Der sterbende Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle

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Der sterbende Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle


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richtigen Ableitung und Ausdeutung von Tatorten viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen. Der Anfänger wird immer gut tun, ehe er sich an die Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche die größten Schwierigkeiten bieten, sich auf einfachere Aufgaben zu beschränken. Zur Übung möge er zum Beispiel bei der flüchtigen Begegnung mit einem Unbekannten den Versuch machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe, und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden. An den Fingernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den Stiefeln, den Hosenknien, der Hornhaut an Daumen und Zeigefinger, dem Gesichtsausdruck und vielem andern, läßt sich die tägliche Beschäftigung eines Menschen deutlich erkennen. Daß ein urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu vereinigen weiß, nicht zu einem richtigen Schluß gelangen sollte, ist einfach undenkbar.«

      Das ist sein Geheimnis – das ganze Geheimnis, das seine Meisterschaft begründet. So wird er zum Lehrmeister, nicht nur für den Freund – nein, auch für uns, die wir seine dankbaren Freunde werden und bleiben. Wir lieben ihn heute noch, wie wir ihn einst geliebt haben – er ist noch immer unverbraucht, noch immer gleich fähig, uns zu sich zu ziehen und festzuhalten. Und das ist der beste Beweis dafür, daß es gut und richtig mit ihm ist, daß er kein Scharlatan ist, wie die vielen, die es ihm gleichtun wollen, er ist ein ehrlicher Bursche, ein anständiger Kerl, mit dem es sich gut hausen läßt und der alle Spiegelfechtereien verabscheut.

      Ist es eigentlich ein Wunder, wenn es sehr gescheite und recht gebildete Leute gibt, die freimütig bekennen, daß ihnen die Lektüre eines guten Kriminalromans eine rechte Entspannung und Anregung bedeutet? Und daß ihnen Sherlock Holmes lieber ist als mancher schmachtende Romanheld, den die Mitwelt verhimmelt und die Nachwelt verlacht?

      So bleibt auch sein Schöpfer der Meister unter den Kriminalromanschreibern – weil er wirklich ein Dichter ist, weil er mit den einfachsten Mitteln die größten Wirkungen erreicht – ohne allen faulen Zauber, ohne ein Massenaufgebot von Schauerlichkeiten und ohne falsche Verherrlichung des Verbrechens. Sie haben alle von ihm gelernt, seine fingerfertigen Nachahmer und Nachfolger – aber keiner hat ihn erreicht.

      Und darum: Zurück zu Sherlock Holmes!

      Frau Hudson, unsere Hauswirtin in der Bakerstraße, war eine geduldige Frau und von großer Langmut. Nicht nur wurde ihr erstes Stockwerk zu allen Stunden des Tages und der Nacht von den zahlreichsten und oft auch zweifelhaftesten Menschen überflutet, sondern ihr Mieter Sherlock Holmes zeigte in seiner Lebensführung eine Unregelmäßigkeit und Absonderlichkeit, die ihre Geduld oft hart auf die Probe gestellt haben muß. Seine unglaubliche Unordentlichkeit, seine Vorliebe, zu den ungewöhnlichsten Stunden »Musik« zu machen, sein gelegentliches Pistolenschießen im Flur, seine qualmigen und oft recht übelriechenden wissenschaftlichen Versuche und schließlich die ganze Atmosphäre von Gefahr und Verbrechen, die ihn umgab, machten ihn sicher zu einem der unbequemsten Mieter in ganz London. Andererseits bezahlte er wie ein Fürst. Ich bezweifle kaum, daß das ganze Haus um den Preis hätte gekauft werden können, den Holmes für seine Zimmer während der Jahre bezahlte, die ich mit ihm zusammen wohnte.

      Die Hauswirtin hatte den denkbar größten Respekt vor ihm und wagte nie, Einwendungen zu erheben, mochte das Benehmen meines Freundes auch mehr als nur ungewöhnlich sein. Auf ihre Art liebte sie ihn sogar, denn er war im Verkehr mit Frauen von einer merkwürdigen Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Er verachtete das ganze Geschlecht und mißtraute ihm, aber er war stets ein ritterlicher Gegner.

      Da ich wußte, wie sehr mein Freund bei Frau Hudson in Ansehen und Achtung stand, so folgte ich sehr ernsthaft ihrer Erzählung, als sie im zweiten Jahre nach meiner Verheiratung zu mir kam und mir den traurigen Zustand Holmes' offenbarte, in dem er sich seit kurzem befand.

