Warum musste Abel sterben?. Anselm Grün

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Warum musste Abel sterben? - Anselm Grün


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der damit droht, ganz wesentliche menschliche Beziehungen, also die zwischen Vater und Sohn, in dieser Art zu zerstören? Beschreibt uns die Bibel hier tatsächlich einen Gott, der Gehorsam befiehlt bis hin zu Sadismus und zur Grausamkeit? Sollte diese Opferung tatsächlich der Wunsch Gottes gewesen sein, dann wäre es das existenziell Bedrohlichste, was möglich wäre, um Gott zu gehorchen. Dann wäre dem Sadismus und der Gewalt im Namen Gottes Tür und Tor geöffnet.

      Es ist deshalb eine zentrale Frage, die sich jeder religiöse Mensch zu stellen hat, was Gehorsam gegenüber Gott ist. Und wenn wir diese Frage nicht wirklich beantworten, dann verstehen wir etwas Wesentliches in der Bibel nicht. Am einfachsten wäre es, wenn wir uns unserer individuellen Verantwortung nicht stellen wollen, die Frage an die soziale Gruppe oder an das Kollektiv zu delegieren. In der Regel wäre es dann die Gruppe, die Gemeinde der Gläubigen bzw. die Kirche, die sagt, wie ein entsprechender Gottesbefehl auszulegen ist. Im christlichen Abendland hat aber gerade dieses Vorgehen eine lange und schlimme Tradition: zu gehorchen, wegzuschauen, den Kopf in den Sand zu stecken und sich zu weigern, eine eigenständige Position zu entwickeln. In der Kirchengeschichte gibt es unzählige Beispiele von blindem Gehorsam, die viel Unheil angerichtet haben. Insbesondere nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus muss uns ein solcher blinder Gehorsam unheimlich geworden sein.

      Wir wünschen uns heute in den Schulen für unsere Kinder eine Pädagogik, die Mut macht, an sich selbst zu glauben und die Sensibilität für eigene Entscheidungsfähigkeit einübt. Wir wünschen uns, dass jeder Mensch zu den Dingen Zugang findet, an denen er wachsen und reifen kann. Menschliches Lebensglück ist davon abhängig, ob dies in den entscheidenden ersten zehn Lebensjahren gelingt. Aber, so könnte man einwenden, besteht dann nicht die Gefahr, dass eine solche Perspektive den Egoismus fördert? Selbstfindung und Selbstverwirklichung kann durchaus auch heißen, auf die Umwelt und Mitwelt nur bedingt zu reagieren. Jeder Mensch muss jedoch auch lernen, sich in seinem erwachsenen Leben in unterschiedlicher Weise auf Situationen einzulassen und sie auszuhalten bzw. Opfer zu bringen.

      Wenn wir einen Blick auf die Kulturen und Religionen der Welt werfen, wird in vielen sehr genau beschrieben, wie Opfer gebracht werden müssen, um Glück zu gewinnen. Bei den Azteken waren Menschenopfer nötig, um die Sonne zum Leuchten zu bringen. In der griechischen Antike beschreibt der Dramatiker Aischylos, dass Agamemnon seine Tochter Iphigenie zu opfern habe, damit die Windstille beseitigt werde, um die Schiffe vor Troja in Fahrt zu bringen. Im Buch der Richter im Alten Testament wird erzählt, dass Jiftach auszieht, um Israel gegen den Angriff der Feinde zu verteidigen, und er verspricht, dass er bei einem Sieg aus Dankbarkeit für das Glück im Kampf seine eigene Tochter opfern wird. So altertümlich und legendenhaft das klingt, ist es nicht dennoch ein Teil unserer Wirklichkeit?

      Wenn wir uns in unserer unmittelbaren Nähe oder in unserer Gesellschaft umblicken, gibt es viele Menschen, die glauben, etwas opfern zu müssen, um Größeres zu erreichen. Eltern erklären auch heute noch ihren Kindern, dass sie Verzicht üben müssen, bevor sie »richtig leben« können: Erst muss ein Haus gebaut werden, erst muss die wirtschaftliche Lage gesichert sein. Bevor etwas angeschafft wird, muss gespart werden. Das Leben vertröstet sich auf morgen, und ein Tag nach dem anderen wird für eine Zukunft geopfert, die möglicherweise nie eintritt.

      Wie viele von uns hatten schon den Gedanken: Diese Situation muss ich jetzt aushalten. Ich muss mich ein- und unterordnen, mich unter Umständen auch quälen und missbrauchen lassen, damit ich in eine bessere Zukunft komme. Das Gefühl, Opfer bringen zu müssen, um sich im Leben und in der Gesellschaft einen angestrebten Platz zu erwerben, scheint für viele Menschen normal zu sein. Ohne Schmerz gibt es kein Glück. Das heißt aber auch, dass eine Form des verinnerlichten Sadismus zu den Selbstverständlichkeiten unseres Lebens gehört. Wenn wir das auf die Religion übertragen, sehen wir, dass es noch immer viele gibt, die glauben, näher bei Gott zu sein, indem sie ihre Triebregungen, ihre Neigungen, ihre Vorstellungen und Fantasien, die sie als unmoralisch empfinden, opfern.

