Klein-Doritt. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.eine Heimfahrt begäbe. Dann brannte das einsame Licht unverändert fort, bis es kurz vor der Morgendämmerung erblaßte und zuletzt unter dem Hauche von Mistreß Affery erlosch, wenn ihr Schatten von der Hexenregion des Schlafes sich darauf herabsenkte.
Sonderbar, wenn das kleine Krankenzimmerfeuer wirklich ein Leuchtturmfeuer wäre, das einen, und zwar den Unwahrscheinlichsten in der Welt an den Ort lockte, zu dem er kommen muß. Sonderbar, wenn das kleine Krankenzimmerlicht wirklich ein Nachtlicht wäre, das jede Nacht an diesem Ort brannte, bis ein bestimmtes Ereignis zu erspähen wäre? Wer von der großen Masse von Wanderern unter der Sonne und den Sternen, die die staubigen Hügel hinansteigen und über die endlos ermüdenden Ebenen ziehen, zu Land und zur See reisen, so seltsam kommen und gehen, um sich zu begegnen, aufeinander zu wirken und rückzuwirken, wer von dieser Schar mag, ohne das Reiseziel zu ahnen, sicher hierher seinen Weg nehmen?
Die Zeit wird es uns lehren. Der Ehrenposten und der Schandpfahl, die Generalsstelle und die Trommlerstelle, eine Peersstatue in der Westminsterabtei und eine Seemannshängematte im Schoß der Tiefe, die Bischofsmütze und das Arbeitshaus, der Wollsack und der Galgen, der Thron und die Guillotine – die Wanderer zu all diesen sind auf der großen Heerstraße; aber es gibt seltsame Abwege, und nur die Zeit allein kann uns lehren, zu welchem Ziel jeder einzelne Wanderer bestimmt ist.
An einem winterlichen Nachmittag im Zwielicht träumte Mrs. Flintwinch, die sich den ganzen Tag schon schwer und müde gefühlt, folgenden Traum:
Es war ihr, als befände sie sich in der Küche, den Kessel für den Tee rüstend, und wärme sich den Fuß am Kamingitter. Sie saß mit gerafftem Kleid an dem zusammengefallenen Feuer vor dem Kaminrost, einem Feuerlein, das zu beiden Seiten durch eine tiefe, schwarze, kalte Furche begrenzt war. Es war ihr, während sie so dasaß und über die Frage nachsann, ob das Leben nicht für manche Leute eine ziemlich traurige Erfindung sei, als würde sie durch ein plötzliches Geräusch hinter sich erschreckt. Es war ihr, als hätte sie ein ähnliches Geräusch vergangene Woche gleichfalls erschreckt, und als wenn dies Geräusch von ganz geheimnisvoller Art wäre, – ein Gerassel und drei oder vier lebhafte Schläge wie ein rascher Tritt, während ihr Herz einen Stoß bekam und zitterte, als wenn der Tritt den Fußboden erbeben gemacht oder gar, als wenn sie von einer furchtbaren Hand ergriffen worden wäre. Es war ihr, als würde die alte Furcht, es sei in dem Hause nicht geheuer, dadurch wieder geweckt, und als wenn sie die Küchentreppe hinaufflöge, sie wüßte nicht wie, um nur näher bei Menschen zu sein.
Es war Mrs. Affery, als ob sie, im Gang angekommen, die Tür zum Bureau ihres Oberherrn offenstehen und das Zimmer leer sähe. Als ob sie zu dem aufgerissenen Fenster in dem kleinen Zimmer nächst der Straßentür ginge, um ihr pochendes Herz durch die Scheiben mit den lebenden Wesen drunten und außerhalb des ungeheuerlichen Hauses in Verbindung zu setzen. Als sähe sie an der Mauer über dem Torweg die Schatten der beiden Gescheiten droben im Gespräch miteinander begriffen. Als ob sie dann mit den Schuhen in der Hand hinaufginge, teils um den Gescheiten, die den meisten Geistern gewachsen, nahe zu sein, teils um zu hören, wovon sie sprächen.
»Keine von Ihren Possen, bitte ich«, sagte Mr. Flintwich. »Ich lasse mir das nicht von Ihnen bieten.«
Mrs. Flintwinch träumte, sie stehe hinter der Tür, die gerade offen war, und höre ihren Gatten diese kühnen Worte ganz deutlich sagen.
»Flintwinch«, versetzte Mrs. Clennam in ihrem gewöhnlichen strengen und tiefen Ton, »es ist ein Dämon des Zorns in Ihnen. Hüten Sie sich vor ihm.«
»Ich kümmere mich nicht, ob es einer ist oder ein Dutzend«, sagte Mr. Flintwinch, durch seinen Nachdruck andeutend, daß die größere Zahl der Wahrheit näher sei. »Wenn es fünfzig wären, würden sie alle sagen: Keine von Ihren Possen, ich lasse es mir nicht von Ihnen bieten. – Ich würde sie zu diesem Ausspruch zwingen, sie möchten wollen oder nicht.«
»Was habe ich getan, du zorniger Mann?« fragte ihre strenge Stimme.
