Sonderlinge, Außenseiter, Femmes Fatales. Michaela Lindinger
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MICHAELA LINDINGER
SONDeRLINge
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DAS »ANDERE« WIEN UM 1900
AMALTHEA
Für Johannes
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© 2015 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker, OFFBEAT
Umschlagfoto: Peter Altenberg und Lina Loos, um 1902 © Wien Museum
Lektorat: Bettina Trauner
Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
ISBN 978-3-85002-916-2
eISBN978-3-902998-64-4
Prolog
»Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst war, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein sollte. (…) Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede-und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem (…).«
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1930
Zu diesem Buch
In diesem Buch werden elf Persönlichkeiten der Wiener Jahrhundertwende in der Chronologie ihrer Geburtsjahre vorgestellt, die überraschende Einblicke in die viel strapazierte Erneuerungsepoche des Fin de siècle ermöglichen. Es begegnen Ihnen Männer und Frauen, Proletarierinnen und Hochadelige, ernstzunehmende Wissenschafter und überspannte Hochstapler, Reaktionäre und Kommunarden. Sie alle eint die Vielfältigkeit der Jahrzehnte zwischen Traum und Wirklichkeit. Eine Aura des Geheimnisvollen und Undurchsichtigen umgibt sie bis heute. Sie prägten ihre Zeit und auch die Nachwelt, manchmal aus der zweiten Reihe, in unterschiedlichen Bereichen und auf ganz verschiedene Art und Weise. Ihr Leben verlief spannend und außergewöhnlich, wenn auch meist unbefriedigend.
Zwischen Ringstraßenwelt und Luegerzeit – fernab vom Hype um Klimt, Schiele und Kokoschka sind die hier vorgestellten Protagonisten eines »anderen« Wien doch ganz nah dran an vielen zentralen Themen einer aufregenden Epoche: Reformideen, Massenbelustigung, Psychoanalyse, Neurasthenie, Jugendkult, Ästhetizismus und Mystizismus, Evolutionstheorie und Religionskritik, Rückschritt und Moderne.
Wagen wir einen Blick hinter die Kulissen des langen 19. Jahrhunderts: auf die Vorstadtbühnen, wo Frauen verbotenerweise Hosen trugen und als Männer auftraten, in die hochherrschaftlichen Räume der ersten Wiener Hippies, auf die brennenden Ränge des Ringtheaters oder unter das Heidentor bei Wien, wo ein Hakenkreuz vergraben sein soll. Und in die Männerbäder von Wien, wo man zusehen konnte, wie ein Erzherzog abgewatscht wurde. Auch die Wiederauferstehung einer stigmatisierten, somnambulen (mittlerweile) Seligen kommt hier zur Sprache.
Antonie Mansfeld und Emilie Turecek: Wiens erste »Pop-Models«
Antonie Mansfeld (1835, Wien – 1875, Wien)
Sängerin
Geboren als Antonie Montag. Trat in Budapest und Wien auf, ab 1866 nur mehr in Wien. Den Namen Mansfeld wählte sie nach ihrem Liederdichter und Lebensgefährten Ferdinand Mansfeld, der 1869 starb. Anschließend Zusammenarbeit mit Johann Sioly (1843–1911). 1873 Geisteskrankheit. Ihren Geburtsnamen Montag führte ihre Kollegin Luise Montag (eigentlich Aloisia Pintzker, 1849–1927) weiter.
Emilie Turecek (1848, Chotebor, Tschechien – 1899, Wien)
Sängerin, »Halbweltdame«
Geboren als Emilie Turecek, dann durch Eheschließung der Mutter Emilie Pemmer, seit 1874 verheiratete Emilie Demel. Bekannt als »Fiaker-Milli«.
Fixer Bestandteil der Wiener Vergnügungsszene in der sogenannten Ringstraßenzeit. Trat in kurzen Hosen auf, sang in verschiedenen Etablissements und war die Hauptattraktion der berühmten Wäschermädel-und Fiakerbälle. Starb an Leberzirrhose.