      »Er stirbt, Doktor Watson«, sagte sie. »Seit drei Tagen sieht man ihn dahinsiechen, und es scheint mir fraglich, ob er den heutigen Tag überleben wird. Er wollte nicht, daß ich einen Doktor hole, aber heute morgen, als ich sah, wie ihm die Knochen aus dem Gesicht stehen, und er mich mit fiebrigen Augen anstierte, konnte ich es nicht länger aushalten. ›Mit Ihrer Einwilligung oder gegen Ihren Willen, Herr Holmes, geh ich jetzt augenblicklich, einen Arzt rufen‹, sagte ich. ›Dann holen Sie mir wenigstens Watson‹, sagte er. An Ihrer Stelle würde ich keinen Augenblick verweilen, Herr Doktor, wenn Sie ihn noch lebend antreffen wollen.«

      Ich war entsetzt, denn ich hatte keine Ahnung von seiner Krankheit. Überflüssig, zu bemerken, daß ich sofort nach Überrock und Hut griff und mich auf den Weg machte. Als ich mit ihr zurückfuhr, fragte ich sie nach Einzelheiten.

      »Da kann ich Ihnen nur wenig sagen, Herr Doktor; er arbeitete an einem Fall drunten in Rotherhite, in einer Gasse nahe an der Themse, und von dort hat er die Krankheit mitgebracht. Er legte sich am Donnerstagnachmittag zu Bett und hat es seitdem nicht mehr verlassen. Diese ganzen drei Tage hat er weder Nahrung zu sich genommen, noch irgend etwas getrunken.«

      »Um Gottes willen! Warum haben Sie nicht früher einen Arzt geholt?«

      »Er hat es ja verboten gehabt, Herr Doktor. Sie wissen ja, wie streng er ist. Ich wagte nicht, seinen Befehl zu mißachten, aber er weilt nicht mehr lange unter uns, das werden Sie selber im gleichen Augenblick schon merken, wo Sie ihn erblicken. Es ist schrecklich.«

      Er bot in der Tat einen kläglichen Anblick. In dem dämmerigen Licht eines nebeligen Novembertages war das Krankenzimmer ein düsteres Loch, aber was einen Kälteschauer in mein Herz dringen ließ, war dies geisterhafte, verwüstete Antlitz, das mich vom Bett aus anstierte. Seine Augen glitzerten vor Fieber, hektische Röte lag auf beiden Backen, und dunkle Krusten klebten an seinen Lippen; die skeletthaft mageren Hände auf der Decke zuckten unausgesetzt, seine Stimme war heiser und halb erstickt. Er lag gänzlich leblos da, als ich ins Zimmer trat, aber mein Anblick zauberte einen flüchtigen Freudenschimmer in seine Augen.

      »Ah, Watson, es scheint, es kommen jetzt die Tage, die uns nicht gefallen«, sagte er mit matter Stimme, aber wie mir schien, mit seiner früheren Sorglosigkeit.

      »Mein lieber Holmes!« rief ich und trat zu ihm ans Bett.

      »Zurück! Zurück da!« sagte er mit dem scharf befehlenden Klang, den seine Stimme nur in Augenblicken der Gefahr annahm. »Wenn du näher kommst, Watson, dann schicke ich dich wieder nach Hause.«

      »Aber warum denn?«

      »Weil ich es will. Genügt dir das nicht?«

      Ja, Frau Hudson hatte recht, er war herrischer als je. Indes war es herzbrechend, seine Erschöpfung zu sehen.

      »Ich kam ja nur, um dir zu helfen«, erklärte ich.

      »Gewiß! Du hilfst mir am besten, wenn du das tust, was ich dir sage.«

      »Wie es dich gut dünkt, Holmes.«

      Er verzichtete auf den befehlenden Ton.

      »Du bist doch nicht ärgerlich?« fragte er und rang nach Atem.

      Armer Kerl, wie konnte ich ärgerlich sein, wenn ich ihn in diesem Zustand der Auflösung vor mir liegen sah!

      »Es ist zu deinem eigenen Besten, Watson«, sprach seine rauhe Stimme.

      »Zu meinem Besten?«

      »Ich weiß, was mit mir los ist. Es ist eine Kulikrankheit von Sumatra – eine Infektion, von der die Holländer mehr verstehen als wir, obwohl sie bis jetzt medizinisch noch nicht viel darüber gearbeitet haben. Eines nur steht fest: die Krankheit ist absolut tödlich und in erschreckendem Maße ansteckend.«

      Er sprach jetzt mit fieberhafter Erregung, seine Hände zuckten und sprangen, als er mich abwehrte.

      »Ansteckend durch Berührung, Watson – das ist es: durch Berührung! Bleib mir vom Leibe, und du bist nicht gefährdet.«

      »Beim Himmel, Holmes, glaubst du denn, daß eine solche Sicherheitserwägung mich auch nur einen Augenblick zurückhalten könnte? Nicht einmal wenn der Patient ein Fremder wäre. Glaubst du, das


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