Maigret und die Bohnenstange. Georges Simenon
Читать онлайн книгу.Problem ist nur, dass wir keine Leiche haben.«
»Sie glauben, dass er die erfunden hat oder dass ich sie erfunden habe?«
Maigret antwortete nicht.
»Das Haus, wo er in der Nacht gearbeitet hat, werden Sie mühelos finden. Ich sollte Ihnen gar nicht auf die Sprünge helfen, aber ich bin sicher, Sie kommen auch selber darauf. Bestimmt war er an einem Panzerschrank dran, den er damals selbst aufgestellt hatte. Die Firma Planchart hat sicher eine Kundenliste, und es dürfte nicht allzu viele Leute in Neuilly geben, die sich in den letzten siebzehn Jahren einen Panzerschrank angeschafft haben.«
»Hat Alfred außer Ihnen nicht vielleicht noch eine Freundin?«
»Auf die Frage habe ich gewartet! Ich bin nicht eifersüchtig, und selbst wenn ich es wäre, würde ich Ihnen hier keine Märchen erzählen, um mich zu rächen, falls Sie das meinen. Er hat keine andere Freundin, weil er keine will, der Arme. Und falls er eine wollte, würde ich ihm so viele besorgen, wie er sich nur wünscht.«
»Warum?«
»Weil das Leben so schon nicht besonders lustig ist.«
»Haben Sie Geld?«
»Nein.«
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich komme schon zurecht, das wissen Sie. Ich bin nur hergekommen, damit festgestellt wird, dass Fred niemanden getötet hat.«
»Falls er Ihnen schreiben sollte, zeigen Sie mir den Brief dann?«
»Den lesen Sie eh vor mir. Jetzt wo Sie wissen, dass er mir postlagernd schreibt, werden Sie sämtliche Postämter von Paris überwachen lassen. Sie vergessen, ich weiß, wie der Hase läuft.«
Sie erhob sich, stand in voller Größe vor ihm und musterte ihn an seinem Schreibtisch.
»Wenn alles stimmt, was man sich über Sie erzählt, stehen die Chancen gut, dass Sie mir glauben.«
»Warum?«
»Weil Sie ansonsten ein Dummkopf wären. Das sind Sie aber nicht. Werden Sie bei Planchart anrufen?«
»Ja.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden?«
Er sah sie an, ohne zu antworten, und merkte, wie er ganz unwillkürlich ein amüsiertes Lächeln aufsetzte.
»Wie Sie meinen«, seufzte sie. »Ich könnte Ihnen helfen. Auch wenn Sie noch so viel wissen, es gibt Dinge, auf die sich Leute wie wir besser verstehen als Sie.«
Mit dem »wir« war selbstverständlich die Welt gemeint, in der die Bohnenstange lebte, die Welt auf der anderen Seite der Barrikade.
»Falls Inspektor Boissier nicht im Urlaub ist, wird er Ihnen bestimmt bestätigen, was ich Ihnen über Alfred erzählt habe.«
»Er ist nicht im Urlaub, er fährt erst morgen.«
Sie öffnete ihre Tasche und zog einen Zettel heraus.
»Ich lasse Ihnen die Telefonnummer vom Bistro unter uns da. Falls Sie mal zufällig kommen müssen, brauchen Sie keine Angst zu haben, dass ich mich ausziehe. Inzwischen behalte ich mein Kleid lieber an!«
In ihrer Stimme lag ein bitterer Unterton.
»Das ist nämlich besser für alle!«, fügte sie selbstironisch hinzu.
Erst als Maigret die Tür hinter ihr zumachte, wurde ihm bewusst, dass er ganz selbstverständlich die hingehaltene Hand geschüttelt hatte. Die Wespe brummte immer noch an der Decke herum, als suchte sie nach einem Ausgang, ohne auch nur zu ahnen, dass sie auch durch das weit geöffnete Fenster hätte fliegen können. Madame Maigret hatte am Morgen gesagt, sie werde mittags auf den Blumenmarkt gehen, und wenn er Zeit habe, könnten sie sich dort treffen. Nun war es Mittag. Er zögerte und blickte zum Fenster hinaus, wo er hinter der Quaibrüstung helle Farbflecke sah.
Dann griff er seufzend zum Telefon.
»Lassen Sie Boissier zu mir kommen.«
Siebzehn Jahre waren seit der albernen Szene in der Rue da la Lune vergangen, und Maigret war nun als Leiter der Mordkommission eine bedeutende Persönlichkeit. Eine seltsame Idee schwirrte ihm durch den Kopf, ein fast kindlicher Wunsch. Wieder nahm er den Hörer von der Gabel.
»Die Brasserie Dauphine bitte!«
Als Boissier im Türrahmen erschien, sagte Maigret gerade:
»Bringen Sie mir doch einen Pernod rauf …«
Und mit einem Blick auf den Inspektor und die Schweißflecken unter seinen Armen berichtigte er:
»Lieber zwei! Zwei Pernod. Danke.«
Boissier war Provenzale, so ging durch seinen bläulichen Schnurrbart ein freudiges Zittern. Er setzte sich auf die Fensterbank und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
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