Der Fuchs und Dr. Shimamura. Christine Wunnicke

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Der Fuchs und Dr. Shimamura - Christine Wunnicke


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auf der Männerstation plädiert, weil sie beruhigend wirkten, und auch mit Hypnotika war er nie kleinlich gewesen. Dann hatte er von einem Mattenmacher dicke Wandmatten anfertigen lassen, um Krankenzimmer erregter Patienten damit auszupolstern. Diese speziellen Matten, die Shimamura erfunden hatte, waren in seiner Verabschiedungsrede am umfänglichsten besprochen worden, was nach einem Leben für die Medizin dann doch eher enttäuschend war.

      Eingeigelt in Kameoka, wo er ›nicht störte‹, wie er es ausdrückte, und wo er nun schon seit Jahren auf seinen Tod wartete, hatte er aus ähnlichen Matten, aus Gips, Holz und ein wenig Stein zwei solide Wände machen lassen, die sein Zimmer vom Rest des Hauses abschirmten. In einer dieser Wände gab es eine europäische Tür mit einer Messingklinke. Laut den Handwerkern, die all dies nach Shimamuras Entwurf ausgeführt hatten, gefährdete die Konstruktion die Statik des gesamten Gebäudes. Auch hielt sie die vier Frauen nicht von Dr. Shimamura fern. Sie rumorten, während er neben seinem Schreibtisch im Rattansessel saß und auf das Fenster blickte, an vier verschiedenen Stellen im Haus, und bald würden drei von ihnen durch die Tür hereinkommen, um nach ihm zu sehen.

      Hanako und Yukiko waren beide schon weit über achtzig. Hanako war, wie ihr Sohn, asthenisch und lang. Yukiko, eine weiche Kugel, kam gelassener durch den Tag. In den Jahren, da sie gemeinsam den Doktor umsorgten, hatten sich ihre Stimmen so sehr aneinander angeglichen, dass Shimamura manchmal nicht sagen konnte, welche von beiden hinter der Tür wisperte. In seinen Träumen verschmolzen sie oft zu einer einzigen Muttergestalt, die sich abwechselnd dehnte und ballte wie das Rauchgespenst aus dem Ammenmärchen. Yukiko ging manchmal zum Tempel, gab dort Geld aus und kehrte dann in aufgeräumter Stimmung zurück. Hanako las moderne Romane, die alle von Frauen geschrieben waren und auf dezente Weise Familienprobleme behandelten. Beide waren seit vielen Jahren verwitwet. Was Yukiko und Hanako füreinander empfanden, Hass, Liebe, Solidarität, Konkurrenz oder nichts als jene fade, bequeme Missgunst, die aus jedem zu lange währenden Beisammensein von Menschen resultiert, das konnte Shimamura nicht sagen. Seine Krankheit war die Sonne, um die Hanako und Yukiko kreisten, an der sie sich wärmten. So etwas Ähnliches hatte eine von ihnen einmal gesagt, und dafür hasste Shimamura alle beide.

      Mit Sachiko war er seit einunddreißig Jahren verheiratet. Sie stand wie ein Schemen zwischen den beiden Müttern, unaufdringlich, unauffällig, gebieterisch. Ihre Kleidung war immer hell, auch im Winter, und immer an den richtigen Stellen im perfekten Winkel scharf geknifft. Wenn Shimamura nach Adjektiven suchte, um seine Frau zu beschreiben, kam er immer zuerst auf ›prismatisch‹ und ›kristallin‹. Anorganische Chemie. Sachiko war resistent gegen die besondere Frauenbegabung des Doktor Shimamura. Sie musste über eine große, nicht angenehme Willenskraft verfügen.

      Hanako brachte Essen und Yukiko brachte Tee. Sachiko hatte sich schon vor ihnen ins Zimmer geschoben und beobachtete ihr Tun, dann beobachtete sie auch ihren Mann, wie er trank, aß, hustete und eine Scopolamin-Injektion vorbereitete, die er sich nach drei Tagen Enthaltsamkeit heute wieder einmal gönnen wollte. Hanako und Yukiko räumten ab. Sachiko mäanderte lautlos durch den Raum. Anna oder Luise blieb hinter der Tür verborgen und nahm dort in Empfang, was man ihr reichte, Teegeschirr, Essgeschirr, ein Schnupftuch für die Wäsche. Obwohl er Reisklöße und Eingelegtes gegessen hatte, wiederholte Shimamura, dem an Konversation sonst eben nichts einfiel, den alten Scherz der Ärzte über Krankensuppe: Wie ein junges Mädchen solle sie sein – niemals Augen machen. In der japanischen Übersetzung kam das absurd und anzüglich heraus, als fühle sich der Kranke beim Essen plötzlich berufen, von den Augen junger Mädchen zu faseln. Sachiko, so schien es ihm, warf einen besorgten Blick auf die Scopolaminspritze in seiner Hand.

