Das Tal des Grauens. Arthur Conan Doyle

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Das Tal des Grauens - Arthur Conan Doyle


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der Brief, den er uns vorlas, »der offizielle Antrag auf Ihren Einsatz befindet sich im separaten Umschlag. Das hier ist für Sie persönlich. Geben Sie mir telegraphisch Nachricht, welchen Zug nach Birlstone Sie heute vormittag nehmen können; ich hole Sie dann ab – oder lasse Sie abholen, falls ich zu beschäftigt sein sollte. Der Fall ist ein Knaller. Verlieren Sie keinen Augenblick, und machen Sie sich auf den Weg. Wenn Sie können, bringen Sie bitte Mr. Holmes mit, er wird hier nämlich was finden, das ganz nach seinem Geschmack ist. Man könnte meinen, das Ganze sei eine effektvoll gestellte Szene fürs Theater, wenn es da nicht mittendrin einen Toten gäbe. Ich sag's Ihnen, wirklich ein Knaller!«

      »Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein«, bemerkte Holmes.

      »Nein, Sir; White Mason ist sehr auf Draht, wenn ich nicht ganz danebenliege.«

      »Schön, haben Sie noch etwas?«

      »Nur, daß er uns alle Einzelheiten am Treffpunkt mitteilen wird.«

      »Wie haben Sie dann von Mr. Douglas erfahren und der Tatsache, daß er auf schreckliche Weise ermordet worden ist?«

      »Das steht im beigefügten offiziellen Bericht. Natürlich ohne den Zusatz ›auf schreckliche Weise‹. Das ist kein amtlich gültiger Ausdruck. Der Bericht gibt den Namen John Douglas an. Er meldet, daß sein Schädel Verletzungen aufweist, die vom Schuß einer Schrotflinte stammen. Ferner gibt er den Zeitpunkt an, zu dem Alarm geschlagen wurde: kurz vor Mitternacht. Und er fügt noch hinzu, daß es sich zweifellos um einen Mordfall handelt, daß aber bisher noch keine Festnahme erfolgt ist und daß dieser Fall einige sehr verwirrende und außergewöhnliche Merkmale aufweist. Das ist absolut alles, was wir momentan haben, Mr. Holmes.«

      »Dann wollen wir es, mit Ihrer Erlaubnis, dabei belassen, Mr. Mac. Die Versuchung, aufgrund unzulänglicher Daten vorschnelle Theorien aufzustellen, ist der Fluch unseres Berufes. Vorläufig sehe ich nur zweierlei mit Gewißheit: ein großes Gehirn in London und einen toten Mann in Sussex. Die Verbindung dazwischen, die werden wir aufspüren.«

      Und nun bitte ich um die Erlaubnis, meine unbedeutende Person einen Augenblick lang auszuklammern und die Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft am Schauplatz abgespielt haben, im Licht unserer späteren Erkenntnisse zu schildern. Denn nur so kann ich dem Leser zu einer richtigen Vorstellung von den beteiligten Personen sowie der bizarren Kulisse, vor der ihr Schicksal seinen Lauf nahm, verhelfen.

      Das Dorf Birlstone besteht aus einer kleinen Gruppe sehr alter Fachwerkhäuser an der Nordgrenze der Grafschaft Sussex. Jahrhundertelang war es unverändert geblieben, aber während der letzten paar Jahre haben sein pittoreskes Erscheinungsbild und seine Lage eine Anzahl wohlhabender Leute angelockt, die sich hier niederließen und deren Villen aus den umliegenden Wäldern hervorlugen. Geographisch darf man diese Wälder noch zum äußersten Zipfel des großen Weald-Forstes13 zählen, der sich gegen die Kreidehügel der North Downs14 hin immer mehr lichtet. Mehrere kleine Läden wurden eröffnet, um den Bedürfnissen der angewachsenen Bevölkerung entgegenzukommen, so daß Birlstone offenbar einige Aussicht hat, sich schnell von einem alten Dorf zu einer modernen Stadt zu entwickeln. Es bildet das Zentrum eines ansehnlichen Gebiets in diesem Landstrich, da die nächstgelegene Ortschaft von Bedeutung, Tunbridge Wells, zehn bis zwölf Meilen weiter im Osten und bereits jenseits der Grenze von Kent liegt.

