Der Geruch von Heu. Giorgio Bassani

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Der Geruch von Heu - Giorgio  Bassani


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er seit langem litt; folglich konnte hier nun einmal vom Krebs überhaupt nicht die Rede sein …), was also den Krebs anging, so sollte er ruhig kommen, wann es ihm paßte, wenn er denn durchaus kommen wollte! Nur zu! Bitte es sich bequem zu machen! Er für seinen Teil hatte sich schon lange vorgenommen, auch unter diesen Umständen sich so zu verhalten, wie es seine Mutter getan hätte, die immer fröhlich war, die Arme, und stets so einfach und natürlich. Durfte denn der Krebs zu einem täglichen Problem werden, zum beherrschenden Gedanken, den man Jahre hindurch in seinem Herzen zwischen Angst und Freude hegte und hätschelte? Einfach widerlich! Diese Macht würde er dem Krebs niemals einräumen. Nie und nimmer.

      Der Sarg ruhte jetzt auf dem ausgeschachteten Grund. Die Träger hatten die Seile herausgezogen, und der Rabbiner Dr. Castelfranco sprach bereits mit nasal psalmodierender Stimme die Totengebete.

      Und da erklang plötzlich ganz nahe das Spiel einer Ziehharmonika.

      Bruno sah nach oben.

      Aber wegen der Mauer, die den Friedhof von der Bastion trennte, vermochte er den Spieler der Ziehharmonika nicht zu entdecken. Er sah da oben nur einen Soldaten vor einem Schilderhaus – ein Posten, natürlich, der das Munitionsdepot bewachte –, der den Kopf vorstreckte – man sah sein schweißbedecktes Gesicht – und zum Takt der Musik bewegte.

       Amore amor

       portami tante rose …

      Es war eine Frauenstimme, die diese Worte sang: ›Liebling, schenk mir Rosen …‹ »Ruhe!« gebot jemand. Es folgten weitere Protestrufe. Beschimpfungen und Verwünschungen wurden laut, mit geballter Faust hervorgebracht. Hinter den großen Bäumen des Stadtwalls, hinter den glänzenden dichten Laubmassen, ahnte man eine freiere Luft, eine Brise wie vom Meer.

      In immer rascherem Rhythmus wurde nun die Erde auf den Sarg geschaufelt.

      Bruno wandte den Blick ab.

      Würde er wohl nach dem Abendessen, wenn er mit dem Rad dort oben über den Stadtwall fuhr, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, die im Gras liegenden Liebespärchen mit dem Scheinwerfer aufzuspüren, und seiner Furcht vor dem Blick auf die darunterliegende schwarze Fläche des Friedhofs (schon als kleines Kind hatte er sich vor Irrlichtern gefürchtet), würde er also dann noch den jungen Soldaten vor seinem Schilderhaus finden? Wer weiß. Jedenfalls was er jetzt empfand, war nur Bitterkeit und Ekel.

      Dabei wußte er es ganz genau. Seine Ungeduld und die fast irrsinnige Erregung, die ihn jetzt, als er an den Posten am Pulverturm dachte, quälten (vielleicht würden sie beide, nachdem sie Freundschaft geschlossen hatten, zusammen ins Kino gehen und, wer weiß, später noch ins Bordell, obwohl er noch nicht achtzehn Jahre alt war …), das alles war keine unmittelbare Reaktion auf die lästige Pflicht, der er sich heute hier zu unterziehen hatte. Die Ursache lag weiter zurück, sehr weit, an einem Punkt der Vergangenheit, der sich in einer gleichsam grenzenlosen Ferne verlor.

      Bei dem Begräbnis seines Großvaters Benedetto im August 1924 hatten die Totengräber, bevor sie den Sarg hinabließen, den Deckel abgeschraubt. Darauf wurde, nach ältestem jüdischem Brauch, über den in ein besticktes Laken gehüllten Leichnam ungelöschter Kalk gestreut. Das war auf ausdrücklichen Wunsch seines Großvaters geschehen. Er hatte kaum seinen letzten Atemzug getan, als schon jemand sich beeilte, sein Testament zu öffnen. Und dieses Testament sprach eine klare Sprache. Der ungelöschte Kalk war erst auf dem Friedhof, vor dem offenen Grab, in den Sarg zu schütten. Vorher, das heißt zu Hause, nicht! O weh!