      In der Tat beförderte das Scopolamin geschlechtliche Gedanken. In der nervenärztlichen Praxis mochte das ungünstig sein, bei Eigengabe störte es Shimamura nicht. Er traute seinem Gehirn ohnedies nicht. Sollte es ruhig Geschlechtliches denken. Was ihn störte, waren die vier Frauen. Sie kamen ihm vor wie die Plättchen eines Legespiels, großes Dreieck, kleines Dreieck, Quadrat und Raute, die sich ständig zu neuen Figuren vereinten, ein ewiger, sinnloser Zeitvertreib. »Geht, und amüsiert euch«, sagte Shimamura. »Geht schauen, ob schon Frühling ist. Und reißt bitte den Februar vom Kalender ab.«

      Dann waren sie fort. Nur das Mädchen Anna oder Luise war noch vor der Tür zugange. Shimamura hörte ihre leisen, flachen Schritte. Sie ging ein wenig auswärts. Eine Fehlstellung der Hüfte. Es gab viele Fehler an Anna oder Luise, aber Shimamura kam nicht darauf, worin der Grundfehler bestand. Sie brachte jeden Morgen Wasser an sein Bett, einen ganzen Bottich voll. Shimamura wusste nicht, wer das angeordnet hatte, was er mit all dem Wasser sollte, ob es vielleicht ein Missverständnis war und Luise eigentlich den Inhalator meinte, wenn sie auf ihren Entenflossen den sinnlosen Wasserbottich herbeischleppte. Er nahm das Wasser mit einem säuerlichen Lächeln entgegen und Anna-Luise verneigte sich zu tief und lief davon. Zuweilen wurde Shimamura den Gedanken nicht los, dass sich das Hausmädchen täglich absentierte und an einem geschützten Ort, in der Retirade vielleicht oder im Freien auf irgendeinem Feld, dem Wahnsinn verfiel, einer spätestens seit Kyoto vorhandenen und nie kurierten heftigen, lauten und womöglich auch in irgendeiner Weise obszönen Verrücktheit unklarer Ätiologie. Dass sie zehn Minuten oder auch eine geschlagene Stunde lang raste und dann artig zurückgewatschelt kam, als sei nichts gewesen, mit jener allerzartesten Spur von Genugtuung in ihrem Bauernmädchengesicht. Hätte er sie nur einmal beim Toben erwischt, dachte Shimamura, hätte er sie womöglich heilen können und sie wäre frei gewesen und hätte fortgehen und ein gesundes weibliches Leben führen können, statt hier zu vegetieren. Ich möchte die törichten Wände wieder einreißen lassen, dachte Shimamura, ich möchte in einem normalen Haus sterben. Dann spritzte er sich das Scopolamin in den Oberschenkel und ging zu Bett.

      Kein einziger geschlechtlicher Gedanke unterhielt Shimamura Shunichi an diesem Nachmittag. Lange wiederholte sein Hirn nur die Wörter Kalender, Kalender und Februar, Februar und wieder Kalender, Kalender. Dann stellte es Fragen: Wo mag das Grammophon sein, wo mag der Inhalator stecken, wo ist wohl der Charcot auf Deutsch hingekommen und warum breitet sich der Charcot auf Französisch meterlang in Regal aus, wenn hier doch niemand Französisch versteht? Und wo sind die guten Kleider des Herrn Doktor hin? Die europäischen Kleider? Die japanischen Kleider? Haben die Frauen sie in den Ofen gesteckt, weil er sie ohnehin nicht mehr braucht? Und wo ist Vaters Erbe, etwa die zweitrangigen Kalligrafien eines zweitrangigen Kalligrafen mit ihren großen, einfachen, vollends unerreichbaren Maximen des Lebens? Alles ist weg, sagte Shimamura zu seinem Gehirn, gib Ruhe. Und dann sah er Vaters Kalligrafien vor Augen und konnte sie nicht lesen, weil er erst sieben Jahre alt war.

      »Als ich klein war«, sagte Shimamura auf Deutsch. Er stöhnte und stöhnte ein zweites Mal. Luft ging hinein und hinaus. Das war angenehm. Die Spritze tat gut. Für die Beruhigung seiner Bronchien nahm er gerne in Kauf, siebenjährig auf große Schrift zu starren und sich von dieser wehrlos gemaßregelt zu fühlen. Oder fünfjährig von Mutterhänden die Ohren ausgeputzt zu bekommen, in einem jahrhundertelangen goldenen Sommer mit einer goldenen Sonne, die seine Finger rot glühen ließ, wenn er sich die Augen zuhielt. Er nahm die Zikaden in Kauf, die Geister und Windräder, Windrad-Geister und Geister, die im Abort wohnten und hinter Shunichis nacktem Hintern her waren, den er überall öffentlich zeigte, weil sein Land noch in der Steinzeit lebte. Puh, sagte Shimamura, und er ließ zu, dass das Phantom des Ohrenputzlöffelchens die alten Gefühle in ihm weckte: als dringe dort etwas in seinen Kopf ein und räume ihn aus, weil er innen verworren war.

      Shimamura blickte zur Decke.

      Die Frauen. Die Frauen. Die Frauen?

      Kein einziger geschlechtlicher Gedanke kam Shimamura Shunichi zu Hilfe.

      Die Frauen und ich. Was ist da passiert?

      Fuchsgeist, sagte Shimamura Shunichi. Er sprach das Wort immer im Wiener Tonfall aus, weil er es in Wien zum ersten Mal auf Deutsch gesagt hatte. Fuchsgähst.

      Er lachte das kleine Lachen, das für dieses Wort reserviert war. Dann schlief er ein.

      ZWEI

      »Jedermann hat genau dieselben Erinnerungen aus der Kindheit«, sagte der Student. »Jeder erinnert sich, wie ihm seine Mutter die Ohren ausputzte, Herr Doktor, und an die Windräder, und an die Geräusche in der Nacht.«

      Er


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