      Ungefähr eine halbe Meile vom Ort entfernt steht in einem alten Park, der für seine riesigen Buchen berühmt ist, das bejahrte Birlstone Manor House. Ein Teil dieses ehrwürdigen Gebäudes stammt noch aus der Zeit des ersten Kreuzzuges15, als Hugo de Capus16 im Zentrum des Landgutes, das ihm König Wilhelm der Rote übertragen hatte, eine kleine Feste errichtete. Diese wurde im Jahre 1543 durch Feuer zerstört, und als dann später, zur Zeit König James' des Ersten17, auf den Ruinen des feudalen Schlosses ein Landhaus aus Ziegelsteinen errichtet wurde, verwendete man einige der rauchgeschwärzten Eckpfeiler mit. Das Manor House mit seinen vielen Giebeln und den Butzenscheiben18 sah fast noch genau so aus, wie es sein Erbauer im frühen siebzehnten Jahrhundert zurückgelassen hatte. Den äußeren der beiden Gräben, die das weiland wehrhafte Gebäude geschützt, hatte man austrocknen lassen; er erfüllte nun die bescheidene Funktion eines Gemüsegartens. Den inneren gab es noch; er zog sich in einer Breite von vierzig Fuß – inzwischen allerdings nur noch wenige Fuß tief – rund um das ganze Haus. Ein kleiner Bach speiste ihn und floß jenseits des Grabens weiter, so daß der Wasserstreifen zwar trüb, aber keineswegs faulig oder ungesund war. Die Fenster des Erdgeschosses lagen einen Fuß über der Wasseroberfläche. Der einzige Zugang zum Haus führte über eine Zugbrücke, deren Winde und Ketten lange Zeit vor sich hin gerostet hatten und zerbrochen waren. Die neuen Besitzer des Manor House hatten jedoch diese Mängel mit charakteristischer Energie behoben, und die Zugbrücke ließ sich nicht nur wieder hochziehen, sondern wurde tatsächlich jeden Abend hochgezogen und jeden Morgen gesenkt. Diese Erneuerung eines Brauches aus alten, feudalen Tagen verwandelte das Manor House nachtsüber in eine Insel – ein Umstand, der von großer Bedeutung war für jenes Rätsel, welches binnen kurzem die Aufmerksamkeit von ganz England auf sich ziehen sollte.

      Das Haus hatte einige Jahre leergestanden und zu einer pittoresken Ruine zu zerfallen gedroht, bevor die Familie Douglas es in Besitz nahm. Diese bestand lediglich aus zwei Personen: John Douglas und seiner Frau. John Douglas war ein bemerkenswerter Mann, sowohl dem Charakter wie seiner Erscheinung nach; er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen und hatte ein verwittertes Gesicht mit stark ausgeprägten Kieferknochen, einem angegrauten Schnurrbart und eigenartig stechenden grauen Augen; seine drahtige, kraftvolle Figur hatte nichts von der Festigkeit und Aktivität ihrer Jugend eingebüßt. Er war fröhlich und freundlich gegen jedermann, aber in seinem Auftreten lag etwas Saloppes, das den Eindruck vermittelte, er habe das Leben in gesellschaftlichen Schichten kennengelernt, die wohl einiges unter dem Niveau der Gutsherren der Grafschaft Sussex lagen. Wurde er von seinen kultivierteren Nachbarn mit einer gewissen Neugier und Reserve betrachtet, erwarb er sich dafür bei den Dörflern alsbald große Beliebtheit, da er alle Unternehmungen im Ort großzügig unterstützte und auch zu Hauskonzerten und sonstigen Festivitäten erschien, wo er mit seinem bemerkenswert volltönenden Tenor jederzeit gern ein Lied zum besten gab. Er schien eine Menge Geld zu haben, das er dem Vernehmen nach auf den kalifornischen Goldfeldern gemacht hatte, und aus seinen Erzählungen und denen seiner Frau wurde klar, daß er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte. Der gute Eindruck, den seine Freigebigkeit und sein demokratisches Auftreten hervorriefen, wurde noch dadurch verstärkt, daß er im Rufstand, Gefahren gegenüber vollkommen gleichgültig zu sein. Obwohl er ein miserabler Reiter war, fand er sich nämlich zu jedem Jagdtreffen ein und nahm in seiner Entschlossenheit, es den Besten gleichzutun, die erstaunlichsten Stürze in Kauf Auch als einmal das Pfarrhaus brannte, zeichnete er sich durch seine Furchtlosigkeit aus; denn er drang wiederholt in das Gebäude ein, um Hab und Gut zu bergen, nachdem die örtliche Feuerwehr es als unmöglich aufgegeben hatte. So kam es, daß sich John Douglas vom Manor House innerhalb von fünf Jahren einen beachtlichen Ruf in Birlstone erworben hatte.

      Auch seine Frau war beliebt bei denen, die ihre Bekanntschaft gemacht hatten; englischer Sitte entsprechend kamen jedoch zu Fremden, die sich ohne gesellschaftliche Einführung in der Grafschaft niederließen, nur wenige Besucher – und auch die nur in großen Abständen. Dies machte ihr aber nicht viel aus, da sie von Natur aus zurückgezogen und durch ihren Gatten und häusliche Pflichten allem Anschein nach vollkommen in Anspruch genommen war. Man wußte, daß sie Engländerin war und den damals noch verwitweten Mr. Douglas in London kennengelernt hatte. Sie war eine schöne Frau, hochgewachsen, dunkelhaarig, schlank und gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann; ein Altersunterschied, der die Harmonie ihres Zusammenlebens anscheinend in keiner Weise beeinträchtigte. Die sie am besten kannten, bemerkten jedoch manchmal, daß das Vertrauen zwischen den beiden nicht vollkommen zu sein schien, denn in Hinsicht auf die Vergangenheit ihres Gatten war die Frau entweder sehr zurückhaltend oder aber, was wahrscheinlicher war, sehr mangelhaft unterrichtet. Auch hatten ein paar Aufmerksame beobachtet und kritisch vermerkt, daß es bei Mrs. Douglas zuzeiten Zeichen einer gewissen nervlichen Anspannung gab und daß sie heftiges Unbehagen erkennen ließ, wenn ihr Gatte einmal besonders lange wegblieb. In einer ruhigen ländlichen Gegend, wo jeder Klatsch


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