Sonderlinge, Außenseiter, Femmes Fatales. Michaela Lindinger

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Sonderlinge, Außenseiter, Femmes Fatales - Michaela Lindinger


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des Hetztheaters (1796) wurden die beliebten Tierhetzen nach Neulerchenfeld verlegt. Über fünfzig Prozent der Einwohner waren Frauen, viele davon zugewandert. Moral war gleichbedeutend mit Luxus. Das »Grätzel« galt als »zentrale Brutstätte der Prostitution«. Es ging dort viel schlimmer zu als in der Innenstadt, wo es an Damen des horizontalen Gewerbes ebenfalls nicht mangelte. Wien war vor 1914 eine lebenslustige – moralinsaure Zeitgenossen bezeichneten sie als lasterhaft – Stadt mit großer sexueller Freizügigkeit. Aristokraten und Künstler praktizierten eine gewisse Libertinage, doch auch in den unteren sozialen Schichten herrschten ungezwungene Sitten. Knechte und Mägde, ledige Arbeiter und Dienstmädchen vergnügten sich weitgehend ungeniert. 75 Prozent der Männer hatten laut einer Umfrage unter Ärzten 1912 ihre erste sexuelle Erfahrung mit einer Prostituierten gemacht. Syphilis war dementsprechend weit verbreitet und forderte unzählige Opfer, zu den bekanntesten gehörten der Maler Hans Makart (gestorben 1884) und der Vater des letzten Kaisers Karl, Erzherzog Otto (gestorben 1906). Im »Sündenbabel von Wien« werde »sogar das Dirnentum verklärt und gefeiert«, mokierte sich ein Moralapostel. Stefan Zweig schildert einen Spaziergang in der Vorstadt: »Die Wiener Gehsteige waren gesprenkelt mit käuflichen Frauen, es war schwerer, ihnen auszuweichen als sie zu finden.« Im Zusammenhang mit dem Vorstadtelend tauchten häufig die Begriffe »Winkelbordelle« oder »Unfüge gründlich abstellen« auf, was wenig nutzte. Die dort an jeder Ecke anzutreffenden sexuellen und erotischen Ausdrucksformen der Unterschicht wirkten unverschämt und gerade deswegen höchst anziehend auf Besucher der Gegend. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war über die Hälfte der Wiener Prostituierten jünger als zwölf. Orte der Geschlechterbegegnung und des derben Spektakels gab es zuhauf. Viele der jungen »Küchentrabanten« in den Wirtshäusern verdienten sich ihr Zubrot von Kind an als Prostituierte, sie waren die Lieblinge der städtischen »Kavaliere«, also erotisches Freiwild für die Bürger. Bettgeher, Untermieter und Verwandte halfen tatkräftig mit bei der Frühaufklärung der Mädchen, anständige Arbeitsplätze für junge weibliche Teenager gab es in der ganzen Stadt nicht. Niemand kontrollierte, ob diese Kinder der Schulpflicht nachkamen. Ein Mädchen aus der Vorstadt nannte man nicht »Liebe«, sondern »Bekanntschaft«. Wie es in den allgegenwärtigen Operetten und Theaterstücken vorexerziert wurde, betrog der wohl situierte Wiener Bourgeois seine Angetraute bei jeder sich bietenden Gelegenheit, nur anstrengend durfte es nicht sein. Ausländische Reiseberichte bezeichneten Neulerchenfeld als »Tüsculum der geringen Klassen der Wiener Bevölkerung«, wo der »Pöbel« seine »Landsaison« hat und sich die Lokalsängerinnen in qualmigen Gaststuben voller zechender Menschen kaum Gehör verschaffen können. »Derartige Produktionen werden von jungen, anständigen Damen meist gemieden«, hoffte man. Als Bürgermädchen verkleidet kam einmal sogar die höchste junge Dame des Reiches, Kronprinzessin Stephanie. Sie war in Begleitung des Kronprinzen Rudolf, dem Theater, Malerei und bildende Kunst wenig bedeuteten und der sich bei ernster Musik langweilte. Dafür mischte er sich umso lieber unters einfache Volk, hockte so inkognito wie irgend möglich in den kleinen Vorstadtlokalen herum und verbrachte viele Stunden in einer pseudoheimeligen, weinseligen Atmosphäre bei Geigenklängen und Gesang. Das war seine Art, dem Hof und dessen starren Zwängen zu entfliehen. Die Kronprinzessin fühlte sich bei diesem ersten und letzten Ausflug in die Lokalitäten der Deklassierten beleidigt: »Man saß bis zum Morgengrauen an ungedeckten, schmutzigen Tischen, neben uns spielten Fiakerkutscher Karten, pfiffen und sangen. Man tanzte, Mädchen sprangen auf Tische und Sessel und sangen immer wieder die gleichen sentimental-ordinären Schlager, die ein furchtbares Orchester nicht müde wurde zu begleiten. Gern hätte ich mich darüber amüsiert, aber den Aufenthalt in dieser verrauchten Kneipe fand ich zu abstoßend, unwürdig und noch dazu langweilig. Ich begriff nicht, was der Kronprinz darin fand.« Sie machte nie wieder eine dieser Vorstadttouren ihres Mannes mit. Zweig beschrieb als Chronist der Welt von gestern die Vorstadt als »Festungsartillerie, welche die Bürgerschaft schon seit Jahrhunderten mied«.

