Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Amartya Sen
Читать онлайн книгу.miteinander im Wettbewerb stehenden Gleichgewichten einbezog. Er beobachtete, dass für die utilitaristisch gute Gesellschaft »der Wettbewerb die Ergänzung durch Willkür benötigt und dass die Basis der Willkür zwischen eigeninteressierten Vertragspartnern den größtmöglichen Gesamtnutzen darstellt«.10 Auf die institutionellen Aspekte einer solchen Willkür sowie deren weitreichenden Auswirkungen auf die Verteilung des Grundbesitzes ging Edgeworth jedoch nicht weiter ein, trotz eines oberflächlich gegenteiligen Anscheins. Auf der Grundlage der Wettbewerbsleistung, wie begrenzt diese auch immer war, fühlte Edgeworth sich »zu einer eher zurückhaltenden Vorsicht in der Reform« berufen. Durch die Einberechnung »des Nutzens prä-utilitaristischer Institutionen« zeigte Edgeworth sich beeindruckt durch »eine Sicht auf die Natur, die nicht, wie das bei Mill hinterlassene Bild, gänzlich schlecht, sondern eine erste Annäherung zum Besten« ist.11
In diesem Essay geht es mir nicht darum, ob diese Annäherung an die Sache eher eine abgelegenere Annäherung ist. (Meiner Meinung nach ist dies selbst innerhalb der Struktur der von Edgeworth aufgestellten Behauptungen der Fall, doch ist dies für die Thematik dieser Abhandlung nicht von zentraler Bedeutung.) Vielmehr geht es mir hierbei um die Sichtweise auf den Menschen, welche einen Teil von Edgeworths Analyse darstellt und mehr oder weniger vollständig in einem Großteil der modernen ökonomischen Theorie aufrechterhalten wurde. Die Sicht ist natürlich stilisiert und spezifisch darauf abgestimmt, einen relativ abstrakten Streit, an dem Spencer, Sidgwick und einige weitere führende zeitgenössische Denker beteiligt waren, zu lösen – nämlich in welchem Sinn und in welchem Ausmaß egoistisches Verhalten zu allgemeinem Wohl führt. Ob egoistisches Verhalten eine angemessene Ansicht der Realität darstellt oder nicht, spielt sicherlich keine tragende Rolle im Zusammenhang mit der Frage nach der Richtigkeit der Antwort, die Edgeworth auf die gestellte Frage gibt. Innerhalb der Struktur eines begrenzten ökonomischen Modells liefert sie eine eindeutige Entgegnung auf die abstrakte Erforschung von Egoismus und allgemeinem Wohl.
Diese spezielle Debatte ist seit langer Zeit geführt worden und bietet weiterhin Anregung für viele neue Betätigungen in Fragen der heutigen ökonomischen Theorie. Die begrenzte Ausrichtung der Untersuchung hat entscheidenden Einfluss auf die Wahl der ökonomischen Modelle sowie auf die Konzeption des Menschen in jenen Modellen. In ihrem bedeutenden Text zur Theorie des allgemeinen Gleichgewichts stellen Arrow und Hahn fest (vi–vii):
Inzwischen gibt es eine lange und ziemlich eindrucksvolle Reihe von Ökonomen, von Adam Smith bis in die Gegenwart, die zu zeigen versuchten, dass eine dezentralisierte, durch Eigeninteresse angetriebene und Preissignale gelenkte Ökonomie kompatibel wäre mit einer kohärenten Einteilung wirtschaftlicher Ressourcen, welche, in einem wohldefinierten Sinn, einer großen Klasse an möglichen alternativen Einteilungen überlegen gesehen werden kann. Die Preissignale würden außerdem dazu dienen, den Grad der Kohärenz zu begründen. Es ist wichtig zu verstehen, wie überraschend dieser Ansatz für jemanden sein muss, der nicht der Tradition ausgesetzt war. Die unmittelbare Common-Sense-Antwort auf die Frage »Wie wird eine Ökonomie aussehen, die von individueller Gier motiviert und von einer großen Anzahl verschiedener Akteure kontrolliert wird?« lautet wahrscheinlich: Es wird Chaos herrschen. Die Tatsache, dass eine durchaus andere Antwort lange als wahr proklamiert wurde und damit das ökonomische Denken vieler Menschen, die keineswegs Ökonomen waren, prägte, bietet einen ausreichenden Grund dafür, um hier ernsthaft nachzuforschen. Da die These aufgestellt und mit Nachdruck vertreten wurde, ist es nicht nur wichtig zu wissen, ob sie wahr ist, sondern auch, ob sie wahr sein könnte. Ein nicht geringer Teil des Folgenden richtet sich an diese Frage, welche bedeutende Ansprüche auf die Aufmerksamkeit der Ökonomen zu haben scheint.
