Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui
Читать онлайн книгу.hingerichtete Frau kann aber nun mal keine Kinder mehr gebären, und dem Fürsten entgehen auf diese Weise Tausende von zukünftigen Bürgern, Dienern, Knechten und Mägden. Damit muss Schluss sein. Die Gesellschaft muss umdenken. Wir brauchen Accouchierhäuser, wo Frauen gebären dürfen, ohne den Namen des Schwängerers oder ihren eigenen nennen zu müssen. Wir müssen unsere Fürsten an die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ›Landesvater‹ erinnern, damit sie sich, wie bei Waisenkindern, als wirkliche und fürsorgliche Väter zeigen und sich der unehelichen Kinder in Liebe annehmen. Und wir brauchen Säuglingsklappen. Andernorts gibt es das bereits, ich habe diese Einrichtungen in Italien gesehen, in Hospitälern und Klöstern, und mich von ihrem Segen für Mutter und Kind überzeugen können –«
Aufgebracht fuhr der Befürworter der strikten Geschlechtertrennung dem Sprechenden in die Parade:
»Damit sich die Weiber ihrer Verantwortung entledigen können! Das würde denen so passen. Mein Großvater, und ich versichere Ihnen, meine Herren, mein Großvater war ein Menschenfreund – er hat von so einer Lade erzählt, die seinerzeit, anno 1710, glaube ich, zur Vermeidung von Kindsmord in Hamburg aufgestellt wurde. Und wissen Sie, was passiert ist?«, posaunte er triumphierend über den Tisch. »Die Huren warfen ihre Bälger weg wie verschimmeltes Brot und freuten sich danach ihres Lebens. Das Ding musste abgebaut werden, denn jeden Abend lag so ein armes Kindchen in der Stellage.«
»Überall Sodom und Gomorrha, …«, knurrte der schmallippige Militärkommandant.
»Sag ich ja«, schimpfte der andere. »Es regieren Wollust und Liederlichkeit. Und überall schießen aufwieglerische Elemente mit neumodischen Ansichten wie Pilze aus dem Boden, befürworten gar, stellen Sie sich das vor, den vorehelichen Beischlaf. Wohin soll das führen? Solche Leute wollen den Untergang des Staates …«
»Aber, Verehrtester, jetzt übertreiben Sie schon wieder«, warf die sonore Stimme ein, »vor ein paar Jahren hat selbst der Preußenkönig ein Edikt erlassen, wonach Schwängerungen außerhalb der Ehe nicht mehr geächtet werden dürfen und daher auch nicht zu bestrafen sind. Sie werden doch einem solch brillanten Staatsmann nicht Verantwortungslosigkeit und Unvernunft vorwerfen wollen –«
»Jetzt reicht’s«, unterbrach ein Vierter die Streitenden, »genug disputiert. Sie sind dabei, mir den Appetit zu verderben. Haben Sie keinen Respekt vor diesem himmlischen Hasen, den der Wirt uns serviert hat? Schämen Sie sich!«
»Ich weiß nicht«, hörte Madeleine eine Stimme, die sie nicht einordnen konnte, »ich finde, das Fleisch schmeckt heute anders als sonst, finden Sie nicht auch? Also nicht schlecht, meine ich, aber anders.«
4
Der Besuch in der »Tulpe« hatte sich gelohnt. Nicht nur wegen der warmen Mahlzeit. Guthschneider, der Wirt, nahm ihr auch die Hälfte des Honigs ab und einen kleinen Sack Nüsse.
»Welsche Nüsse, sagen wir hier, weil sie von euch da unten kommen«, belehrte er Madeleine, und ob sie ihm nicht auch irgendwann Grumbiire bringen könne. »Erdäpfel, Kartoffeln«, setzte er ein wenig fahrig hinzu, weil Madeleine das Wort Grumbiire nicht verstand und im Speiseraum ein Gast nach ihm rief, dem er mit einem Wink zu verstehen gab, dass er sofort bei ihm sei. Wie denn ihre Leute in Palmbach zu Grumbiire sagten, wollte er dann aber doch noch wissen.
»Trifulles«, erwiderte Madeleine, nachdem sie begriffen hatte, was er meinte, »manche sagen auch Pataques.«
»Sie passen doch zum Braten?«
»Aber ja, sie passen zu allem. Wir essen sie jeden Tag, mit ausgelassenem Speck, mit Fleisch und Kraut, in Suppen, zusammen mit Makkaroni.« Sie versprach, ihm welche zu bringen, und wollte sich verabschieden. Doch der Wirt hatte noch eine Bitte: Ob sie kurz bei der Medicinalratswitwe Wilde im Inneren Cirkel vorbeigehen könne? Eine feine Dame. Er habe ihr vom Palmbacher Honig vorgeschwärmt, und die Rätin wolle die Köstlichkeit probieren.
