Der Stechlin. Theodor Fontane

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Der Stechlin - Theodor Fontane


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Sie das nicht so, Lorenzen. Es gibt Umgangsformen und Artigkeitsgesetze. Gewiß. Aber das alles reicht nicht weit. Was der Mensch am ehesten durchbricht, das sind gerade solche Formen. Und wer sie nicht durchbricht, der kann einem auch leid tun. Wie geht es denn in der Ehe? Haben Sie schon einen Mann gesehen, der die Formen wahrt, wenn seine Frau ihn ärgert? Ich nicht. Leidenschaft ist immer siegreich.«

      »Ja, Leidenschaft. Aber Woldemar und ich...«

      »Sind auch in Leidenschaft. Sie haben die Freundschaftsleidenschaft, Orest und Pylades - so was hat es immer gegeben. Und dann, was noch viel mehr sagen will, Sie haben nebenher die Konspirationsleidenschaft...«

      »Aber, Herr von Stechlin.«

      »Nein, nicht die Konspirationsleidenschaft, ich nehm' es zurück; aber Sie haben dafür was andres, nämlich die Weltverbesserungsleidenschaft. Und das ist eine der größten, die es gibt. Und wenn solche zwei Weltverbesserer zusammen sind, da können Rex und Czako warten, und da kann selbst ein warmes Frühstück warten. Sagt man noch Déjeuner à la fourchette?«

      »Kaum, Papa. Wie du weißt, es ist jetzt alles englisch.«

      »Natürlich. Die Franzosen sind abgesetzt. Und ist auch recht gut so, wiewohl unsre Vettern drüben erst recht nichts taugen. Selbst ist der Mann. Aber ich glaube, das Frühstück wartet.«

      Wirklich, es war so. Während die Herren zu zwei und zwei an der Buchsbaumwandung auf- und abschritten, hatte Engelke den Tisch arrangiert, an den jetzt Wirt und Gäste herantreten.

      Es war eine längliche Tafel, deren dem Rondell zugekehrte Längsseite man frei gelassen hatte, was allen einen Überblick über das hübsche Gartenbild gestattete. Dubslav, das Arrangement musternd, nickte Engelke zu, zum Zeichen, daß er's getroffen habe. Dann aber nahm er die Mittelschüssel und sagte, während er sie Rex reichte: »Toujours perdrix. Das heißt, es sind eigentlich Krammetsvögel, wie schon gestern abend. Aber wer weiß, wie Krammetsvögel auf französisch heißen? Ich wenigstens weiß es nicht. Und ich glaube, nicht einmal Tucheband wird uns helfen können.«

      Ein allgemeines verlegenes Schweigen bestätigte Dubslavs Vermutung über französische Vokabelkenntnis.

      »Wir kamen übrigens«, fuhr dieser fort, »dicht vor Globsow durch einen Dohnenstrich, überall hingen noch viele Krammetsvögel in den Schleifen, was mir auffiel und was ich doch, wie so vieles Gute, meinem alten Krippenstapel zuschreiben muß. Es wäre doch 'ne Kleinigkeit für die Jungens, den Dohnenstrich auszuplündern. Aber so was kommt nicht vor. Was meinen Sie, Lorenzen?«

      »Ich freue mich, daß es ist, wie es ist, und daß die Dohnenstriche nicht ausgeplündert werden. Aber ich glaube, Herr von Stechlin, Sie dürfen es Krippenstapel nicht anrechnen.«

      Dubslav lachte herzlich. »Da haben wir wieder die alte Geschichte. Jeder Schulmeister schulmeistert an seinem Pastor herum, und jeder Pastor pastort über seinen Schulmeister. Ewige Rivalität. Der natürliche Zug ist doch, daß die Jungens nehmen, was sie kriegen können. Der Mensch stiehlt wie'n Rabe. Und wenn er's mit einmal unterläßt, so muß das doch 'nen Grund haben.«

      »Den hat es auch, Herr von Stechlin. Bloß einen andern. Was sollen sie mit 'nem Krammetsvogel machen? Für uns ist es eine Delikatesse, für einen armen Menschen ist es gar nichts, knapp so viel wie 'n Sperling.«

      »Ach, Lorenzen, ich sehe schon, Sie liegen da wieder mit dem ›Patrimonium der Enterbten‹ im Anschlag; Sperling, das klingt ganz so. Aber so viel ist doch richtig, daß Krippenstapel die Jungens brillant in Ordnung hält; wie ging das heute Schlag auf Schlag, als ich den kurzgeschornen Schwarzkopp ins Examen nahm, und wie stramm waren die Jungens und wie manierlich, als wir sie nach 'ner Stunde in Globsow wiedersahen. Wie sie da so fidel spielten und doch voll Respekt in allem. ›Frei, aber nicht frech‹, das ist so mein Satz.«

      Woldemar und Lorenzen, die nicht mit dabei gewesen waren, waren neugierig, auf welchen Vorgang sich all dies Lob des Alten bezöge.