Das Hauptinteresse liegt hier nicht auf der Frage, ob die postulierten Modelle und die reale ökonomische Welt einander entsprechen, sondern ob solche Antworten auf wohldefinierte Fragen mit vorausgewählten Annahmen, die das Wesen der zur Analyse zugelassenen Modelle gravierend einschränken, richtig sind. Ein spezifisches Konzept des Menschen ist in der Fragestellung an sich tief verwurzelt, und solange man noch mit der Beantwortung der Frage beschäftigt ist, besteht keine Möglichkeit, von diesem Konzept abzuweichen. In diesen gängigen ökonomischen Modellen stellt die Natur des Menschen eine kontinuierliche Reflektion der besonderen Formulierungen bestimmter allgemeiner Fragestellungen dar, die in der philosophischen Vergangenheit gestellt wurden. Die Frage, ob die gewählte Konzeption des Menschen tatsächlich realistisch ist, ist dabei schlicht und einfach kein Thema dieser Untersuchung.
II
Es gibt einen weiteren nicht-empirischen – und möglicherweise einfacheren – Grund dafür, warum die Sichtweise auf den Menschen in ökonomischen Modellen dazu neigt, die eines eigennützigen Egoisten zu sein. Eine Möglichkeit, die Interessen einer Person unabhängig davon zu definieren, was diese tut, besteht darin, in jedem einzelnen Wahlakt eine Förderung der eigenen Interessen zu sehen.12 Obwohl dieser Ansatz erst vor relativ Kurzem im Kontext der Theorie der offenbarten Präferenzen formalisiert wurde, ist er schon ziemlich alt – bereits vor zweieinhalb Jahrhunderten argumentierte Joseph Butler gegen diesen in der Rolls Chapel.13 Die Reduzierung des Menschen auf ein eigennütziges Tier hängt in dieser Theorie von einer sorgfältig formulierten Definition ab. Gesetzt den Fall, dass beobachtet wird, dass Sie x wählen und y ablehnen, wird erklärt, dass eine Präferenz von x gegenüber y »offenbart« wurde. Ihr persönlicher Nutzen wird dann als eine numerische Repräsentation dieser »Präferenz« definiert, indem der »präferierten« Alternative ein höherer Nutzen zugeschrieben wird. Durch diese Definitionen kann man einer Maximierung des eigenen Nutzens kaum entkommen, es sei denn durch Inkonsistenz. Natürlich können Sie einen Theoretiker der offenbarten Präferenz daran hindern, Ihnen eine Präferenzordnung zuzuweisen, indem Sie bei einer Gelegenheit x wählen und y ablehnen und dann prompt zum genauen Gegenteil übergehen. Auf diese Weise halten Sie ihn von einer Prägung durch eine Nutzenfunktion ab, die Sie per definitionem zu maximieren hätten. Er wird dann daraus schließen, dass Sie sich entweder inkonsistent verhalten oder dass sich Ihre Präferenzen geändert haben. Sie können einen Theoretiker der offenbarten Präferenz auch durch komplexere Inkonsistenzen frustrieren.14 Verhalten Sie sich jedoch konsistent, dann wird es in dieser verwunschenen Welt der Definitionen so scheinen, als würden Sie den eigenen Nutzen maximieren, unabhängig davon, ob Sie ein aufrichtiger Egoist, ein rasender Altruist oder ein Kämpfer für Klassenbewusstsein sind. Wollte man Terminologie aus dem Bereich des Steuerwesens entlehnen, so würde die Arrow-Hahn-Rechtfertigung der Egoismus-Behauptung zu einer Vermeidung [avoidance] des Problems, während der Ansatz der offenbarten Präferenz eher wie eine starke Umgehung [evasion] aussieht.
Dieser Ansatz des definitorischen Egoismus läuft manchmal unter dem Namen der rationalen Wahl, und umfasst nichts anderes als innere Konsistenz. In diesem Zugang werden die Entscheidungen einer Person als »rational« dann und nur dann betrachtet, wenn alle diese Entscheidungen durch eine Präferenzbeziehung erklärt werden können, die mit der Offenbarten-Präferenz-Definition übereinstimmt, wenn also alle Entscheidungen als Wahl der »am meisten bevorzugten« Alternativen durch eine postulierte Präferenzbeziehung erklärt werden können.15 Der Grundgedanke dieses Ansatzes scheint auf der Idee zu basieren, dass der einzige Weg, um die wahren Präferenzen einer Person zu erfassen, darin besteht, ihre tatsächlichen Entscheidungen zu untersuchen, und dass kein entscheidungsunabhängiger Weg sich zeigt, um Einstellungen zu Alternativen zu begreifen. (Diese Sicht ist übrigens nicht nur auf Ökonomen beschränkt. Als ich vor vielen Jahren meinen Eignungstest für Englische Literatur an der Universität Kalkutta ablegen musste, lautete eine der Fragen zu Ein Sommernachtstraum: »Vergleichen Sie die Charaktere von Hermia und Helena. Für welche würden Sie sich entscheiden?«)
Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, dass dieser Ansatz, wenn wir die eigentümlichen Definitionen von Präferenz und Wohlfahrt meiden, sowohl zu viel als auch zu wenig voraussetzt: zu wenig deshalb, weil nicht auf Wahl basierende Informationsquellen zu Präferenz und Wohlfahrt – wie diese Begriffe normalerweise verstanden werden – existieren, und zu viel deshalb, weil eine Entscheidung womöglich einen Kompromiss aus einer Vielfalt an Überlegungen widerspiegelt, von denen persönliches Wohl nur eine sein könnte.16
Die komplexen psychischen Vorgänge, die der Wahl zugrunde liegen, wurden jüngst in einigen eindringlichen