Madeleine konnte. Natürlich.
»Grumbiire«, wiederholte sie auf dem Weg zum Cirkel. Das Wort gefiel Madeleine, es war genauso schön wie »numme net huddle«. Grumbiire halt.
Als die Waldenser vor mehr als siebzig Jahren ins Württembergische kamen, hätten nur wenige Deutsche gewusst, was Trifulles sind, hatte die Nonno erzählt. »Es wollte nicht in ihre Gehirne hinein, dass bettelarme Flüchtlinge wie wir auch etwas Gutes besaßen.«
»Sì, sì«, hatte sie beteuert, als sie Madeleines skeptisches Gesicht sah. »Genauso misstrauisch, wie du jetzt schaust, sind auch die Grünwettersbacher um unsere Felder herumgeschlichen. Und dann haben diese Ignoranten doch tatsächlich die Blüten und Blätter gegessen und sich gewundert, dass ihnen speiübel wurde. Die dachten, wir wollten sie vergiften.«
In Erinnerung daran hatte die Nonno ein bisschen gehässig ihre Lippen geschürzt.
»Manchmal, méou baboch, manchmal hätte ich diese Leute mit ihren strohgelben Haaren wirklich gern umgebracht. Sie spuckten vor uns aus, wenn wir vorbeigingen, tuschelten hinter unserem Rücken, und die Kinder schmissen mit faulen Äpfeln.«
Aber sie sei zu stolz gewesen, sich etwas anmerken zu lassen. Sie habe sich zusammengerissen und immer ein freundliches Gesicht gezeigt.
»Doch hat meine Freundlichkeit etwas genutzt, frage ich dich. Obwohl wir jetzt schon so lange hier leben, habe ich das Gefühl, sie mögen uns immer noch nicht, die Deutschen. Als ob es unsere Schuld ist, dass wir die Patrìo verlassen mussten. Ich bin nicht freiwillig hierhergekommen, ich wäre lieber daheim in La Balme geblieben, dort ist es schöner als hier, das kann ich dir sagen.«
»Vielleicht hättet Ihr Deutsch sprechen lernen sollen, Nonno, anstatt immer nur Patouà zu reden«, hatte Madeleine schüchtern einzuwenden gewagt, aber da hatte die Großmutter sie stolz aus ihren schwarzen Augen angefunkelt.
»Man muss wissen, wohin man gehört, méou baboch.«
Wenigstens haben sich die Deutschen mit den Trifulles, mit den Grumbiire, angefreundet, das ist doch schon etwas, dachte Madeleine.
Sie hatte nur mit einer kurzen Visite bei der Rätin gerechnet, doch die Witwe bat sie in die gute Stube und hieß die Köchin heiße Milch bringen.
»Du bist Waldenserin, habe ich gehört. Mein Mann, der selige Medicinalrat, hat in jungen Jahre eure Gegend bereist und viel erzählt. Es muss schön dort sein.«
»Ich weiß es nicht«, stotterte Madeleine verlegen, »ich bin in Palmbach geboren.«
Einen Moment blickte Witwe Wilde irritiert.
»Aber ja, du hast recht, du kannst das Land deiner Väter ja gar nicht kennen.« Sie wechselte das Thema und kam auf das Geschehen am Vormittag zu sprechen. »Ich kann so etwas nicht mit ansehen, das junge Mädchen dauert mich. Die Todesstrafe ist doch keine Lösung. Die Frauen brauchen Hilfe, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.«
»Das hat vorhin in der ›Tulpe‹ auch ein Mann gesagt«, bejahte Madeleine eifrig, schluckte aber schnell die Worte hinunter, die ihr noch auf der Zunge lagen. Nicht, dass die Medicinalrätin sie für vorlaut hielt.
»Die letzte Magd, die ich hatte«, fuhr Frau Wilde fort, ohne auf Madeleines Einwurf zu achten, »ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Armes Ding, kein Vater für das Kleine und von den Eltern auf die Straße gesetzt. Sie hätte bei mir bleiben können.«
Die Medicinalrätin unterbrach sich, musterte Madeleine prüfend, schien zu überlegen.
»Du bist ungefähr so groß wie sie. Das Kleid, das ich ihr am Anfang habe machen lassen, hängt noch in ihrer alten Kammer. Ich würde es dir gern geben.«
Im Nebenzimmer schlug silberhell eine Uhr halb fünf, Madeleine sprang auf. Sie hatte völlig die Zeit vergessen, während die Witwe redete, sie nach ihrer Familie fragte, nach Palmbach, nach ihrer Religion.
»Komm wieder, sobald du das nächste Mal in der Stadt bist«, bat Frau Wilde, als sie schon an der Tür war. »Ich bräuchte jemanden zum Ordnen der Bücher und Papiere meines verstorbenen Mannes, die er seinerzeit aus Paris mitgebracht hat. Als Waldenserin ist