      Er war damals neun Jahre alt gewesen. Es war das erstemal, daß man ihn auf den Friedhof mitgenommen hatte, und er erinnerte sich genau, wie mit den ersten abendlichen Schatten dichte Mückenschwärme gekommen waren und über dem Rasen spielten. Und diese Mücken hatten für ihn, zumal wenn er ein Auge mit der Hand zuhielt, eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Jagdflugzeugen gehabt, die er an einem Augustabend vor mehreren Jahren gesehen hatte. Geräuschlos waren sie den Himmel entlanggezogen und hatten zur Landung angesetzt, und es war ein unendlich weiter Himmel gewesen, der sich vor dem Fenster des Wohn- und Speisezimmers öffnete, in dem sein Großvater Benedetto, zum zweitenmal verwitwet, allein bei seinem Abendessen saß. Es war noch Krieg. Sein Vater stand an der Front. Und seine Mutter? Wo war seine Mutter gewesen? Irgendwer, vielleicht Tante Edvige, die nach dem Tode seiner Großmutter Esterina den Haushalt führte, hatte ihm gesagt, daß seine Mutter nach Feltre gefahren war, wo sie mit seinem Vater einen kurzen Urlaub verlebte. Aber Feltre? Wo war das, Feltre? Und vor allem: was war es? Und was war die Etappe, von der Tante Edvige gesprochen hatte? Langsam waren die Flugzeuge, nacheinander und ohne ein Geräusch zu verursachen, vor dem milchfarbenen Abendhimmel gelandet. Sie schienen zum Greifen nahe zu sein. Man brauchte nur die Hand aus einem der beiden Fenster zu strecken, um sie zu berühren. Nur daß leider der Großvater hinter ihm saß, bei seiner einsamen Mahlzeit, bei der er übrigens, die Brille in die Stirn geschoben, seine Zeitung las, die er an die Wasserkaraffe gelehnt hatte. Wenn der Großvater, der stets alles merkte und auch die geheimsten Gedanken erriet, jetzt Brunos Wunsch erkannt hätte, dann würde er ihn nicht etwa gescholten haben, bewahre! Er hätte sich nur darauf beschränkt (was freilich viel schlimmer gewesen wäre!), ihn fest anzusehen mit seinen strengen, stechenden Augen von blauem Schmelz …

      An dem Augustnachmittag des Jahres 1924, an dem Großvater Benedetto begraben wurde, war der Rasen frisch geschnitten – genau wie heute. Man bekam Lust, darüber zu laufen. Und tatsächlich hatte er sich auf einmal von der Hand seiner Mutter losgerissen, die mit den anderen am Grab des Großvaters stand – es war noch lange nicht zugeschüttet –, und hatte begonnen, für sich zu spielen und den Mückenschwärmen nachzulaufen. So hatte er sich immer weiter entfernt.

      Aber plötzlich war er der Länge nach hingefallen, mit dem Gesicht nach vorn. Noch im Fallen wußte er, daß er sich die Haut am Knie abgeschürft hatte. Und doch hatte er in dem Augenblick auf sein Knie gar nicht geachtet. Er hatte um sich geschaut. Wie einsam es auf einmal um ihn geworden war! Obwohl ihm das Bein weh tat, sehr weh, kümmerte sich niemand um ihn, nicht einmal seine Mutter. Langsam trockneten die Tränen auf seinem Gesicht.

      »Was hast du angestellt, Bruno?« fragte seine Mutter außer Atem, als sie ihn eingeholt hatte. »Kannst du nicht einen Augenblick still stehen? Weißt du nicht, daß dein Großvater Benedetto gestorben ist?«

      Es dauerte ein Weilchen, bis er eine Antwort bereit hatte. Aber schließlich war ihm ein Satz eingefallen, den er am selben Tag bei Tisch von seinem Vater gehört hatte, und nun wiederholte er, so, als wüßte er es nicht, Wort für Wort diesen Satz.

      »Nur den Toten geht es gut«, hatte er gesagt und dabei genau wie sein Vater geseufzt; und zugleich hob er die Lider, um seine Mutter zu beobachten; verstohlen blickte er zu ihr auf.

      Lange und ernsthaft hatte sie ihn mit ihren schönen braunen Augen betrachtet – Augen mit tiefen Rändern nach den vielen durchwachten Nächten am Bett ihres Schwiegervaters in den letzten Monaten seiner Krankheit und dennoch lebendiger und leuchtender denn je – und ihm schließlich ihre Hand auf den Mund gelegt. Dann bückte sie sich und verband ihm das Knie mit einem Taschentuch.

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