Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.rief Herr Pickwick; »fort?«
»Fort«, wiederholte Herr Snodgraß.
»Wo?« rief Herr Pickwick.
»Wir können nur Vermutungen aufstellen, die uns diese Zeilen an die Hand geben«, entgegnete Herr Snodgraß, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. Gestern morgen, als ein Brief von Herrn Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, die sich unseres Freundes tags zuror schon bemächtigt hatte, zunahm. Bald nachher verschwand er. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend brachte uns der Stallknecht aus der Krone in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit der ausdrücklichen Einschärfung, ihn vor Abend nicht abzugeben.
Herr Pickwick öffnete den Brief. Es war die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:
»Mein lieber Pickwick!
Sie, mein teurer Freund, sind außer dem Bereich vieler Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch so gern anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, auf einmal von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie erfahren mögen.
Ein Brief unter der Adresse Lederne Flasche, Cobham in Kent' wird an mich gelangen – wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden ist. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so bemitleiden Sie mich, und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele flammt, ist des Lastträgers Tragriemen, an dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen hängt – nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit – ach, dieser Name! –
Tracy Tupman.«
»Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen«, sagte Herr Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenlegte. »Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hier zu bleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen.«
Mit diesen Worten ging er nach dem Hause voran.
Er tat daselbst unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringendsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.
Der alte Geistliche war zugegen.
»Wie, ist's Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?« sagte er, indem er Pickwick beiseite nahm.
Herr Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.
»So empfangen Sie hier ein kleines Manuskript«, fuhr der alte Herr fort, »von dem ich mir das Vergnügen versprach, es Ihnen selbst vorzulesen. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir – eines Arztes an dem Irrenhaus unserer Grafschaft. Die Papiere wurden mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, überantwortet. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irren herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen, oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt – lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst.«
Herr Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.
Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundchaft genossen hatten. Herr Pickwick küßte die jungen Damen – wir hätten beinahe gesagt, als ob sie seine eigenen Töchter gewesen wären. Aber es schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemischt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre. Er umarmte die Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes und tätschelte die roten Wangen der Dienstmädchen in ziemlich patriarchalischer Weise, während er in die Hände einer jeden einige substantiellere Beweise seines Wohlwollens drückte. Noch herzlicher war der Abschied von ihrem wackeren alten Wirt und Herrn Trundle, und sie vermochten sich erst von den freundlichen Menschen loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Herr Snodgraß aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald hernach Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte.
Sie sahen oft nach Manor Farm zurück, als sie langsam weitergingen, und Herr Snodgraß warf manches Kußhändchen nach einem Gegenstand in die Luft, der ziemlich wie ein Damentaschentuch aussah und solange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie in einen Feldweg einbogen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester.
Als sie an diesem Ort anlangten, hatte sich das Übermaß ihres Schmerzes soweit gelegt, daß sie ein ausgezeichnetes Mittagessen zu sich nehmen konnten. Sobald sie dann die nötigen Erkundigungen über den Weg eingeholt hatten, setzten sich die drei Freunde wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach Cobham22 zu machen.
Es war ein köstlicher Spaziergang – ein angenehmer Juninachmittag, wobei sie der Weg durch einen dichten, schattigen Wald führte. Der kühle, leichte Wind säuselte sanft in dem reichen Blätterwerke, und die Vögel auf den Zweigen belebten die Landschaft durch ihre Lieder. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidener Teppich. Sie gelangten in einen offenen Park mit einer alten Halle in der malerischen und eigenartigen Bauart aus Elisabeths Zeiten. Auf jeder Seite zeigten sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen; große Rudel von Hochwild erquickten sich an dem frischen Grase. Hin und wieder lief ihnen ein aufgeschreckter Hase ebenso schnell über den Weg, wie die von den leichten Wolken geworfenen Schatten, einem Sommerlüftchen gleich, über ein sonnige Landschaft dahinfliegen.
»O wenn doch« – rief Herr Pickwick, sich in der Gegend umsehend – »wenn doch alle, die mit unserm Freunde das gleiche Leiden bedrückt, hierher kämen! Gewiß, die frühere Liebe zu der Welt müßte bald wieder zurückkehren.«
»Mir aus der Seele gesprochen«, sagte Herr Winkle.
»Und in der Tat«, fügte Herr Pickwick nach einer halben Stunde, als sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, »wenn man dabei bedenkt, daß ein Menschenhasser diesen Park geschaffen hat, so muß man sagen, daß das der schönste und lieblichste Aufenthalt ist, der mir je zu Gesicht kam.«
Auch damit waren Herr Winkle wie Herr Snodgraß einverstanden. Sie fragten nun nach der Ledernen Flasche und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das die drei Reisenden traten und sich nach einem Herrn, Namens Tupman, erkundigten.
»Fuhre die Herren ins Gastzimmer, Tom«, sagte die Wirtin.
Ein stämmiger Bauernbursche öffnete an dem Ende des Hausflurs eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes niedriges Zimmer, in dem eine große Zahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand. Eine Reihe alter Porträts und rauhkolorierter altertümlicher Bilder zierten die Wände. Am oberen Ende stand eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen. Dahinter aber war Herr Tupman in einer Weise beschäftigt, die auf nichts weniger, als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.
Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Herr Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen.
»Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen«, sagte er, Herrn Pickwicks Hand ergreifend. »Es ist zu gütig von Ihnen.«
»Ach«, sagte Herr Pickwick, indem er sich niedersetzte und den Schweiß, den ihm der Spaziergang verursacht, von der Stirn wischte. »Beenden Sie Ihr Mahl, und kommen Sie dann ein wenig mit mir ins Freie. Ich wünsche allein mit Ihnen zu sprechen.«
Herr Tupman tat, was von ihm verlangt wurde, und Herr Pickwick labte sich inzwischen an einer Kanne Bier. Die Mahlzeit wurde schleunigst beendet, und beide gingen miteinander hinaus.
Man sah sie ungefähr eine halbe Stunde in dem Kirchhof auf und ab spazieren, in der Herr Pickwick sich alle Mühe gab, den fürchterlichen Entschluß seines Freundes