So gehn die beiden mit vergnügtem Sinn zum Wimmer hin
Bei der Gadrobe sehn se ein großes Schild:
»Die pe-te Gäste werdn höflichst gebeten
Die Tanzlokalität ohne Messa zu betreten« (…)
Weil beim Wimmer drausd in Neulerchnföd
Is wieda amoi Perfektion!
Der »G’schupfte Ferdl«, der seine fesche Hernalserin Mitzi Wasspatschik gern zum »Jitabug« (richtig: Jitterbug) nach Neulerchenfeld ausführt und dort in brenzlige Situationen gerät, wurde 1952 von Gerhard Bronner erfunden und ist längst ein Klassiker des modernen Wienerlieds. Es soll ein reales Vorbild für den Ferdl gegeben haben, den »Strawanza« Ferdinand Valek. 1945 bekam er von den einmarschierenden US-Soldaten eine Cordhose, dazu kaufte er sich im 2. Bezirk eine Krawatte mit einem Porträt von Louis Armstrong. Ein befreundeter Schuster soll ihm noch ein Paar rote Schuhe gemacht haben. Der auffallend gewandete »G’schupfte Ferdl« war geboren. Er besaß angeblich das erste Moped in Hernals, lebte vom Verkauf von »Maschanska«-Äpfeln (richtig: Maschansker) und Gelegenheitsdiebstählen. Auf 52 Vorstrafen soll er es gebracht haben, hauptsächlich wegen Raufereien. Der Kabarettist Bronner traf ihn zufällig in einem Lokal und dichtete ein Lied auf den bunten Hund, der 2010 mit 81 Jahren gestorben ist. Im ersten Entwurf, gesungen von Helmut Qualtinger, hieß die Tanzschule von Ferdl und Mitzi noch Thumser. Alle Schallplatten mussten eingestampft werden, da es »im Etablissement Thumser noch nie zu tätlichen Ausschreitungen in der von Bronner geschilderten Form gekommen ist. Ebenso ist es unwahr, dass das Publikum mit einem schriftlichen Hinweis aufgefordert würde, Messer an der Garderobe abzugeben.« Die Eigentümer des Thumser hatten tatsächlich auf Verleumdung und Rufschädigung geklagt. Gerhard Bronner änderte den Namen seines Schauplatzes auf »Wimmer«, vergewisserte sich aber vorher, dass es in ganz Wien keine Tanzschule gleichen Namens gab.
Von den Mädeln aus der Vorstadt
Nicht zufällig erlebt der »G’schupfte Ferdl« seine Abenteuer im Wiener Stadtteil Neulerchenfeld. Die frühere Vorstadt gehört heute großteils zum Bezirk Ottakring (16.) und wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts eingemeindet. Schon damals hatte die Gegend als Vergnügungsviertel eine lange Tradition, bereits im 18. Jahrhundert gab es dort zahlreiche Schänken und Trinkstuben. Daher hieß Neulerchenfeld um 1800 »des heiligen römischen Reiches größtes Wirtshaus«. Das Lerchenfeld lag außerhalb des Linienwalls und somit fiel die sogenannte Verzehrungssteuer auf Lebensmittel weg. Im Vorort wurde alles billiger angeboten, was dazu führte, dass 103 von 150 Häusern über eine Gasthauskonzession verfügten. »Gasthaus« hieß zwar schon eine Räumlichkeit, wo es nur ein paar Tische mit Bänken gab, aber inklusive Unterhaltung durch Volkssänger, Geiger und Artisten. Bald stieg die von der Innenstadt relativ leicht erreichbare Gegend zu einem populären Ort auf, der nur noch von den Attraktionen des Praters übertroffen wurde. »Hier hat die arme Mansfeld gesungen«, erinnerte sich später ein Tourist aus Berlin, der die berüchtigten Vororte Wiens besucht hatte.
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