morgen über den Dreien hereinbrechen läßt? Im Dialog tritt die reine dramatische Sprache diesseits von Tragik und von Komik, ihrer Dialektik, auf. Dies Reindramatische stellt das Mysterium, welches in den Formen des griechischen Dramas sich allmählich verweltlicht hatte, wieder her: seine Sprache ist als die des neuen Dramas zumal die des Trauerspiels.
Indem die Tragödie dem Trauerspiel gleichgesetzt wurde, hätte man es recht auffallend finden sollen, daß die Aristotelische Poetik von Trauer als der Resonanz des Tragischen schweigt. Jedoch weit entfernt davon, hat die neuere Ästhetik oft geglaubt, im Begriff des Tragischen selber ein Gefühl, die Gefühlsreaktion auf Tragödie und Trauerspiel, ergriffen zu haben. Tragik ist eine Vorstufe der Prophetie. Sie ist ein Sachverhalt, der nur im Sprachlichen sich findet: tragisch ist das Wort und ist das Schweigen der Vorzeit, in denen die prophetische Stimme sich versucht, Leiden und Tod, wo sie diese Stimme erlösen, niemals ein Schicksal im pragmatischen Gehalt seiner Verwicklung. Das Trauerspiel ist pantomimisch denkbar, die Tragödie nicht. Denn an das Wort des Genius ist der Kampf gegen die Dämonie des Rechts gebunden. Die psychologistische Verflüchtigung des Tragischen und die Gleichsetzung von Tragödie und Trauerspiel gehören zusammen. Deutet doch schon des letztern Name darauf hin, daß sein Gehalt die Trauer im Betrachter weckt. Das heißt gar nicht, er lasse in Kategorien der empirischen Psychologie besser als jener der Tragödie sich entfalten – dürfte weit eher schon besagen, daß viel besser als der Zustand der Betrübnis diese Spiele einer Beschreibung der Trauer zu dienen vermöchten. Denn sie sind nicht so sehr das Spiel, das traurig macht, als jenes, über dem die Trauer ihr Genügen findet: Spiel vor Traurigen. Ihnen eignet eine gewisse Ostentation. Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden, angeordnet, wie sie gesehen werden wollen. So ist das Renaissancetheater Italiens, welches mannigfach ins deutsche Barock hinüberwirkt, aus der puren Ostentation, nämlich aus den Trionfi,505 den Umzügen mit erläuternder Rezitation entstanden, die unter Lorenzo von Medici in Florenz aufkamen. Und im ganzen europäischen Trauerspiel ist denn auch die Bühne nicht streng fixierbar, eigentlicher Ort, sondern dialektisch zerrissen auch sie. Gebunden an den Hofstaat bleibt sie Wanderbühne; uneigentlich vertreten ihre Bretter die Erde als erschaffnen Schauplatz der Geschichte; sie zieht mit ihrem Hof von Stadt zu Stadt. Der griechischen Anschauung aber gilt die Bühne als kosmischer Topos. »Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal: die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte das Bild des Dionysus offenbar wird.«506 Es mag dahingestellt sein, ob diese schöne Beschreibung zutrifft, ob etwa nach Analogie der Gerichtsschranken ›die Scene wird zum Tribunal‹ für jede ergriffene Gemeinde werden müssen – in jedem Falle ist die griechische Trilogie nicht wiederholbare Ostentation, sondern einmalige Wiederaufnahme des tragischen Prozesses in höherer Instanz. Es ist, wie schon das offene Theater und die auf gleiche Weise niemals repetierte Darstellung es nahelegt, ein entscheidender Vollzug im Kosmos, was in ihr sich abspielt. Um dieses Vollzuges willen und als sein