      »Was hat denn«, fragte Woldemar, »die Globsower Jungens mit einem Mal zu so guter Reputation gebracht?«

      »Oh, es war wirklich scharmant«, sagte Czako, »wir steckten noch unter den Waldbäumen, als wir auch schon Stimmen wie Kommandorufe hörten, und kaum daß wir auf einen freien, von Kastanien umstellten Platz hinausgetreten waren (eigentlich war es wohl schon ein großer Fabrikhof), so sahen wir uns wie mitten in einer Bataille.«

      Rex nickte zustimmend, während Czako fortfuhr: »Auf unserer Seite stand die bis dahin augenscheinlich siegreiche Partei, deren weiterer Angriff aber wegen der guten gegnerischen Deckung mit einem Male stoppte. Kaum zu verwundern. Denn eben diese Deckung bestand aus wohl tausend, ein großes Karree bildenden Glasballons, hinter die sich die geschlagene Truppe wie hinter eine Barrikade zurückgezogen hatte. Da standen sie nun und nahmen ein mit den massenhaft umherliegenden Kastanien geführtes Feuergefecht auf. Die meisten ihrer Schüsse gingen zu kurz und fielen klappernd wie Hagel auf die Ballons nieder. Ich hätte dem Spiel, ich weiß nicht wie lange, zusehn können. Als man unserer aber ansichtig wurde, stob alles unter Hurra und Mützenschwenken auseinander. Überall sind Photographen. Nur wo sie hingehören, da fehlen sie. Genauso wie bei der Polizei.«

      Dubslav hatte schmunzelnd der Schilderung zugehört. »Hören Sie, Hauptmann, Sie verstehn es aber; Sie können mit 'nem Dukaten den Großen Kurfürsten vergolden.«

      »Ja«, sagte Rex, seinen Partner plötzlich im Stiche lassend, »das tut unser Freund Czako nicht anders; dreiviertel ist immer Dichtung.«

      »Ich gebe mich auch nicht für einen Historiker aus und am wenigsten für einen korrekten Aktenmenschen.«

      »Und dabei, lieber Czako«, nahm jetzt Dubslav das Wort, »dabei bleiben Sie nur. Auf Ihr Spezielles! In so wichtiger Sache müssen Sie mir aber in meiner Lieblingssorte Bescheid tun, nicht in Rotwein, den mein berühmter Miteinsiedler das ›natürliche Getränk des norddeutschen Menschen‹ genannt hatte. Einer seiner mannigfachen Irrtümer; vielleicht der größte. Das natürliche Getränk des norddeutschen Menschen ist am Rhein und Main zu finden. Und am vorzüglichsten da, wo sich, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, beide vermählen. Ungefähr von dieser Vermählungsstelle kommt auch der hier.« Und dabei wies er auf eine vor ihm stehende Bocksbeutelflasche. »Sehen Sie, meine Herren, verhaßt sind mir alle langen Hälse; das hier aber, das nenn' ich eine gefällige Form. Heißt es nicht irgendwo: ›Laßt mich dicke Leute sehn‹, oder so ähnlich. Da stimm' ich zu; dicke Flaschen, die sind mein Fall.« Und dabei stieß er wiederholt mit Czako an. »Noch einmal, auf Ihr Wohl. Und auf Ihres, Herr von Rex. Und dann auf das Wohl meiner Globsower, oder wenigstens meiner Globsower Jungens, die sich nicht bloß um Fehrbellin kümmern und um Leipzig, sondern, wie wir gesehen haben, auch selber ihre Schlachten schlagen. Ich ärgere mich nur immer, wenn ich diese riesigen Ballons da zwischen meinen Globsowern sehe. Und hinter dem ersten Fabrikhof (ich wollte Sie nur nicht weiter damit behelligen), da ist noch ein zweiter Hof, der sieht noch schlimmer aus. Da stehen nämlich wahre Glasungeheuer, auch Ballons, aber mit langem Hals dran, und die heißen dann Retorten.«

      »Aber Papa«, sagte Woldemar, »daß du dich über die paar Retorten und Ballons nie beruhigen kannst. Solang ich nur denken kann, eiferst du dagegen. Es ist doch ein wahres Glück, daß so viel davon in die Weit geht und den armen Fabrikleuten einen guten Lohn sichert. So was wie Streik kommt hier ja gar nicht vor, und in diesem Punkt ist unsre Stechliner Gegend doch wirklich noch wie ein Paradies.«

      Lorenzen lachte.

      »Ja, Lorenzen, Sie lachen«, warf Dubslav hier ein. »Aber bei Lichte besehen hat Woldemar doch recht, was (und Sie wissen auch warum) eigentlich nicht oft vorkommt. Es ist genauso, wie er sagt. Natürlich bleibt uns Eva und die Schlange; das ist uralte Erbschaft. Aber so viel noch von guter alter Zeit in dieser Welt zu finden ist, so viel findet sich hier, hier in unsrer lieben alten Grafschaft. Und in dies Bild richtiger Gliederung, oder meinetwegen auch richtiger Unterordnung (denn ich erschrecke vor solchem Worte nicht), in dieses Bild des Friedens paßt mir diese ganze Globsower Retortenbläserei nicht hinein. Und wenn ich nicht fürchten müßte, für einen Querkopf gehalten zu werden, so hätt' ich bei hoher Behörde schon lange meine Vorschläge wegen dieser Retorten und Ballons eingereicht.


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