»Getan?« jagte Mr. Flintwinch. »Sie sind über mich hergefallen.«
»Wenn Sie damit meinen, ich habe Ihnen Vorstellungen gemacht – –«
»Legen Sie mir nicht Worte in den Mund, die ich nicht meine«, sagte Jeremiah, an seinen bildlichen Ausdruck mit zäher und unergründlicher Halsstarrigkeit sich hängend, »Sie sind über mich hergefallen.«
»Ich habe Ihnen Vorstellungen gemacht«, begann sie wieder, »weil –«
»Ich will es nicht haben!« rief Jeremiah. »Sie sind über mich hergefallen.«
»Ich bin also über Sie hergefallen, Sie unfreundlicher Mann«, (Jeremiah kicherte, daß er sie gezwungen, sich seiner Worte zu bedienen), »weil Sie diesen Morgen unnötigerweise gegen Arthur zu bezeichnend gewesen sind. Ich habe ein Recht, mich darüber zu beklagen, denn es ist nahezu ein Vertrauensbruch. Es war nicht Ihre Absicht –«
»Ich will das nicht!« warf der widerspruchsvolle Jeremiah ein, dieses Zugeständnis zurückweisend. »Es war meine Absicht.«
»Ich scheine Sie allein sprechen lassen zu müssen, wie's Ihnen beliebt«, versetzte sie nach einer Pause, die das Gepräge der Gereiztheit trug. »Es ist nutzlos, mich an einen heftigen und halsstarrigen, alten Mann zu wenden, der sich fest vorgenommen, mich nicht anzuhören.«
»Ich kann mir das ebensowenig von Ihnen gefallen lassen«, sagte Jeremiah. »Ich habe mir das durchaus nicht vorgenommen. Wollen Sie wissen, warum es meine Absicht war, Sie heftige und halsstarrige alte Frau?«
»Sie scheinen mir nur meine Worte zurückgeben zu wollen«, sagte sie, ihre Entrüstung bekämpfend. »Ja.«
»So hören Sie denn. Weil Sie ihm seinen Vater nicht ins rechte Licht stellten und Sie das hätten tun sollen. Weil, ehe Sie auf irgendeine Erklärung über sich eingingen, die Sie –«
»Halten Sie ein, Flintwinch!« rief sie mit verändertem Ton. »Sie könnten um ein Wort zu weit gehen.«
Der alte Mann schien das auch zu denken. Es entstand wieder eine Pause, und er hatte seine Stellung im Zimmer verändert, als er in etwas sanfterem Ton fortfuhr:
»Ich war im Begriff, Ihnen zu sagen, warum solches geschah. Weil, ehe Sie Ihre eigne Sache aufgriffen, Sie meiner Ansicht nach die Sache von Arthurs Vater hätten abmachen sollen. Arthurs Vater! Ich hatte keine besondere Vorliebe für Arthurs Vater. Ich diente dem Oheim von Arthurs Vater in diesem Haus, als Arthurs Vater nicht viel mehr als ich, – ja ärmer war, was seine Taschen anbetraf – und sein Oheim mich ebensogut zu seinem Erben hätte machen können wie ihn. Er hungerte in dem Wohnzimmer, und ich hungerte in der Küche. Das war der Hauptunterschied in unserer Lage; es war nicht viel mehr als einige Stufen einer halsbrecherischen Treppe zwischen uns. Ich hielt damals nie zu ihm; ich weiß überhaupt nicht, daß ich mich je zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Er war ein unentschiedener, unschlüssiger Laffe, aus dem man alles außer seinem Waisenleben herausgeschreckt hatte, solange er jung war. Und als er Sie hierher brachte, das Weib, das sein Oheim für ihn bestimmte, brauchte ich Sie nicht zweimal anzusehen (Sie waren damals hübsch), um zu wissen, wer Herr im Hause sein würde. Sie standen seit jener Zeit auf Ihren eigenen Füßen. Stehen Sie jetzt wieder auf Ihren Füßen, lehnen Sie sich nicht an die Toten?«
»Ich lehne mich nicht – wie Sie es nennen – an die Toten.«
»Aber Sie waren nahe daran, es zu tun, wenn ich es zugegeben hätte«, brummte Jeremiah, »und das ist's, weshalb Sie über mich hergefallen sind. Sie können nicht vergessen, daß ich mich nicht darein fügte. Vermutlich sind Sie erstaunt, daß ich es der Mühe für wert gehalten habe, Arthurs Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hm? Es ist gleichgültig, ob Sie antworten oder nicht, weil ich weiß, daß Sie sich wundern und Sie es auch wissen, daß Sie sich wundern. Ich will Ihnen sagen, wie die Sache steht. Ich mag ein etwas seltsames Temperament haben, aber ich habe einmal dieses Temperament – ich kann die Leute nicht ganz nach ihrem Sinne handeln lassen. Sie sind eine Frau von entschiedenem Charakter und eine gescheite Frau; und wenn Sie sich etwas fest vorgenommen haben, wird Sie nichts davon abbringen. Wer weiß das besser, als ich?«
»Nichts wird mich davon abbringen, Flintwinch, wenn ich es vor mir