Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Читать онлайн книгу.die – ein Muster heldenmütiger Entsagung – die alte Mutter zu sein schien, während die Baronin das junge Mädchen spielte; und Wirth folgte ihnen mit dem Regenschirm. ›Ta sehen Se Laite,‹ sagte der Baron zu Herrn Cointet, einem Minister, mit dem er den Spaziergang machte, ›denen es mir nicht keklickt ist ain Vermegen ßu peschaffen. Der Zwischenfall ist tja wohl wieder peikelegt, keben Se doch dem armen Beaudenord wieder aine Anstellung.‹ Beaudenord wurde dank Nucingens Fürsprache wieder im Ministerium angestellt; und die d’Aldrigger preisen den treuen Freund, der noch heute die kleine Sennerin und ihre Töchter auf seine Bälle lädt. Keinem auf der ganzen Welt ist es möglich, darzutun, wie dieser Mann dreimal und ohne jede Gewaltsamkeit die wider seinen Willen durch ihn reich gewordene Menge hat bestehlen wollen. Keiner kann ihm einen Vorwurf machen. Wer da sagen wollte, das höhere Bankwesen sei oftmals eine Gurgelabschneiderei, beginge die empörendste Verleumdung. Wenn die Effekten steigen und fallen, wenn die Wertpapiere steigen und stürzen, so ist diese Ebbe und Flut eine Folge atmosphärischer Einflüsse, die mit dem Mond in Beziehung stehen, und selbst der große Arago7 könnte über dieses bedeutsame Phänomen keine wissenschaftliche Theorie aufstellen. Lediglich eine finanzielle Lehre folgt aus dem Ganzen, eine Lehre, die ich noch nirgends aufgeschrieben fand …«
»Welche?«
»Der Schuldner ist stärker als der Gläubiger.«
»Oh,« sagte Blondet, »ich erblicke in dem Gesagten eine Paraphrase über einen Ausspruch Montesquieus, in dem er den ›Geist der Gesetze‹ zusammengefaßt hat.«
»Welchen?« fragte Finot. »Die Gesetze sind Spinnennetze, aus denen die großen Fliegen sich herausarbeiten, in denen die kleinen aber hängen bleiben.«
»Wo möchtest du denn hingelangen?« fragte Finot Blondet. »Zur absoluten Regierung, der einzigen, die der Vergewaltigung des Gesetzes durch den Geist Einhalt tun kann. Ja, die Willkür rettet das Volk, indem sie der Gerechtigkeit zu Hilfe kommt. Der König, der den betrügerischen Bankrotteur begnadigen kann, gibt dem gerupften Opfer nichts zurück. Die Gesetzmäßigkeit tötet die Gesellschaft von heute.«
»Mach das mal den Wählern begreiflich!« sagte Bixiou. »Es gibt einen, der das übernommen hat.«
»Wer?«
»Die Zeit. Wie der Bischof von Leon gesagt hat: ›Wenn die Freiheit alt ist, so ist die Königswürde ewig‹; jedes Volk, das gesunden Geistes ist, wird unter dieser oder jener Form darauf zurückkommen.«
»Horch, es waren Leute nebenan,« sagte Finot, der uns hinausgehen hörte. »Es sind immer Leute nebenan!« erwiderte Bixiou, der wohl betrunken war.
1 Unter ›Hänschens Messer‹ wird in einer französischen Redensart eine Sache verstanden, die allmählich solche Veränderungen erlitten hat, daß sie nur noch dem Namen nach die alte ist. <<<
2 Wie ›Tigre‹ (Tiger) Bezeichnung für Reitknecht, so ›Tigresse‹ (Tigerin) Bezeichnung für ein Weib von Katzennatur. <<<
3 Flic flac = Tanzschritt. <<<
4 En avant-deux‹ = ›Vorwärts zu zweit!‹ Kommandowort beim Kontertanz. <<<
5 Unübersetzbares Wortspiel: ›Karotte‹ heißt im Französischen nicht nur ›Mohrrübe‹, sondern auch ›Prellerei‹. <<<
6 Berüchtigter Finanzmann um 1700 in Paris. <<<
7 Berühmter Physiker, 1786-1853. <<<
Ich habe schon immer gewünscht, eine einfache wahre Geschichte zu berichten, bei deren Erzählung ein junger Mensch und seine Geliebte von Schrecken ergriffen werden und sich einer an das Herz des andern flüchten würde, wie zwei Kinder sich aneinander drängen, wenn sie am Waldrande eine Schlange vor sich sehen. Auf die Gefahr hin, das Interesse an meiner Erzählung zu verringern oder für affektiert zu gelten, beginne ich mit der Verkündung des Endes meiner Geschichte. In diesem beinahe alltäglichen Drama habe ich eine Rolle gespielt; wenn es den Leser nicht fesselt, so trifft die Schuld entweder mich, oder der Fehler liegt daran, daß es sich in Wirklichkeit so ereignet hat. Die Hälfte dichterischer Begabung beruht ja darauf, daß man aus dem Wirklichen das auswählt, was für die poetische Darstellung geeignet ist.
Im Jahre 1819 begab ich mich von Paris nach Moulins. Der Zustand meiner Börse nötigte mich, das Verdeck der Diligence zu benutzen. Man weiß, daß die Engländer die Plätze dieses luftigen Wagenteils für die besten halten. Während der ersten Meilen des Weges hatte ich auch tausend vortreffliche Gründe, die Ansicht unserer Nachbarn für gerechtfertigt zu halten.
Ein junger Mann, der mir etwas wohlhabender als ich zu sein schien, stieg auf und setzte sich, da er Gefallen an mir zu finden schien, neben mich auf die Bank. Bald ließen die anscheinende Gleichaltrigkeit, eine gewisse Übereinstimmung im Denken, in der gemeinsamen Vorliebe für frische Luft, für die Schönheiten des Landschaftsbildes, die wir in uns entdeckten, während der schwere Wagen langsam weiterfuhr, sodann eine Art von unerklärlicher magnetischer Anziehungskraft zwischen uns jene momentane Intimität lebendig werden, der sich Reisende um so lieber hingeben, als dieses vorübergehende Empfinden schnell wieder schwindet und zu nichts für die Zukunft verpflichtet. Wir hatten noch keine dreißig Meilen zurückgelegt, als wir von Weibern und von der Liebe plauderten. Und natürlich war bei aller Vorsicht im Ausdruck, wie sie bei solcher Gelegenheit geboten erscheint, von unsern Geliebten die Rede. Jung, wie wir beide waren, hielten wir erst bei der »Frau von gewissen Jahren«, das heißt bei der Frau zwischen fünfunddreißig und vierzig. Oh, ein Dichter, der uns von Montargis bis ich weiß nicht zu welcher Station zugehört hätte, würde recht glühende Ausdrücke, entzückende Persönlichkeitsschilderungen und sehr süße Bekenntnisse haben sammeln können! Unsere schamhafte Zurückhaltung, unsere verschweigenden Empfindungsworte, unsere Blicke, die uns noch erröten ließen, waren von einer Beredsamkeit, deren naives Entzücken ich nicht zum zweitenmal