Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman

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Der Geliebte der Verlobten - Laura  Lippman


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Tess jede Woche ausfüllte. Das war keine schlechte Art und Weise, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hätte nichts gegen sieben weitere solche Jobs gehabt.

      »Hast du schon was gegessen?«

      »Ja, unten am Hafen.«

      »Schade. Ich dachte, wir könnten zu Tio raufgehen.«

      »Ich war schon seit Jahren nicht mehr bei Tio Pepe.« Seit Jonathan Ross sie damals eingeladen hatte, als er gerade so gut bei Kasse war, weil er bei einer neuen Zeitung hatte einsteigen können und noch die Abfindung der vorherigen kriegen sollte.

      »Wir könnten Sangria trinken. Sehen und gesehen werden. Uns die Dessertkarte bringen lassen und dann doch nichts bestellen. Na ja, vielleicht ein Stückchen Pinienkerntorte. Egal, was die Leute sagen, es ist immer noch das beste Restaurant von ganz Baltimore.«

      »Ist ja auch ziemlich teuer. Hast du jetzt ein Spesenkonto? Oder bist du groß bei den Pferdewetten eingestiegen?«

      »Ich glaube, man nennt so etwas ein ›Konto für Sonderausgaben‹.« Er zwinkerte ihr zu. »Aus dem bezahle ich dich auch.«

      »Also begehst du tatsächlich Betrug und Verschwendung.«

      Donald lachte. »Wenn es diese Sparmaßnahmen nicht gäbe, Tess, hätte ich für dich bestimmt schon einen Vollzeitjob aufgetan. Dann würdest du fünfhundert Dollar pro Woche und sämtliche Sozialleistungen bekommen, und zwar für dieselbe Arbeit, die du jetzt für hundert Dollar machst. Und ich hätte ein bisschen Gesellschaft.«

      »Vielen Dank, Onkel Donald, aber ich glaube, ich wäre keine sehr gute Staatsangestellte. Mir fällt es schon schwer genug, für diese Presseberichte den richtigen Ton zu treffen. Du weißt schon – etwas ›empfangen‹ statt es einfach zu ›kriegen‹. Oder ein Plan zu ›umfassenden Zustelldiensten‹. Ich wäre niemals dieses smarte junge Ding, das herausfindet, wo es die billigsten Donuts gibt.«

      Sie küsste ihn schnell auf die Wange. Er roch wie das Wohnzimmer einer alten Dame. Nach Haaröl und muffigen Polstermöbeln, mit einem Anflug von Pfefferminzbonbons. Die Geschwister ihrer Mutter waren alle älter, viel älter als Judith Weinstein, eine Nachzüglerin, die fast zwölf Jahre nach Mickey, dem jüngsten der vier Jungen, auf die Welt gekommen war. Donald musste in den frühen Sechzigern sein, schätzte Tess.

      An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sah ihn an. Er war einmal ein wichtiger Mann gewesen. Geldeintreiber zwar, aber mit einer großen Zukunft. Wenn sein Chef nicht wegen Postbetrugs verurteilt worden wäre, hätte Donald heute in der Staatsregierung sitzen und dem Gouverneur Informationen zuflüstern können, anstatt hier in seinem leeren Zimmer die Zeit totschlagen zu müssen. Onkel Donald war inzwischen so oft versetzt worden, dass er überhaupt nichts Persönliches mehr mit ins Büro brachte, außer den Formularen für die Pferdewette und einem Kanzleiblock. Papierpferdchen spielen nannte Onkel Donald sein Laster.

      »Stehst du gut?«, fragte Tess.

      »Aufs ganze Jahr gesehen schon. Trotzdem, es war eine miese Woche. Ich kann diese kalifornischen Pferde nicht leiden. Krieg irgendwie kein Gespür für sie.«

      »Du wettest aber doch keine großen Summen?«

      »Die echten Summen wette ich an der Börse. Das ist aufregender. Sag mal – willst du wirklich nicht, dass ich mich mal ein bisschen umhöre, ob es hier beim Staat nicht doch etwas für dich gibt? Ich bin eigentlich sicher, dass ich für dich so einen kleinen Job für 30000 Dollar pro Jahr finden könnte, mit guter medizinischer Absicherung.«

      Tess schaute sich in dem kahlen Büro um, mit dem einen Fenster und den Wettformularen auf dem Schreibtisch. Sie warf ihrem Onkel eine Kusshand zu und rannte dann die elf Treppen hinunter, als wäre etwas hinter ihr her. Als sie auf der Straße war, ging sie zu einem forschen Schritt über, hielt aber nicht mehr an, bis sie bei ihrer Wohnung war.

      Sieben Stunden später, als sie ihre Arbeit für Onkel Donald erledigt und ihre allabendliche Laufrunde hinter sich gebracht hatte, bezog Tess wieder Stellung vor der Tiefgarage des Eden’s Landing. Diesmal saß sie allerdings in ihrem Toyota und wartete, ob Ava das Haus verlassen würde. Sie wusste, dass Ava zu Hause war, denn Rock hatte erst vor ein paar Minuten mit ihr am Telefon gesprochen und dann gleich Tess angerufen.