      Ähnlich wie Stephanie, wenn auch um einiges einfühlsamer, schildert Eduard Pötzl die Atmosphäre in jenen »Kaschemmen«, deren Inhaber jungen Sängerinnen Auftritte ermöglichten. Der Starjournalist – die Zeitgenossen nannten ihn den »Dickens von Wien« – schrieb unter dem Pseudonym »Kleinpetz« und war bekannt für seine treffsicheren Lokalskizzen und präzisen Beobachtungen des Großstadtalltags: Vorherrschend war »qualmtrübe Luft von ungefähr 30 Grad«. Überall sah man »niedliche Lackschuhe, gestreifte Röckchen, carrirte Glockenhosen, schmalrandige Hüte, aufgewichste Scheitel«. Im Obersaal »mit noch heißerer Stickluft« saßen große »zechende Gesellschaften«. Dazwischen rannten »verzweifelnde Kellner« umher, »schmetternde Jodler« tönten durch das verrauchte Etablissement: »Es ist eigentlich zum Davonlaufen, aber eben deshalb für die Leutchen die richtige Taumel-Atmosphäre.« Absolute Meisterin im »Dudeln« – so hieß in Wien das Jodeln – war Luise Montag, das »Lercherl von Hernals«. Ihr Überschlagen vom hellen Sopran in dunklen Alt machte ihr keine nach und löste bei den Zuhörern große Begeisterung aus. In ihrer Jugend war sie als »fescher Tirolerbua« aufgetreten, denn die feine Gesellschaft liebte die Natur … Da hatte sie noch Aloisia Pintzker geheißen. Den Namen Montag nahm sie aus Verehrung für Antonie Mansfeld an, die als Tochter des Kaspar Montag aus Bayern und der Elisabeth Kintner aus Böhmen in Wien zur Welt gekommen war. Das »Lercherl von Hernals« starb genauso wie ihr Vorbild im »Irrenhaus«, nämlich in Steinhof, nachdem sie jahrelang als Bettgeherin in einer armseligen Kammer ihr Dasein gefristet und schließlich einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. »Laut gelebt und still gestorben« schrieb Das Kleine Volksblatt in einer Erinnerung an sie.

      Im Zentrum der Stadt war die Hochkultur zu Hause, doch die Massenunterhaltung fand an der Peripherie statt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann bereits von einer strikten Trennung zwischen E- und U-Musik gesprochen werden. Die massenhaft produzierte Unterhaltungs- und Tanzmusik wurde mit wenigen Ausnahmen im musikästhetischen Urteil der Intelligenz mit Verachtung gestraft. Zwischen exklusiv-gehobener Kunstmusik und volkstümlich »niederer« Trivialmusik bestand zur Zeit der großen Volkssängerinnen keine Verbindung mehr. Die Massenkultur war für die Entwurzelten und Migranten, die im industriellgewerblichen Sektor harte Erwerbsarbeit leisteten. Kennzeichen ihres Daseins in den Wiener Vorstädten waren triste Wohnverhältnisse, schlechte Ernährung, schwerwiegende gesundheitliche Probleme und als Resultat daraus: eine geringe Lebenserwartung. Solange sie konnten, nahmen diese Leute exzessiv an der Welt des Vergnügens teil, um die Realität auszublenden. Man sprach von der »amüsierwütigen Masse«. Herber Humor, Spott, Schrecken und Sensation, Spannung und Nervenkitzel, alles in allem schranken-und hemmungslose Heiterkeit waren das Ziel dieser speziellen Art der Unterhaltung. Pülcher und Strizzis bevölkerten die Gassen, Halbwelt- und Vorstadtbonvivants kontrollierten ganze Straßenzüge. Man lebte in einer Mischung zwischen Fabrikstadt und Dorf, inmitten der lärmenden Bevölkerung und dem allgegenwärtigen Staub. Und immer im Zentrum des Geschehens der beliebte Vorstadttyp der »liederlichen Weibsperson«.

      Käufliche Mädchen trugen Notenblätter in der Hand, um sich als Sängerin auszugeben, sollten sie von der Polizei aufgegriffen werden. Stand man nämlich »zwecklos« auf der Straße herum, wurde man rasch als Prostituierte wahrgenommen und in ein Polizeigefängnis gebracht. Modistinnen, Blumenmacherinnen, Verkäuferinnen, Ladenmädchen mit Hungerlöhnen und ihren Amants, die ständig wechselten, gaben sich ein Stelldichein. Selbst eine Sexarbeiterin der untersten Kategorie konnte für eine Dienstleistung eine Krone verlangen und kam so auf 40 bis 60 Kronen im Monat – also auf ein Vielfaches einer Fabrikarbeiterin oder eines Dienstmädchens. Um 1890 gab es fast 90 000 Dienstbotinnen in Wien, das entspricht 34 Prozent der erwerbstätigen Frauen. Noch vor den Tänzerinnen und Schauspielerinnen rangierte in der Berufsstatistik der Prostituierten das praktisch rein weibliche Personal der Textilbranche. Hing über einem unauffälligen Eingang ein Schild mit der harmlosen Aufschrift »Kleidersalon«, konnte man davon ausgehen, dass es sich um ein »toleriertes Haus« – also ein Bordell – handelte.

      In den Wirtshäusern Neulerchenfelds hatte es die ausgesprochen übel beleumundeten, sogenannten »Nackten Bälle« gegeben, Veranstaltungen, die in den 1850er-Jahren polizeilich verboten worden waren. Die »liederlichen Weibspersonen« fanden umgehend anderweitig Ersatz, sie traten nun als Männer verkleidet auf Maskenbällen auf, was ebenfalls polizeilich untersagt war. Gestattet war lediglich, dass sich Männer als Frauen ausgaben. Besonders gut besucht waren die nicht ganz jugendfreien »Lumpenbälle« und die bis heute legendären »Wäschermädelbälle«.


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