Machtmaschinen. Viktor Mayer-Schonberger

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Machtmaschinen - Viktor  Mayer-Schonberger


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Die Pandemie hat uns in doppelter Hinsicht die Augen geöffnet. Erstens sind unsere Sys­teme deutlich weniger resilient, als wir dachten. Zweitens haben wir – sieht man von der Tracing-App ab – nur durch den ungewöhnlich freien Austausch von Informationen das Virus (halbwegs) in den Griff bekommen können.

      Im Angesicht der tödlichen Bedrohung wurde möglich, was vorher für unmöglich gehalten wurde. Wissenschaftler­innen und Wissenschaftler teilten ihr Wissen schneller und groß­­zügiger als je zuvor in der Wissenschaftsgeschichte. Kon­kur­rierende Pharmaunternehmen schlossen neue Wissensallianzen auf ihrer Suche nach Tests, Therapiemöglichkeiten und Impfstoffen, weil sie spürten: Nur durch informationelle Koope­ration können sie die notwendige Geschwindigkeit ent­wi­ckeln, von der schließlich alle profitieren werden – sie natürlich auch betriebswirtschaftlich.

      Selbst Big-Tech-Unternehmen halfen mit. Amazon machte mit seiner gigantischen Liefermaschine alles in allem einen gu­ten Job bei der Grundversorgung vieler Menschen, die ihre Häuser und Wohnungen nicht mehr verlassen konnten. Apple und Google veröffentlichten anonymisierte Bewegungsdaten geografisch feingranular heruntergebrochen, damit Gesundheitspolitikerinnen und -politiker die Wirkung ihrer Regelungen zur Kontakteinschränkung besser einschätzen konnten. Im April startete Microsoft eine Open-Data-Initiative mit dem expliziten Ziel, Innovationen zu fördern, von denen alle profitieren sollen.

      Knapp ein Jahr, nachdem Ärzte in Wuhan erstmals die Symp­tome einer unbekannten Lungeninfektion diagnostizier­ten, im Auge des Sturms einer Weltwirtschaftskrise, ist offenkundiger denn je seit dem Zweiten Weltkrieg: Wir werden unsere Welt nur durch bessere informationelle Kooperation re­silienter gegen die nächsten großen Krisen machen. Die Grund­lage dafür ist der freie und vielfältige Austausch von Daten, Informationen und Wissen. Die Zeit der Informationsmonopole ist vorbei. Dieses Buch beschreibt den Weg in ein neues Zeitalter der Informationen für alle. In diesem werden die Men­schen in aller Welt jederzeit mit digitalen Werkzeugen auf Da­ten und Wissen Zugriff haben, um Lösungen für die großen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und ­gesundheitlichen Herausforderungen zu finden, vor denen wir stehen. In diesem Zeitalter werden europäische Gesellschaften nicht mehr Datenschutz wie eine Religion der Erleuchteten praktizieren, die anderen ihren Glauben aufzwingen. Europa wird Daten nicht mehr durch komplizierte Regulierung künstlich verknap­pen, sondern verstanden haben, dass der Nutzen von Daten durch die Nutzung entsteht. Je öfter wir sie nutzen, je vielfältiger die Nutzungszwecke, desto größer kann der wirtschaftliche und gesellschaftliche Mehrwert sein. Die amerikanische Gesellschaft wird erkennen, dass Datenmonopole den Wettbewerb auf Kosten von Kunden und Staat aushöhlen. Die Welt wird zuerst spüren und dann messen: Daten für alle sind gut für alle.

      Daten

      alchemismus

      Im März 2004 trifft sich eine bunte Truppe von Technikstudenten und Autofricklern, Ingenieuren und Programmierern auf einem abgesperrten Militärgelände der Mojave-Wüste. Stolz führen sie sich gegenseitig ihre futuristischen Konstruktionen autonomer Fahrzeuge vor. Einige davon sehen wie Klone von Star-Wars-Raumschiffen auf sechs Rädern aus. Andere wie klei­­ne Panzer, bei denen die Kanonen durch klobige Lasersensoren ausgetauscht worden sind. Ein selbstfahrendes Motorrad ist dabei, vollgepackt mit Elektronikelementen und Balancege­wich­ten. Viele Konstrukteurteams sind allerdings mit konven­tionellen Pick-up-Trucks von Ford, Dodge oder Toyota in die Wüste gekommen, auf deren Dach und an deren Frontpartien Kameras montiert sind. Klobige Computer in der Fahrgastzelle machen Insassen den Platz streitig.

      Wie fast immer in der Grenzregion von Kalifornien und Nevada scheint die Sonne. Die Mehrzahl der Teilnehmenden trägt Nerd-Uniform, kurze Hosen oder Khakis, T-Shirt oder Po­loshirt mit den Logos von Tech-Firmen oder Universitäten. Doch auch auffällig viele Soldaten tummeln sich im Konstruk­teurlager. Zu dem Event eingeladen hat die Defence Advanced Research Projects Agency, DARPA, der wichtigste Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums. Auch wenn die Stimmung unter den Teams kollegial ist, sie sind als Konkurrenten in die Mojave-Wüste gekommen. Die Veranstalter haben ei­nen rund 240 Kilometer langen Kurs für die DARPA Grand Challenge abgesteckt. Sollte eines der Roboterfahrzeuge diesen ohne menschlichen Eingriff abfahren, erhalten seine Erfinder einen Scheck über eine Million Dollar.