      »Sie hat mir gesagt, dass ihr eigentlich nicht danach ist, heute Abend auswärts zu essen«, sagte er. »Hat gesagt, dass sie den ganzen Abend zu Hause bleiben will.« Er hatte Tess nicht gebeten, sie zu beobachten, und Tess hatte ihm nicht gesagt, dass sie es vorhatte. Schließlich bezahlte er Tess dafür, dass sie sich diese unschönen Gedanken an seiner Stelle machte.

      Zwanzig Minuten später überkam sie fast so etwas wie Genugtuung, als Ava in ihrem silberfarbenen Miata aus der Tiefgarage des Eden’s Landing kam. Tess folgte ihr etwa eineinhalb Kilometer weit, durch die Innenstadt und nach Federal Hill hinein, zu einem Fitnessstudio, einem sehr geräumigen Gebäude, in dem um die Jahrhundertwende drei Frauen bei einem an sich belanglosen Feuer umgekommen waren.

      »Warum lügst du ihn denn an, wenn du zum Training gehst?«, fragte Tess Ava in ihrem Auto. »So etwas findet Rock doch immer gut, auch wenn die Geschichte des Studios nicht so ganz politisch korrekt ist.«

      Als das Studio eröffnete, wurde das in den Leitartikeln des Beacon als sehr unsensibel verurteilt. Männer und Frauen, die behaupteten, Nachkommen der toten Frauen zu sein, bildeten Mahnwachen vor dem Gebäude. Fernsehreporter wuselten überall herum, aber das hübsche Gebäude war so fotogen, dass sich die Leute regelrecht darum rissen, Mitglied zu werden. Schließlich erinnerte sich jemand auch noch, dass alle drei Brandopfer junge Mädchen gewesen waren, unverheiratet und kinderlos, und die Mahnwachen verschwanden. Das Fitnessstudio wurde ein voller Erfolg.

      Tess hätte sich, sogar als sie noch einen Beruf hatte, solch ein schickes Studio niemals leisten können, aber sie wusste, wie sie sich Zutritt verschaffen konnte.

      »Ich hätte gerne ein paar Infos zur Mitgliedschaft«, sagte sie zu der magersüchtig aussehenden Blondine am Empfangstisch. Die Blonde seufzte und drückte auf einen Knopf hinter dem Tisch. Eine Aufnahme von einem wilden Jubelgeschrei, wie es etwa eine Menschenmenge ausstößt, wenn jemand in der letzten Sekunde vor dem Abpfiff noch ein Tor schießt, schallte durch den ganzen Club. Na, großartig, dachte Tess, hoffentlich wissen jetzt alle, dass ich hier bin.

      Da eilte auch schon ein gewisser Dale, wie man auf seinem Namensschildchen lesen konnte, auf sie zu. Klein und muskelbepackt, trug er ein so enges gestricktes Polohemd, dass Tess in der Mitte seiner wohlgeformten Brust jedes einzelne Haar zählen konnte. Sieben waren es im Ganzen. Seine weißen Hosen saßen nur eine Idee weniger eng. Sogar sein straff zurückgekämmter Pferdeschwanz, der nur ein paar Zentimeter lang war, sah fest und biegsam aus und so gewölbt wie ein Bizeps.

      »Ich heiße Dale und bin Ihr Botschafter in Sachen Fitness«, sagte er und schüttelte Tess enthusiastisch die Hand. »Interessieren Sie sich für unser Platinprogramm oder für unser Goldprogramm?«

      »Wahrscheinlich für das in Zirkonium.«

      Er sah sie verständnislos an.

      »Kleiner Scherz«, erklärte Tess. »Ich will jedenfalls die beste Mitgliedschaft, die Sie zu bieten haben. Aber ich möchte erst mal sehen, was es hier so gibt, bevor wir über die Kosten sprechen.«

      »Natürlich.« Er legte ihr besitzergreifend die Hand ins Kreuz wie ein Steuerruder. Tess machte sich von dieser Hand frei.

      »Ich dachte, ich seh mich hier erst mal allein um. Schau mir die Umkleidekabinen an, verstehen Sie. Ich nehme an, die sind für Frauen und Männer getrennt?«

      Dale, der seine Provision schon davonschwimmen sah, behielt dennoch sein breites, forsches Lächeln bei. »Kein Problem! Aber Sie müssen mir nur schnell ein Formular unterschreiben, dass Sie sich hier auf eigene Verantwortung bewegen. Dann haben wir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer bei den Akten.«

      Tess nahm das Klemmbrett, das er ihr reichte. Da war kein Formular zu sehen, nur ein leeres Stück Papier mit Raum für einen Namen und eine Telefonnummer. Sie hatte eine plötzliche Vision, wie sie nachts mit Anrufen von Dale bedrängt


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