      Versuchen wir nun die Geschichte Abrahams und Isaaks auf eine andere Weise zu verstehen und an die Stelle des Gehorsams und des Opfers einen anderen Blick zu setzen. Abraham wird von Gott in eine Lage gebracht, in der er nicht einmal seiner Frau Sara erklären kann, welchen Befehl er erhalten hat. Ethisch betrachtet ist das, was er tun soll, ein Verbrechen. So versucht der Patriarch die argwöhnische Frau und Mutter zu hintergehen. Er sagt zu Sara: »Bereite uns Speise und Trank, wir wollen essen und fröhlich sein!« Als sie dann mitten im Essen waren, sagte er: »Du weißt, dass ich im Alter von drei Jahren meinen Schöpfer erkannt habe; der Knabe ist nun groß und ist nicht eingeweiht. Es gibt aber einen Ort, nicht sehr weit von uns, wo selbst die Knaben eingeweiht werden. Ich will ihn nehmen und dort einweihen.« Sie antwortet: »Gehe in Frieden.« Er brach schon morgens früh auf, da er Angst hatte, dass seine Gemahlin Verdacht schöpfen könnte, dass irgendetwas nicht stimmt. Die Angst, die Sara um ihren Sohn hat, zeigt sich dann später in der fürsorglichen Liebe des Sohnes zu seiner Mutter. Diese kommt in der letzten Bitte Isaaks bei seiner Bindung zum Ausdruck: Er fürchtet, die Nachricht von seiner Opferung könnte die Mutter zu einer tödlichen Kurzschlusshandlung veranlassen. Tatsächlich ist es dann auch so, dass Sara im Folgekapitel stirbt, möglicherweise als Reaktion auf Isaaks Bindung, wenngleich die Opferung nicht vollzogen wird.

      Insofern wäre der Tod Saras durchaus auch als ein Gradmesser der latenten Grausamkeit des göttlichen Befehls und väterlichen Gehorsams zu verstehen. An dieser Stelle ist es nun aber wichtig zu fragen, wie von Gott gesprochen wird. Wenn wir uns fragen, was Gott will, so könnten wir darauf verweisen, dass es wichtig wäre, die Zehn Gebote einzuhalten. Es ist nötig, zumindest die Bergpredigt zur Kenntnis zu nehmen, um danach zu leben. Dies wären zumindest zwei wichtige Aspekte, die aus der Bibel direkt herauszulesen sind. Für viele Menschen spricht Gott aber auch dadurch, wie Theologen und die Kirche ihn auslegen, also durch eine Gruppe. Für den Einzelnen ist nichts weiter vorgesehen, als sich daran zu halten. Entscheidend müsste aber doch eigentlich sein, in Gott eine Person wiederzufinden, die unserer menschlichen Person etwas zu sagen hat. Das heißt, Gott müsste sich im Dialog, im direkten Gespräch, im Gebet einem Menschen zuwenden und mit ihm ihn Kontakt treten. Daraus könnten sich dann Wahrheiten entwickeln, die nur im Einzelfall gelten und die in der Außenwelt nicht mehr zu rechtfertigen wären. Es gibt viele Menschen, die nur darauf warten, dass sie aus ihrer Einsamkeit heraus einmal darüber sprechen können, wie sie sich fühlen und wie sie die Welt, in der sie leben, empfinden. Dabei geht es nicht darum, eine Erklärung zu finden, warum etwas Tragisches oder Schlimmes passiert ist, sondern häufig nur darum, dass da jemand ist, der sagt: »Ich möchte bei dir sein, ich möchte dich verstehen.«

      Viele befinden sich in ausweglosen Situationen und müssen Entscheidungen treffen, die schwierig sind, die aber das Leben ihnen abfordert. So erzählte mir ein Mann, wie sehr er darunter leidet, seine Frau und seine Kinder verlassen zu haben. Er spürte, dass seine Wesensart sich nicht mit den Vorstellungen vertrug, die seine Frau von ihm hatte. Gleichzeitig hing sie aber sehr an ihm und konnte ohne ihn nur in Panik und Angst leben. Auch seine Kinder schienen nur schwer zu verstehen, dass er sie verließ. Und dennoch, so meinte der Mann, war es das Beste, was er tun konnte. Wäre das nicht ein Beispiel, um zu begreifen, was es bedeutet, alles abgeben zu müssen, damit es im Leben gut weitergehen kann? Wenn das so wäre, dann sind wir ganz nahe bei der Geschichte von Abraham. Ich meine, man muss sie so verstehen, dass ein Mensch sich ganz in das Gefühl hineinbegibt, was Gott sein könnte. Das ist der ganz unmittelbare Dialog zwischen Gott und einem Individuum. Da steht ein einzelner Mensch vor seinem Gott, und nur in dieser Beziehung entwickelt sich etwas, was passend und richtig ist. Daraus ließe sich folgern, dass das Ende all der Vorstellungen gekommen ist, in der wir den göttlichen Willen in das Ethisch-Allgemeine aufheben und Religion für eine Funktion der Moral erklären. Der Einzelne vor seinem Gott würde heißen, dass die Personalität Gottes und unsere eigene Person ins Zentrum des Geschehens rücken. Das ist doch aber auch das Großartige an Abraham, dass er das Äußerste wagte und sich in seinem Glauben verankert wusste. Glauben, das ist die Verheißung Gottes an Abraham aus dem zwölften Kapitel der Genesis, ein zahlreiches Volk zu werden. Abraham hörte nicht auf, an Gott zu glauben für dieses Leben, das er zur Verfügung hatte. Das ist die Größe dieses Mannes. Zeichnet das nicht einen gläubigen Menschen aus, dass er hofft, dass Gott ihm alles zurückgibt, was er im Begriff war wegzugeben? Ist es nicht ein ungeheurer Gedanke, sich Gott so anzuvertrauen und sich tragen zu lassen, bis zum Wiedererhalt


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