      Beim Start des großen Rennens feuern Zuschauer und Zu­schauerinnen die autonomen Fahrzeuge an wie Marathon­läu­fer. Die Technik entpuppt sich jedoch als wenig fit. Das selbst­­fah­rende Motorrad kippt nach zwei Metern Fahrt um. Viele Fahr­­zeuge schaffen es nicht, aus Sichtweite der Zuschauer und Zuschauerinnen zu kommen. Am weitesten fährt ein umge­­bau­ter Humvee-Truck der Carnegie Mellon University. Das »Sandstorm« genannte Fahrzeug bleibt nach nicht einmal zwölf Kilometern in einer Kurve an einem größeren Stein hängen. Der Traum vom autonomen Fahren scheint damals unendlich weit entfernt.

      Heute, gut 15 Jahre später, ist die technische Nuss selbstfahrender Autos weitgehend geknackt. Im Februar 2020 ver­öf­fentlichte das California Department of Motor Vehicles eine Reihe von Daten zu den Testfahrten, die große Technologieun­ternehmen, Ride-Hailing-Anbieter, Autonomous-Vehicle-Start-­ups und klassische Automobilhersteller in dem Bundesstaat unter staatlicher Kontrolle durchführen. Eine Kennziffer für die technischen Fortschritte bei selbstfahrenden Autos ist die sogenannte »disengagement rate«. Diese sagt aus, wie oft ein Sicherheitsfahrer den Autopiloten abstellen und die Steuerung des Fahrzeugs übernehmen muss. Die 153 selbstfahrenden Au­tos von Googles Tochterunternehmen Waymo fuhren allein in Kalifornien rund 1,5 Millionen Meilen im Jahr auf öffentlichen Straßen. Die Sicherheitsfahrer mussten dabei im Schnitt nur noch ein Mal pro 13 219 zurückgelegten Meilen (21 274 Kilo­me­ter) dem Roboter ins Lenkrad greifen. Fünf Jahre zuvor hat­ten die Waymo-Fahrzeuge im Schnitt nur knapp 2000 Meilen ohne menschliche Intervention geschafft. Kein anderes ameri­kanisches oder europäisches Unternehmen konnte mit dieser beeindruckenden Fahrsicherheit auch nur annähernd mithal­ten, weder die General-Motors-Tochter GM Cruise noch ambitionierte Start-ups wie Aurora, Zoox oder Pony.ai., Uber- und Lyft-Fahrzeuge schafften genau wie der Tesla-Autopilot nur we­nige Meilen. Apples Projekt Titan lag ganz weit zurück. Und europäische Automobilhersteller haben sich offenkundig damit abgefunden, dass sie die autonomen Fahrsysteme nicht selbst entwickeln, sondern von Zulieferern abhängig sein werden. Auch ihre Systeme schafften es nach den an die kalifornische Be­hörde gemeldeten Zahlen nur wenige Meilen weit.

      Wie es derzeit aussieht, werden sie wohl das System von Waymo zukaufen. Oder das eines Konkurrenten, den bis vor Kur­zem nur wenige Automotive-Experten auf dem Radar hatten, der aber seit Langem unter Googles Beobachtung steht, weil er einst dessen Technologie und Geschäftsmodell nachbaute: der chinesische Suchmaschinenriese Baidu. Baidu investiert seit 2017 massiv in autonomes Fahren, mit einem Programm na­mens Apollo. Apollo-Fahrzeuge haben auf chinesischen Stra­ßen knapp zwei Millionen Meilen trainiert. Mit einer kleinen Flotte testet Baidu auch in Kalifornien. Die Fahrzeuge kamen dort 2019 mehr als 18 000 Meilen weit ohne Intervention des Sicherheitsfahrers, wobei umstritten ist, ob Apollo diese Erfolgsziffer ein wenig ertrickst hat, indem es seine Fahrzeuge vor allem auf kalifornische Autobahnen schickte, und nicht in Innenstädte, wo Interventionen häufiger notwendig sind.

      Unumstritten aber ist, dass Google und Baidu zurzeit nicht nur Spitzenreiter sind, ihre Systeme verbessern sich zudem auch oft schneller als jene der Konkurrenz. Dies hat einen zen­tralen Grund: Beiden Unternehmen ist es gelungen, ein tech­ni­sches Umfeld zu schaffen, in dem ihre Fahrzeuge mehr Lerndaten erzeugen als die der Konkurrenten. Mit jeder ge­­fah­renen Meile, mit jeder Intervention des Sicherheitsfahrers, mit jeder kniffligen Situation ohne Intervention lernen die Fahrzeuge da­zu und schaffen es so, immer weiter zu fahren und leichter neue Lerndaten zu generieren. Google-Autos fuhren in Kali­for­­nien im Jahr 2017 350 000 Meilen, im Jahr darauf 1,2 Millionen und 2019 schließlich die besagten knapp 1,5 Mil­­lionen Meilen. Die Unternehmen sehen, dass sich der Ansatz lohnt. Sie können in größere Flotten investieren und parallel virtu­elle Testwelten auf­bauen, die wiederum auf den real ge­sam­melten Daten der Testflotten gründen. In diesen künst­li­chen Ver­kehrs­wel­ten fah­ren die digitalen Zwillinge der Fahr­­zeuge Abermilliarden Mei­­­len jährlich, bei Google mithilfe der Technologie der Google-Tochter für Künstliche Intelligenz DeepMind. Die Da­ten aus Ka­lifornien wiederum geben nur einen kleinen Ausschnitt wieder, wie


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